Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 39

Ein Roman von Mira Steffan

Der große Besprechungsraum war voller Leute, die dicht gedrängt mit einem Sektglas in der Hand gezwungen dastanden. Es war Günter Heinzes Feier zu seinem 60. Geburtstag und Firmenjubiläum. Charlotte war froh, dass sie in dem Gewühl Dorothea gefunden hatte, denn die steife und befangene Atmosphäre behagte ihr gar nicht. Hinter ihr und viel zu nahe standen drei Kollegen, die sie zuvor noch nie gesehen hatte.
„Hast du die Praktikantin aus der Controlling-Abteilung gesehen?“, fragte einer der drei.
Charlotte horchte auf.
„Du meinst die Baldus?“, fragte eine andere Stimme.
„Genau die.“
„Ja, die ist schon niedlich. Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen.“
„Da komme ich richtig ins Sabbern.“
Dorothea schaute Charlotte an, verdrehte die Augen und flüsterte: „Das wundert mich nicht. Ich kenne ihre Frauen. Da sage ich nur: Anspruch und Wirklichkeit.“
Doch ehe Charlotte antworten konnte, startete der offizielle Teil des Festes. Nach vier sehr langen Ansprachen, denen Heinze mit einem gerührten Gesichtsausdruck zuhörte, wurde das Buffet eröffnet. Schnell bildeten sich Schlangen.
„Können wir uns nicht verdrücken und in Ruhe und ohne Gedränge und den Zwang zum Smalltalk woanders essen gehen?“, fragte Dorothea.
„Das sähe nicht gut aus. Außerdem ist Heinze mein Chef. Da kann ich nicht einfach verschwinden“, sagte Charlotte und schüttelte vehement ihren Kopf.
„Schade“, sagte Dorothea und hakte sich bei Charlotte unter, und gemeinsam steuerten sie das Ende einer Schlange an.
Dort stand ein Kollege, der einer Kollegin wichtigtuerisch von seinem letzten Urlaub erzählte, künstlich lachte und sich ganz offensichtlich für ausgesprochen witzig hielt, während sie ihn mit einem angewiderten Gesichtsausdruck bedachte, den er anscheinend anders interpretierte, denn er redete unverdrossen auf sie ein.
Dorothea folgte Charlottes Blick. „Herrlich, diese Dampfplauderer, nicht wahr?“
Charlotte lachte in sich hinein: „Es ist immer wieder erbaulich, das Verhalten eines Platzhirsches zu beobachten.“
Nach dem Essen und 333 Smalltalks schmerzte Charlotte von dem ständigen Lächeln der Kiefer. Verstohlen schaute sie auf ihre Armbanduhr. Seit über zwei Stunden war sie hier. Unauffällig blickte sie sich um. Sie konnte Schuster nirgends entdecken. Sie sah zu Dorothea hinüber, die ihr am Stehtisch gegenüber stand und sich mit einer älteren Frau in einem maßgeschneiderten Kostüm unterhielt. Charlotte umrundete den Tisch und Dorothea stellte sie als eine alte Bekannte aus Universitätszeiten vor. Eine Weile plauderten sie, bis sich Dorotheas Bekannte entschuldigte, um mit Heinze zu reden.
„Lass uns gehen. Der wichtigste Chef ist weg, und ich habe noch viel Arbeit auf meinem Schreibtisch“, sagte Charlotte flüsternd.
„Endlich. Wir waren wahrlich lange genug hier.“ Dorothea zog eine Grimasse.
Auf dem Weg zur Tür fragte Charlotte neugierig: „Wer war das? Sie wirkt sehr sympathisch.“
„Das ist sie. Sie war damals, als ich mit meinem Studium angefangen habe, wissenschaftliche Assistentin bei meinem Strafrechts-Professor. Sie hat vor vielen Jahren mit Heinze in einem anderen Unternehmen zusammengearbeitet. Deswegen ist sie eingeladen worden.“
„Das muss sehr lange her sein.“
„Ja, sie haben aber immer noch Kontakt. Wohl wegen ihrer Hobbys. Sie sind beide im selben Tennisverein und Golfclub.“
„Interessant“, sagte Charlotte nachdenklich, „wenn man jemand ausschließlich beruflich kennt, vergisst man manchmal, dass sie auch ein privates Leben haben und andere Interessen als die Arbeit.“

