Ein Roman von Mira Steffan
Emma strahlte. Denn Charlotte und Justus und Karl sangen mit vereinten Kräften das Lied von Rolf Zuckowski: „Wie schön, dass du geboren bist…“. Es war Emmas 13. Geburtstag, und ihre Eltern und ihr Opa hatten sie mit dem Lied, wie bisher an jeden Geburtstag, geweckt. Im Schlafanzug und mit Pantoffeln war Emma geschwind die Treppe hinuntergelaufen und weiter ins Esszimmer. Da standen sie und sangen falsch und laut und mit fröhlichen Gesichtern, und auf dem Tisch standen große und kleine Päckchen, 13 Kerzen, Kakao, Kaffee und Brötchen. Emma klatschte begeistert in die Hände. Nach dem letzten schiefen Ton, stürzten sich die drei auf Emma, gratulierten ihr und küssten sie, bis Emma sich lachend befreite.
„Erst die Kerzen auspusten. Dann darfst du die Geschenke auf machen“, sagte Charlotte.
Gerührt beobachtete Charlotte Emma, die jedes Geschenk mit einem begeisterten Ausruf begleitete. Die letzten Jahre waren wie im Flug vergangen. Ihr kleines Mädchen war jetzt ein Teenager. Wie traurig, dass ihre Mutter das nicht mehr miterlebte.
„Ich freue mich schon so auf das Bowling heute Nachmittag. Es ist mega, dass Liam und Marie auch mitkommen“, sagte Emma, die mächtig stolz darauf war, dass ihre so viel älteren Cousine und Cousin mitfeiern wollten.
Charlotte schüttelte ihren Trübsinn ab und lächelte Emma an: „Ja, das wird ein großer Spaß.“ Von Emmas Schulfreundinnen hatte zehn zugesagt, hinzu kamen die Zwillinge. Hoffentlich ging das gut mit Liam als einziger männlicher Vertreter. Die Aussicht auf verknallte 13-Jährige machte Charlotte etwas nervös. Deswegen war sie froh, dass Pauline sie unterstützte.
Sie gackerten und schnatterten, kreischten und hüpften und waren schwieriger zu hüten, als eine Horde Kapuzineraffen. Dabei ging es nur darum, Leihschuhe auszusuchen.
„Waren wir auch mal so?“ fragte Charlotte ihre Schwester.
Pauline grinste vor sich hin: „Sicher. Aber du warst schlimmer als ich.“
„Nee, klar“, Charlotte beugte ihren rechten Arm über ihren Kopf und tippte an ihre linke Schläfe, und beide brachen in Lachen aus.
„Kannst du dich noch an Christian erinnern, meinen großen Schwarm?“
Charlotte nickte nachdrücklich: „Der war niedlich. Was wohl aus dem geworden ist?“
Pauline zuckte mit den Schultern: „Er hat Jura studiert, promoviert und leitet inzwischen ein großes Unternehmen“, als sie Charlottes fragenden Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu, „ich habe ihn gegoogelt.“
„Warum? Muss ich mir Sorgen machen?“
„Quatsch. Ich habe mich gelangweilt. Dann mache ich das hin und wieder. Mich google ich auch, um zu kontrollieren, was es an Infos über mich im Netz gibt. Kann ich dir nur empfehlen.“
Doch Charlotte ließ sich nicht ablenken: „Hast du ein Foto von ihm gefunden?“ Pauline nickte.
„Und?“
„Ich hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt. Er hat mindestens 20 Kilogramm zugelegt, einen Bauch, der über dem Gürtel seiner Hose hängt, trägt eine Brille, hat graue, lichte Haare. Erkannt habe ich ihn nur an seiner Mundpartie. Ansonsten ist von dem attraktiven jungen Mann mit der dichten braunen Mähne nicht viel übrig geblieben.“
„Haben wir uns auch so stark verändert?“, fragte Charlotte nachdenklich.
Pauline schüttelte energisch den Kopf: „Wir haben höchstens fünf Kilo mehr als früher und keine grauen, schütteren Haare.“
Charlotte lachte, hob ihre Hand und schlug ihre gegen Paulines: „Da bin ich ja beruhigt.“
„Mama, wir sind fertig mit den Schuhen. Wir können loslegen.“ Charlotte winkte weit ausholend mit dem Arm: „Dann folgt mir.“
Beim Bowlen giggelten und kicherten Emma und ihre Freundinnen weiter, schlichen um Liam herum, versuchten seine Aufmerksamkeit zu erhaschen, während die Zwillinge einen betont lässigen Gesichtsausdruck zur Schau trugen und nicht reagierten.
