Ein Mann mit einem übergroßen Diskoei

Vielfalt oder hinter den Fassaden die ewig alte Gleichheit?

Eröffnen sich im digitalen Zeitalter unzählige Möglichkeiten für individuellen Ausdruck und kreative Selbstinszenierung?

Eine  Begegnung im Münchener Hofgarten inspirierte mich zu diesem Beitrag: Es war ein sonniger Tag, als meine Aufmerksamkeit auf einen Mann mit einem außergewöhnlichen Objekt gelenkt wurde – ein riesiges, selbstgebautes Ei, das er durch die Gartenanlagen schob. Die skurrile Erscheinung weckte meine Neugierde und trieb mich dazu, den Mann anzusprechen. Er stellte sich mir als „Eggman“ vor und erklärte, dass sein Ei ein Symbol für Fruchtbarkeit sei. In seinem auffälligen fliederfarbenen Anzug unterstrich er seine Erklärungen mit kreisenden Hüftbewegungen. Die Szene war gleichzeitig amüsant und verwirrend, und ich konnte nicht umhin, Zweifel zu hegen, ob „Eggman“, wie er sich selbst nennt, bei Frauen Anklang finden würde. Als ich ihn um ein Foto bat, reagierte er sofort und willigte ein.

„Eggman“ erweckt den Anschein, als könne sich das Individuum heute in einer nie dagewesenen Weise ausdrücken? Oder ist das alles nur eine bunte Fassade oberflächlichen Vielfalt, hinter der eine ewige Einheit von Meinungen und Normen weiterhin gilt? 

Unsere digitalisierte Welt bietet uns unzählige Plattformen und Kanäle, um unsere Stimmen zu erheben und unsere Persönlichkeiten zu formen, wie es scheint. In einer Welt, in der digital so viel Ungewöhnliches zu sehen ist, wird auch das Anderssein in der analogen Welt eine Frage der Gewohnheit.

Doch inwieweit haben wir tatsächlich die Freiheit, unsere wahre Identität zu entfalten? Sind die Möglichkeiten unserer Entfaltung wirklich ebenso komplex, wie unsere Welt geworden? 

Die Entdeckung des individuellen Ichs führt uns nicht nur zurück in der Zeit in die Renaissance, sondern auch zu der Erkenntnis, wie unendlich klein wir angesichts des Universums sind und wie begrenzt unser Einfluss sein muss. 

In der Renaissance, in der Kunst und Wissenschaft noch eine Einheit bildeten, entdeckten die Menschen den Selbstausdruck und ihren kreatives Potential. Damals entstand ein Mosaik aus Selbstreflexion und Genialität, das unseren Horizont zweifelsohne erweiterte. 

In der folgenden als Aufklärung bekannten Zeit, wurde die Vorherrschaft menschlicher Mythen durch die Wissenschaft beendet, welche selbst fortan als einzige unantastbare Wahrheit galt. Das vernunftbetonte Individuum wurde geboren, sowie  die Individualrechte 

Die Entdeckung des Individuums und deren nicht-Einzigartigkeit

Wenngleich die Wissenschaft bis heute nicht in der Lage ist alles, was uns umgibt zu erklären, gilt sie dennoch weiterhin als einzig gültige und vernünftige Wahrheit. 

Die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben sich bereits 1944 in ihrem kulturkritischen Werk „die Dialektik der Aufklärung“ damit auseinandergesetzt, dass die ursprüngliche Befreiung durch Vernunft und Wissenschaft paradoxerweise selbst zu einem Instrument der Unterdrückung wurde. Rationale Erkenntnis und wissenschaftlicher Fortschritt wurden nach Ansicht dieser Philosophen selbst zu einem Mittel der Dominanz und Entfremdung, in dem die Vernunft instrumentalisiert wurde, um die Vielfalt der Natur zu kontrollieren: Ja, letztlich die Vielfalt der menschlichen Natur zu dominieren. Sie argumentieren in ihrem Werk, dass die dem Ratio folgende Kulturindustrie, einem Massenbetrug gleiche und in der Folge alle Menschen zu passiven Konsumenten einheitlicher Produkte und Lebensstile machte. Gilt das heute noch, im Zeitalter der bunte digitalen Vielfalt noch?