Zurück an ihrem Schreibtisch, sichtete Charlotte ihre Tagespost, überflog noch einmal die Baupläne und die Kosten für den Neubau. Die Zeit verlor sie dabei völlig aus den Augen. Als sie den Blick hob, weil es dunkel geworden war und sie ihre Schreibtischlampe anschalten wollte, fiel ihr Blick auf ihr blinkendes Handy. Justus hatte ihr schon vor über einer Stunde eine Nachricht geschickt.
„Ich habe heute etwas früher Feierabend gemacht und Emma schon bei Karl abgeholt. Ich kümmere mich um das Essen. Emma und ich haben Lust auf Lasagne. Dazu mache ich einen Salat. Gegen 20 Uhr bin ich mit dem Essen fertig. Wie sieht es bei dir aus?“
Erschrocken blickte Charlotte auf ihre Armbanduhr. 19:45 Uhr. Das würde sie schaffen. Schnellt tippte sie ihre Antwort ins Handy: „Ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Mache mich jetzt aber auf den Weg. Freue mich auf euch.“
Abgehetzt kam sie zu Hause an. Kaum hatte sie den Flur betreten, rannte Emma aus der Küche auf sie zu und berichtete aufgeregt von dem gemeinsamen Kochen, während Charlotte noch im Mantel und ihren Stiefeln an der Garderobe stand. Nichts wünschte sich Charlotte in diesem Moment sehnlicher, als ein paar Minuten Ruhe, um ihre Sachen auszuziehen, die Hände zu waschen und einmal durchzuatmen. Doch Emmas Freude war nicht zu bremsen. Und Charlotte ermahnte sich, nicht gereizt zu reagieren, um Emmas Begeisterung nicht zu zerstören.
„Schätzchen, warte einen Moment. Ich muss erst einmal Mantel und Stiefel loswerden. Dann kannst du weiter erzählen“, sagte sie ruhig und stellte ihre Handtasche auf den Stuhl, der neben der Garderobe stand.
„Soll ich dir deine Tasche schon mal nach oben in dein Schlafzimmer bringen?“, fragte Emma eifrig und total aufgedreht.
„Mach das. Wo ist Papa?“
„In der Küche. Er schneidet gerade die Zwiebeln für den Salat“, rief Emma, während sie die Treppe mit Charlottes Handtasche hochlief.

Nach dem Händewaschen schlüpfte Charlotte in ihre Pantoffeln und öffnete die Küchentür.
„Hallo schöner Koch“, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Justus schaute sie mit roten Augen lächelnd an: „Hallo Schatz. Ich bin gleich fertig. Es müssen nur noch die Tomaten geschnitten werden. Emma hat schon den Tisch gedeckt. Auf der Theke stehen unsere Weingläser. Die Weinflasche habe ich vor zehn Minuten geöffnet“, sagte er und deutete mit seinem Kopf in die Richtung.
Charlotte spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Sie griff nach einem Glas, goss Wein in beide Gläser, gab Justus eines und prostete ihm zu. Genießerisch ließ sie den lieblichen Wein über ihre Zunge rollen und beobachtete Justus, der die letzte Zwiebel schnitt. So sollte das Leben immer sein.
„Julia war übrigens heute da und hat das Bild für Emma vorbeigebracht. Ich habe es in unserem Kleiderschrank auf dem obersten Regal versteckt. Es ist ein wunderbares Bild.“
Charlotte, die gerade ihr Glas zurückstellen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne: „Gerade ist Emma mit meiner Tasche in unser Schlafzimmer gegangen. Ich hoffe mal, dass sie nicht in unseren Schrank guckt.“
„Quatsch, warum sollte sie. Außerdem ist das Regal zu hoch für ihre Körpergröße.“
„Ich gehe sicherheitshalber lieber nachschauen“, sagte Charlotte und wollte die Küche verlassen, als Emma durch selbige hereinspazierte.
„Ich habe deine Tasche abgestellt“, verkündete sie und wandte sich an ihren Vater: „kann ich dir helfen?“
„Klar, schneide doch bitte die restlichen Tomaten.“
Als Emma endlich schlief und das Geschirr in die Spülmaschine geräumt war, ging Charlotte nach oben in ihr Schlafzimmer und öffnete ihren Schrank. Vorsichtig hob sie Julias Bild vom Regalbrett, stellte es auf einen Stuhl und betrachtete es. Julius hatte recht. Es war wunderbar. So jung und schon so viel Talent, dachte Charlotte wehmütig. Julia machte das richtig: In jungen Jahren das Handwerk lernen und das Talent weiterentwickeln. So gut wie Julia war sie nie gewesen. Trotzdem schenkte ihr die Beschäftigung mit Farben Freude und innere Ruhe. Dorothea hatte Recht. Sie sollte es als Hobby betrachten. Ihr Können lag eben im kaufmännischen Bereich.
In dieser Nacht träumte sie von ihrer Studentenzeit. Seltsamerweise studierte sie aber nicht Betriebswirtschaftslehre, sondern Kunstgeschichte.
Charlotte schreckte hoch, als Bärbel Grüntal ihr Büro betrat und die Unterschriftenmappe auf ihrem Schreibtisch ablegte. Sie hatte sich Tagträumen hingegeben und sich am Rechner über den Studiengang der Kunstgeschichte an der Bonner Universität informiert. Schnell minimierte sie das Bild und wandte sich Frau Grüntal zu.
„Vielen Dank. Ich schaue es sofort durch“, sagte Charlotte.
Frau Grüntal murmelte etwas Unverständliches und verschwand wieder.
Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, vergrößerte Charlotte das Bild und klickte sich durch die Prüfungsordnung und anschließend durch die Themengebiete. Da gab es eine Menge, was sie interessierte. Vielleicht wäre es etwas für ihren Ruhestand. Charlotte atmete tief ein und aus und wandte sich dann der Mappe zu.

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