Pauline deutete auf die Gruppe: „Möchtest du noch mal so alt sein?“
„Auf keinen Fall. Das ist viel zu anstrengend. Komm, wir holen die Getränke. Ich glaube, dass wir sie für ein paar Minuten alleine lassen können.“
Als sie mit den beladenen Tabletts zurück kamen, herrschte große Aufregung. Emmas beste Freundin Eva hatte Jule, der anderen besten Freundin, eine Bowlingkugel auf den Fuß fallen lassen, und Jule beschimpfte sie kreischend: „Was hast du getan. Du blöde Ziege. Ich mach dich fertig“, dabei drängte sie Eva gegen die Sofalandschaft, so dass sie auf einen Sitz plumpste.
Charlotte erhob ihre Stimme: „Stop! Sofort aufhören. Was ist hier los?“
„Sie“, sagte Jule immer noch aufgebracht und stieß ihren Zeigefinger auf Evas Brust, „hat absichtlich die Kugel auf meinen Fuß fallen lassen.“
„Das stimmt nicht. Sie ist mir aus der Hand gerutscht. Ich habe ja noch nie gebowlt“, sagte Eva kleinlaut.
„Da kann aber nichts Schlimmes passiert sein, so wie sie sich aufregt und rumhüpft“, flüsterte Pauline in Charlottes Ohr.
Charlotte ging zu den Bowlingkugeln und hob eine davon an: „Mhm, die sind groß. Ich glaube Eva.“ Dann wandte sie sich an Jule: „Wie geht es deinem Fuß. Tut er weh? Zieh bitte mal deinen Schuh aus und beweg ihn.“
Sie folgte Charlottes Aufforderung, und Charlotte und Pauline schauten sich den Fuß genau an. Sie baten Jule, mit den Zehen zu wackeln. Dann tastete Charlotte den Fuß ab: „Nichts gebrochen. Keine blauen Flecken. Es ist noch mal gut gegangen“, sagte sie und atmete insgeheim erleichtert auf.
Pauline wandte sich Eva zu: „Eva, entschuldige dich bitte bei Jule. Dann wollen wir endlich mit dem Spiel beginnen.“
Widerwillig folgte Eva der Aufforderung. Anschließend begann das Bowling.
Charlotte stupste Pauline mit dem Ellenbogen sanft in die Taille und flüsterte: „Gut gemacht, Frau Lehrerin. Vielen Dank.“
Pauline tätschelte lächelnd Charlottes Oberarm: „Immer wieder gerne.“
Zwar versprühte Jule am Anfang noch giftige Blicke, doch insgesamt verlief der restliche Nachmittag, zu Charlottes großen Erleichterung, ohne Probleme und endete nach zwei Stunden Bowlen am extra eingerichteten Geburtstagstisch. Das Feiern ging allerdings weiter. Denn kaum waren sie zu Hause, klingelte es. Emma flitzte zur Haustür, öffnete sie und stieß Jubelrufe aus. Charlotte, die sich, Justus, Karl und Pauline und ihren gerade eingetroffenen Schwiegereltern Sekt eingeschenkte, schaute von den Gläsern hoch. Herein kam Julia mit einem großen, flach eingepackten Geschenk.
„Hallo Julia, wie schön, dass du da bist“, sagte Charlotte und drückte sie voller Freude an sich. Julia hatte ihren großen Traum verwirklicht und studierte inzwischen in Berlin. In den Semesterferien besuchte sie regelmäßig Charlotte und ihre Familie. Seit Charlotte ihre Werke der Galerie Sass empfohlen hatte, was sich als Glücksfall für Künstlerin und Galeristin herausstellte, hatte sich zwischen Charlotte und Julia eine Freundschaft entwickelt, die Justus, Karl und Emma mit einbezog. Lara Sass kümmerte intensiv um Julia, veranstaltete Ausstellung im In- und Ausland, nahm sie und ihre Werke mit zu Kunstmessen und stellte sie Sammlern vor. Emmas Bilder verkauften sich gut, und kürzlich hatte sich Julia für einen Kunstpreis beworben, der mit einem Auftrag für ein großes Gemälde verbunden war.
