COVID-19: In zwanzig Minuten müde!

Foto und Text von Susanne Gold

Wie wird es uns in einigen Wochen gehen, wie den Völkern und Nationen, wie dem Handel und der Wirtschaft der Welt?

Das fragt sich wohl so mancher Erdbewohner derzeit. Vor dem Hintergrund der Pandemie und ihren Folgen denken wir alle über die Zukunft nach. Und – sind davon sehr schnell müde! Nicht nur das – so mancher von uns leidet unter Kopfschmerzen!

Diese Art des Nachdenkens macht uns nach etwa zwanzig Minuten müde. Warum?

Wie wir wissen, sind die Zusammenhänge und Folgen der Pandemie komplex, global und nur schwer zu begreifen. Versuchen wir, die Konsequenzen abzuschätzen und Prognosen für unsere Zukunft zu erstellen, bemühen wir unser rationales Gehirn, unsere Denkweise „System 2“, wie es der Nobelpreisträger, Psychologe und Kognitionsforscher Daniel Kahnemann bezeichnet.

Unser Zukunftsgehirn „System 2“ versucht, die Folgen der globalen Lage reflexiv und in all ihren Zusammenhängen zu erfassen.

Zwar verstehen wir, dass die Ereignisse unsere Zukunft stark beeinflussen werden, doch können wir die Gesamtheit der Folgen kaum begreifen, da sie so viele Bereiche unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben betreffen – und das auch noch weltweit. Das ist fast so, als wolle man das weltweite Internet in allen seinen Facetten begreifen.

Unser „System 2“  ermüdet schnell, denn während dieser Art des Nachdenkes fällt der Glukosespiegel in unserem Gehirn rasch ab. Die Folge sind Kopfweh und – nach rund zwanzig Minuten – Müdigkeit! Dieser Effekt wird von Kognitionsforschern auch „Ego-Depletion“, die Selbsterschöpfung, genannt.

Im Gegensatz zu uns Menschen wäre eine künstliche Intelligenz durchaus in der Lage, die Folgen einzuschätzen, Korrelationen zu erkennen und Prognosen zu erstellen. Diese kann nämlich in sekundenschnelle Millionen von Daten durchforsten, Zusammenhänge erkennen und Prognosen erstellen  – ohne dabei zu ermüden. Der Mehrwert eines künstlichen kognitiven Systems wird hier sehr deutlich: Das Zukunftsgehirn „System 2“ einer künstlichen Intelligenz ermüdet nicht nach zwanzig Minuten.

Zu unserer Erschöpfung führt möglicherweise weniger die Dramatik der Situation als unsere mangelnde Fähigkeit, diese zu verstehen.

Zu allen Zeiten gab es Seuchen. Menschen sind mit diesen zurecht gekommen. Bis heute wurden immer wieder Mittel und Wege gefunden, diese zu überwinden, denn besonders in Krisen entfaltet der Mensch sein unfassbares Improvisations- und Innovationspotential.

Doch die Komplexität der globalen Situation und unsere Unfähigkeit, die individuellen Folgen abzuschätzen, strengen uns an. Wir fürchten alle, durch den Virus individuelles Leid zu erfahren.

Viele von uns haben Angst! Doch wenn wir vor unsere Haustüren treten, erscheint die Welt da draußen fast so wie vor der Pandemie. Keine dramatische Filmmusik erklingt, wenn wir – bewaffnet mit Handschuhen und unter vermeintlicher Lebensgefahr – den Supermarkt  betreten.

Wie kann eine weltweite Katastrophe so winzig und leise sein?

Draußen erscheint kein überdimensionaler Virus, der uns – zähnefletschend – angreift. Die Vorstellung, von etwas so winzigem, wie einem Virus außer Gefecht gesetzt zu werden, ist unfassbar abstrakt und für unser Gehirn: Es ist eine nicht leicht zu verarbeitendende Information.

Stünde ein großer Virus mit weit aufgerissenem Schlund vor uns, würde hingegen unser Zuskunftsgehirn „System 1“  anspringen, wie Kahnemann unser emotionales Denken bezeichnet und wir kämen mit der Einschätzung der Lage besser zurecht. Warum?

Unser Zukunftsgehirn – „System 1“ ist laut dem Forscher unser spontanes und instinktiv arbeitendes Gehirn.

„Sytem 1“ wittert unmittelbare Gefahren, Entwicklungen, aber auch Möglichkeiten in unserer Umgebung und lässt uns sehr rasch reagieren.

Das Zukunftsgehirn „System 1“ sichert unser Überleben – es ließ uns die Zukunft bei Angriffen von Säbelzahntigern, deren Beute wir einst waren, reagieren oder rasch selbst Beute erlegen, wenn diese vor unsere Speere sprang.

Kognitionsforscher nennen diese Denkleistung „emotionale Heuristik“.  Sie funktioniert instinktiv und ermöglicht uns grobe aber dafür spontane Einschätzungen der aktuellen Lage vorzunehmen, welche unser Überleben sichern.

Das Nachdenken über die Pandemie beansprucht unser Zukunftsgehirn „System 2“,  nicht „System 1“ , weil die Gefahr nicht offensichtlich vor uns steht.

Ich vermute, dass in dieser Situation unser „System 1“  – angestachelt von der Flut der Informationen in der sozialen Medien, Nachrichten und durch die politischen Maßnahmen – fortwährend „Gefahr“ an  unser  intuitives „System 2“ meldet. Dieses ist aber nicht in der Lage , die Meldung zu verarbeiten und enstprechende Handlungsprognosen abzuleiten, weil die Bedrohung surreal und abstrakt ist.

Sähe der COVID-19 aus, wie ein riesiger Säbelzahntiger, würden wir wohl anders reagieren und wären uns einig, wie wir zu reagieren haben. So erkläre ich mir viele der erstaunlichen Reaktionen meiner Mitmenschen auf die derzeitige Situation.

Was hilft mir?

Ich atme, ich meditiere, achte auf Bewegung und Ernährung und – ich blogge. Außerdem bin ich dankbar für all die Dinge, die ich habe – zum Beispiel, dass ich in meinem Leben so gut wie nie mein Zukunftsgehirn „System 1“ benutzen musste: Ich gehöre zu den Menschen, die keine Bedrohungen, Krieg, Hunger oder sonstige Katastrophen ertragen mussten. Auch wenn ich zuhause bleibe – ich führe im historischen und (leider immer auch noch im) globalen Vergleich ein privilegiertes Leben. Mehr als zuvor will ich mich mit unserer Utopiensammlung für eine bessere Welt einsetzen.

 

Susanne Gold

Gründerin und Inhaberin des Zukunfts- und Wissenschaftsblogs „Utopiensammlerin“.

Die Wissenschaftsjournalistin setzt sich als Keynote Speakerin für ein neues Verständnis der menschlichen Arbeitskraft und eine gelungene Mensch- Maschine Kooperation ein.

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