Unsere digitale Welt bietet uns heute immense Möglichkeiten, unsere Einzigartigkeit zu präsentieren und uns mit Gleichgesinnten aus aller Welt zu vernetzen. 

Doch während einige die digitalen Kanäle nutzen, um ihre Kreativität auszuleben, fühlen sich andere möglicherweise unter Druck gesetzt, den vermeintlichen gesellschaftlichen Idealen einer digitalen Welt zu entsprechen und ihre Authentizität erneut zu opfern.

Künstliche Intelligenz als Katalysator für eine Neo-Renaissance der menschlichen Vielfalt?

In unserer neuen digitalen Welt, in der KI vermehrt monotone und repetitive Aufgaben übernimmt, liegt die Betonung und menschliche Resonanz auf der kreativen Schaffenskraft des menschlichen Geistes. Die zunehmende Befreiung von zeitraubenden, mechanischen Tätigkeiten eröffnet den Menschen mehr und mehr die Möglichkeit, ihre einzigartigen Fähigkeiten und Talente zu entfalten und sich verstärkt auf die kreativen Aspekte ihres Lebens und Arbeitens zu konzentrieren. 

Die menschliche Vorstellungskraft und Einfallsreichtum werden zu wertvollen Ressourcen, um innovative Lösungen für komplexe Herausforderungen zu finden und Werke von unvergleichlicher Schönheit zu schaffen. 

Liegt die Betonung heute wahrhaftig auf der menschlichen Einzigartigkeit?

Ohne Zweifel hat die Digitalisierung den Menschen eine immense Reichweite und eine Vielzahl von Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet. Durch das Internet und soziale Medien können sie ihre Gedanken, Ideen und künstlerischen Werke einem globalen Publikum präsentieren. Eröffnet sich dadurch eine neue Ära der kulturellen Vielfalt, in der verschiedene kreative Strömungen aus aller Welt miteinander verschmelzen und inspirieren?  

Die Ära der Digitalisierung scheint die Menschen in einen zwiespältigen Dialog zu verstricken

Einerseits ermöglichen die zahlreichen Kanäle eine beispiellose Reichweite und einen inspirierenden Austausch von Ideen und Kulturen. Andererseits aber neigen wir Menschen dazu, uns noch mehr und weitreichender miteinander zu vergleichen, um unser Streben nach Anpassung und Gleichheit zu befriedigen und verstärken letztendlich vereinheitlichende Normen und Standards. 

Es scheint mitunter, als würde ein permanenter sozialer Vergleich zu einem Druck führen, der Individualität und Authentizität mehr denn je gefährde könnte. 

Während einige die digitalen Kanäle nutzen, um ihre Kreativität auszuleben, fühlen sich andere unter Druck gesetzt, den vermeintlichen gesellschaftlichen Idealen einer digitaler Welt gerecht zu werden. Ihre Authentizität könnte zur bloßen Fassade werden, welche lediglich eine weitere gesellschaftliche Entmündigung des Individuums zur Folge hat, da es noch viel tiefer in das private Leben hineinzureichen vermag. 

Für mich liegt die inspirierende Utopie darin, dass wir alle einzigartig sind und als kollektive Kraft immer noch Großes erreichen könnten. 

Sollten wir es schaffen, die Möglichkeit, uns zu verbinden und auszutauschen zu einem tieferen Bewusstsein werde zu lassen und unsere Verbindung zur Welt stärken, statt ein neues Zeitalter einer oberflächlichen digitalen Konsumgesellschaft einzuläuten. 

Auch wenn ich einem Eggman mit einem Ei der Fruchtbarkeit persönlich nicht folgen kann, machte mir diese Begegnungen dennoch Hoffnung auf eine Welt, in der jeder versucht sein Ding zu machen und nicht  in einer digitalen Masse unterzogen. Ich hoffe, darauf, dass wir unsere Talente und Ideen einsetzen werden, um eine bunte und nachhaltige Welt zu erschaffen und nicht, um weiter wie alle anderen zu konsumieren und zu sein. 

Denn nur in einer Gesellschaft, die die bunte Palette der individuellen Einzigartigkeit,  und auch die nicht immer vernünftigen Mythen schätzt, können wir wirklich unser volles Potenzial entfalten und eine lebendige, inspirierende Zukunft gestalten.

Foto und Text von Susanne Gold, Juli 2023

Diskutiere mit mir auch auf LinkedIn 

Kommentar verfassen