Julia übergab ihr Geschenk an Emma.
„Ist es das, was ich denke, das es ist?“, fragte Emma und lächelte verschmitzt. „Keine Ahnung. Mach es auf.“
Ungeduldig riss Emma das Papier herunter. Zum Vorschein kam ein abstrakt gemaltes Bild, dessen Farben intensiv leuchteten. Auf einem schneeweißen, glitzernden Untergrund, waren orange, blaue und grüne Kugeln gemalt.
Emma schlug begeistert die rechte Hand vor ihren Mund: „Das ist wunderschön, Julia. Vielen Dank.“
„Den Blick für gute Kunst, hat sie eindeutig von mir geerbt“, stellte Charlotte selbstironisch aber doch mit einem Hauch von Stolz fest.
„Das hänge ich über meinen Schreibtisch.“ „Was machen wir dann mit deiner Pinnwand?“
„Mama“, sagte Emma aufgesetzt genervt, „das ist doch ganz einfach. Die Pinnwand kommt an die gegenüberliegende Wand, neben den Schrank.“
Einige Stunden später, Justus brachte Emma ins Bett und Kurt und ihre Schwiegereltern waren schon gegangen, saßen Charlotte und Julia entspannt zusammen, schlürften Sekt und plauderten über Kunst.
„Ich bin so froh, dass Lara mir den Tipp mit der Ausschreibung zugeschickt hat. Es wäre wirklich toll, wenn ich den Preis gewinnen würde.“ Julias Augen bekamen einen hoffnungsvollen Glanz.
„Gut genug bist du allemal.“
„Das müssen die Jurymitglieder aber auch so sehen.“
„Abwarten“, sagte Charlotte und goss Sekt nach.
„Jetzt aber genug von mir“, sagte Julia und schaute Charlotte aufmerksam an, „wie geht es dir?“
Charlotte wedelte mit der Hand durch die Luft: „Gut. Ich bin sehr glücklich mit meiner Familie.“
„Und wie sieht es beruflich aus?“
Charlotte überlegte und zuckte dann mit den Schultern: „Es ist okay.“ „Nicht zufrieden?“
„Mhm, phasenweise schon. Mal bin ich zufrieden, dann wieder überfällt mich Verdruss. Wie das so im Berufsalltag eben ist.“ Julia nickte nachdenklich: „Weißt du, ich verstehe nicht, warum du nicht bei Lara arbeitest. Du hast ein gutes Gespür für Talente und Kunst. Lara würde dich sofort einstellen.“
„Ich weiß. Aber jetzt verdiene ich mehr.“ „Papperlapapp.“
„Tu das nicht so ab. Geld ist wichtig. Ohne Geld kannst du keine Rechnungen bezahlen und kein Kind großziehen und gut für die Rente ist es auch.“
„Ja klar. Aber ihr seid zu zweit. Habt also zwei Gehälter“, demonstrativ hielt sie Zeige- und Mittelfinger in die Höhe, „und umsonst sollst du ja auch nicht bei Lara arbeiten. Du hast mich entdeckt, zählt das gar nicht?“
„Doch. Aber Sicherheit ist mir nun mal wichtig. Was habe ich von meiner Zufriedenheit und der ganzen Kunst und Bildung, wenn ich zu wenig Geld habe.“
„Jetzt verstehe ich. Du meinst, wenn du kein Geld hast, bist du eine Niete?“
„Unsere Gesellschaft misst nun mal Leistung und Erfolg in Geld.“
Julia zog die Nase kraus: „Ach komm. Hab Mut zur Veränderung.“
Charlotte lachte unfroh auf: „Du meinst, ich soll springen und sehen wohin mich das treibt?“
„Warum nicht. Mich würde Stillstand nerven.“
„Du bist auch einige Jahre jünger als ich.“
„Unwesentlich“, sagte Julia grinsend.
„Du weißt, was ich damit sagen will, nicht wahr.“
Julia hob beide Hände in die Höhe: „Okay, du hast ja recht. Ich weiß, was du meinst. Ich gebe auf.“ Nach einer Weile des Schweigens fügte sie hinzu: „Allerdings ungern.“
Die Papiere auf ihrem Schreibtisch stapelten sich, im Vorzimmer schäkerte Leo Schneider wieder einmal mit Bärbel Grüntal, obwohl die Baldus ihn erhört und geheiratet hatte. Und vor ihrem Fenster hantierte ein Gärtner mit einem Laubsauger, dessen Lärm ihre Ohren und Nerven strapazierte. Die Besprechung gleich mit Heinze brauchte sie so dringend wie ein Loch im Kopf. Hektisch suchte sie nach ihren Unterlagen. Darauf hatte sie die wichtigen Zahlen in einer Tabelle geordnet. Sie wusste, wenn sie jetzt die Grüntal danach fragte, würde Schneider schadenfroh feixen. Doch da die Zeit drängte und Schneider nicht verschwand, blieb ihr nichts anderes übrig.
„Frau Grüntal, haben Sie meine Investitionsrechnung gesehen?“ „Für die neuen Rechner?“
Hoffnungsvoll nickte Charlotte.
„Nee, die habe ich nicht gesehen.“ Die Grüntal schüttelte den Kopf und schnatterte weiter mit Schneider, der zufrieden in sich hineingrinste. Sie hatte es gewusst. Der Idiot.
Die Besprechung war anstrengend gewesen. Sie brauchte dringend etwas Ruhe und eine Tasse Kamillentee zur Entspannung. Doch bevor sie die Tür zu ihrem Büro schließen und nach ihrer Isolierkanne greifen konnte, kam Schneider grußlos hereingefegt: „Ich muss mit Ihnen reden.“
Charlotte zwang sich zu einem freundlichen Ton: „Jetzt nicht. Aber in einer Stunde habe ich für Sie Zeit, Herr Schneider.“
Schneider wurde laut: „Nein, ich will jetzt mit Ihnen reden.“
Charlotte schaute Schneider genauer an. Seine Ohren waren knallrot, sein Haltung angespannt und sein Gesichtsausdruck erinnerte sie an eine Bulldogge. Charlotte seufzte innerlich, schloss ihre Bürotür und wandte sich Schneider zu.
„Was gibt es denn so Dringendes?“
Schneider polterte los: „Ich verbitte mir Ihre Einmischung in mein Privatleben! Das ist das Allerletzte! Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist!“
Charlotte sah ihn entrüstet an, war aber zu perplex, um etwas zu sagen. „Jetzt gucken Sie nicht so erstaunt. Sie wissen genau, wovon ich rede.“
Charlotte runzelte die Stirn, schüttelte leicht den Kopf und holte Luft. Doch Schneider ließ sie noch nicht zu Wort kommen: „Sie haben bei meiner Frau angerufen. Geben Sie es schon zu.“ Anklagend ob Schneider seinen Zeigefinger und stieß damit auf Charlottes Brustkorb. Sie machte einen erschrockenen Schritt nach hinten und stieß gegen ihre Schreibtischkante. Schneider setzte hinterher.
Charlotte schrie auf: „Hey, lassen Sie das. Sind Sie bescheuert.“ „Hah, jetzt bekommen Sie Angst, was, Sie blöde Kuh.“ „Aufhören.“ Charlotte brüllte aus Leibeskräften.
Damit schien Schneider nicht gerechnet zu haben, denn er ließ von ihr ab und hielt irritiert inne. Charlotte nutzte die Gelegenheit und rettete sich hinter ihren Schreibtisch, deutete auf ihren Besucherstuhl und legte ihre Hand auf ihr Telefon.
„Herr Schneider, setzen Sie sich sofort hin oder ich rufe unseren Sicherheitsdienst.“
Aus Schneiders Gesicht war alle Farbe gewichen, die Wut in seinen Augen erlosch und er sank auf den Stuhl und in sich zusammen.
„Worum geht es? Ich will sofort eine Erklärung.“
Resigniert fuhr Schneider sich über seine Augen: „Meine Frau hat letzte Woche, gestern und heute anonyme Anrufe erhalten. Eine Frauenstimme behauptete, dass ich im Büro eine Affäre hätte.“
Charlotte runzelte skeptisch die Stirn. „Oh…ich verstehe…und da haben Sie gedacht, dass ich das war“, stellte Charlotte sachlich fest.
„Sicher. Geben Sie es doch zu. Sie sind eifersüchtig auf mich.“
Charlotte schnaufte belustigt: „Herr Schneider…Sie sind verrückt. Nichts liegt mir ferner.“
„Das glaube ich Ihnen nicht. Sie wollen mich auf diese Weise los werden und meinen Ruf ruinieren.“
Charlotte lächelte grimmig. „Glauben Sie mir, das ist nicht mein Stil“, sagte sie und fuhr in einem mahnenden Tonfall fort „so, und jetzt fordere ich Sie auf, mein Büro zu verlassen.“
„Sie lügen!“
„Jetzt reißen Sie sich zusammen. Ich sage es ein letztes Mal: Ich war das nicht. Und nun lassen Sie mich mit Ihren Unterstellungen in Ruhe“, sagte Charlotte und zeigte auf die Tür.
Schneider erhob sich widerspruchslos und schlich mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck aus dem Raum.
Charlotte schloss kurz ihre Augen, fuhr sich über ihre Stirn. Was für ein Tag. Nachdenklich goss sie sich Tee aus ihrer Thermoskanne in die Tasse auf ihrem Schreibtisch, ließ Zucker folgen, rührte und trank mit geschlossenen Augen. Meine Herrn war der Kerl von sich überzeugt. Zuzutrauen wäre ihm eine Affäre. Sie hatte schließlich oft mitbekommen, wie er selbstgefällig mit der Grüntal, aber auch mit anderen Frauen im Unternehmen, geflirtet hat. Er hielt sich offensichtlich für unwiderstehlich. Von Ricarda Baldus hatte sie allerdings mehr erwartet. Sie konnte einfach nicht verstehen, dass sich eine so toughe Frau in einen so selbstverliebten Gockel verliebt hatte. Charlotte rümpfte die Nase, öffnete die Augen und seufzte tief. Zeit für die Arbeit.
„Stell dir vor. Als ich auf der Arbeit war, hat meine Schwiegermutter all meine Gardinen gewaschen.“
„So eine Schwiegermutter hätte ich auch gerne.“
„Sie hat sie aber total falsch wieder aufgehängt. Und jetzt fallen die Falten nicht richtig.“
„Krass.“
„Ich glaube, ich wasche alle noch einmal und hänge sie dann richtig auf.“ „Deine Schwiegermutter wollte dir bestimmt nur helfen.“
„Trotzdem hat sie die Gardinen falsch aufgehängt.“
„Das war doch nett gemeint.“
„Ich weiß nicht. Die hängen falsch.“
„Ach, ist doch bestimmt nicht schlimm.“
„Doch. Ich will die Falten nun mal so hängen haben, wie ich mir das vorstelle. Sie hat Stecknadeln in meine Gardinen gesteckt. In meine schönen Gardinen.“
„Dann nimm sie wieder raus.“
„Die hängen nun aber falsch.“
„Dann musst du sie doch noch mal waschen.“
„Sag ich doch.“
Dann hat es aber nichts gebracht, dass dir deine Schwiegermutter helfen wollte.“ „Nee.“
„Dann lass es.“
„Kann ich nicht. Sie hat meine Gardinen falsch aufgehängt.“
Die Idiotie und die Wiederholungschleifen dieses Wortwechsels faszinierten Charlotte. Sie saß in einem Bus und fuhr zur Arbeit, ihr Auto hatte sie zur Inspektion in die Werkstatt gebracht. Die beiden Frauen in der Reihe vor ihr quatschten sie mit ihren belanglosen Nichtigkeiten noch in die Hypnose. Allerdings war diese Unterhaltung besser, als die boshaften Klatschgeschichten, die sie manchmal im Büro zu hören bekam, bei denen sich aufgeplustert und wichtig gemacht und unzufriedenes Gift großzügig verspritzt wurde. Charlotte rutschte tiefer in ihren Sitz, schaute auf die Landschaft und Häuser, die am Busfenster vorbeizogen und gab sich lächelnd der Hypnose hin.
Meier krakelte, polterte, schrie rum. Anscheinend war er der Meinung, dass Charlotte seine Darstellung zur Anschaffung neuer Computer zu Unrecht kritisierte. Mehrmals versuchte Charlotte ihn zu unterbrechen. Keine Chance. Jede Sachlichkeit war aus dem Gespräch verschwunden. Nun stand sie da, paralysiert und wie ein gescholtenes Kind und konnte sich nicht vom Fleck bewegen. Bis das Telefon auf Meiers Schreibtisch klingelte. Das brach den Bann. Wortlos drehte sich Charlotte um und verließ gemessenen Schrittes, der sie viel Kraft kostete, den Raum. Am liebsten wäre sie hinausgerannt. Doch diesen Triumpf gönnte sie Meier nicht. Zügiger wurde ihr Schritt, als sie durch das Vorzimmer schritt, vorbei an Heidi Lah, die, wie meistens, am Telefon hing und, nach dem wichtigtuerischen Getuschel zu urteilen, alles brühwarm weitererzählte.
Die Entrüstung über Meiers Verhalten und die damit verbundene Demütigung lagen Charlotte für den restlichen Tag schwer im Magen und schienen sich nicht auflösen zu wollen. Sie konnte sich nun mal nicht an diese Art des Umgangs gewöhnen. Sie war froh, als sie endlich Feierabend machen konnte. Nachdem sie ihr Auto aus der Werkstatt abgeholt hatte, fuhr sie nach Hause. Sie fror innerlich. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch eine Stunde für sich, bevor ihr Vater Emma vorbei brachte. Sie stellte ihr Auto auf dem Stellplatz vor ihrem Haus ab, betrat den Flur, warf Mantel und Tasche auf den Stuhl neben der Garderobe, ließ die Schuhe folgen und ging in die Küche, direkt zum Kühlschrank. Sie fand eine angebrochene Flasche Kirschwasser, schenkte sich ein Schnapsglas ein und kippte es schnell hinunter. Von der brennenden Hitze, die sich normalerweise von ihrer Körpermitte ausbreitete, spüre sie dieses Mal nichts. Also machte sie sich eine Wärmeflasche, zog ihren Jogginganzug an, wickelte sich in ihre Kuscheldecke und rollte sich auf dem Wohnzimmersofa zusammen. Sofort schlief sie erschöpft ein und wurde erst wach, als ihr Vater und Emma lärmend das Wohnzimmer betraten.
„Oh, haben wir dich geweckt?“ Karl hielt erschrocken inne, als er Charlottes verschlafenes Gesicht sah.
Benommen winkte Charlotte ab: „Ich habe mich nur etwas hingelegt. Kein Problem.“
In der Nacht wachte sie mit rasenden Kopfschmerzen und Verspannungen in den Schultern auf. Leise, um Justus nicht zu wecken, stand sie auf und ging ins Badezimmer. Und dann kam das Nasenbluten. Wie immer, wenn sie etwas stark mitnahm. Ohne Vorankündigung fing es an zu sprudeln. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es mehr war als nur eine Unstimmigkeit. Sie griff zum Toilettenpapier und säuberte ihre Nase, gleichzeitig drückte sie auf das rechte Nasenloch, aus dem das Blut tropfte. Nachdem sie eine Weile so dagestanden hatte, hörte die Blutung auf. Sie putzte ihre Zähne, ging in die Küche und machte sich einen Kamillentee. Mit der Tasse setzte sie sich an den Tisch, stierte auf die gelbe Flüssigkeit und ließ ihre Gedanken fließen: Die nicht enden wollende Arbeit, die starren Zeiten, die Hierarchien und die Menschen mit ihren Befindlichkeiten und Unzulänglichkeiten und Gehässigkeiten erschöpften sie. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass die Statistiken, Rechnungen und Verhandlungen sie langweilten. Sie drohte an dem Vorhersehbaren zu ersticken. Sie spürte das Leben nicht mehr und seine Lebendigkeit. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie nach Emmas Geburt nicht ins Berufsleben zurückgewollt hatte. Sie hatte sich selbst nur nicht verstanden. Charlotte dachte wieder Mal an die Zeit ohne ihren Beruf zurück. Zufrieden war sie damals aber auch nicht gewesen. Wann aber war sie zufrieden? Bei der Beschäftigung mit Kunst. Doch damit ließ sich nicht genug Geld verdienen. Und auf das eigene Geld wollte sie nicht noch einmal verzichten. Aber war Geld überhaupt wichtig? Sicher, ohne Geld kann man seine Rechnungen nicht bezahlen. Aber ansonsten? Am liebsten würde sie sagen, dass es sie nicht interessiert. Aber das wäre falsch. Denn schließlich ist es die Grundlage des Lebens wie sie es lebte. Unsere Gesellschaft ist darauf trainiert, das Glück und die Zufriedenheit im Besitz von „Dingen“ zu suchen, dachte sie. Doch ist es Glück, wenn sich alles um das Materielle drehte? Und mit einem Mal wusste sie es: Glück ist Erfüllung. Und zwar innere Erfüllung.