Digitaler Teufelskreis – Broken Web Circle

von Thomas-Gabriel Rüdiger

Wilder Westen Internet?

2010 hat die Bundeskanzlerin in einem Podcast betont das Internet sei kein rechtsfreier Raum. Anfang 2018 hat sie diese Aussage erneut in einem weiteren Podcast wiederholt. Nur – wenn man ständig wiederholt, etwas sei kein rechtsfreier Raum – ist dann nicht eher das Gegenteil der Fall? Ist also das Internet ein rechtsfreier Raum?

Ich persönlich bin der Auffassung, das Internet stellt eher einen Raum mit geringer Strafvollstreckung dar. Das heißt für mich ist das Internet zwar kein rechtsfreier, aber ein weitestgehend rechtsdurchsetzungsfreier Raum.

Wie auch immer man zu dieser Frage steht: Der digitale Raum hinterfragt letztlich unser Verständnis von der Entwicklung, als auch der Entstehung von Kriminalität und den Reaktionsmechanismen insbesondere der digitalen Polizeiarbeit.

Um diese neue Herausforderung zu beschreiben, habe ich die „Broken Web Theorie“ entwickelt, die sich aus Klassikern kriminologischer Theorie zusammensetzt und diese auf den digitalen Raum überträgt. Die „Broken Web Theorie“ besagt, dass vor allem den sichtbaren Normenüberschreitungen keine sichtbare Normenkontrolle gegenüber gesetzt wird. Dies führt bei möglichen Tätern zu einer Senkung der Hemmschwelle.

Nationale Sicherheitsbehörden – internationale Internetkriminalität

Die Frage, ob das Internet ein rechtsdurchsetzungsfreier Raum ist, kann dabei insbesondere an der aggressiven und offenen Vorgehensweise von Sexualtätern diskutiert werden.

Letzlich sind durch die Digitalisierung Tätern keinerlei physische Grenzen mehr gesetzt. Ein Täter kann beispielsweise mit entsprechenden Technologien – wie Webcam und Livestreams – Kinder an und von jedem Ort der Welt sexuell missbrauchen. Selbst ein Mord aus der Entfernung ist denkbar – beispielsweise durch das Hacken eines digitalen Systems, wie ein autonomes Fahrzeug.

Neuland für die Sicherheit

Im Gegenzug haben sich die Sicherheitsstrukturen noch nicht an diese besondere Situation angepasst. Es fehlt besonders an einem globalen Bekämpfungsansatz oder gar einer solchen –strategie, um digitalen Delikten zu begegnen. Gleichzeitig tun sich Sicherheitsbehörden und Polizei schwer damit, im digitalen Raum dieselbe Präsenz zu entwickeln, wie beispielsweise im Straßenverkehr.

Polizeipräsenz, das wissen wir, kann jedoch ein Grundbaustein für die Einhaltung von Normen sein. Wenn Menschen aber das Gefühl haben, sie können Delikte begehen ohne, dass der Rechtsstaat sichtbar eingreift, dann kann dies zur Senkung der Hemmschwelle und zur Begehung von weiteren Delikten führen.

Massenphänomen – digitale Delikte

Erschwerend kommt hinzu: Allein durch die reine Masse der Delikte auf dem „globalem Spielfeld Internet“, kann keine nationale Sicherheitsbehörde diesen gleich effektiv begegnen. Nationale Rechtsstaaten besetzen diesen Raum gar nicht erst, da die Überforderung offensichtlich ist.

Der digitale Raum entwickelt seine eigenen Regeln

Der Soziologe Popitz hat in einem Aufsatz über die Präventivwirkung des Nichtwissens zum Ausdruck gebracht, dass kein Rechtssystem funktionieren kann, wenn jede kriminelle Handlung tatsächlich sichtbar wäre.

Diese Situation ist jedoch teilweise im Internet gegeben, da hier per Mausklick Kriminalität aufgerufen werden kann. Beispielsweise könnten alleine in einem Forum Tausende von strafbaren Kommentaren vorhanden sein. Würden die Sicherheitsbehörden all diesen Straftatbeständen nachgehen, würden sie innerhalb kürzester Zeit mehr Anzeigen produzieren, wie die gesamte polizeiliche Kriminalstatistik für Cybercrime in einem Jahr ausweist.

Nach Durkheim führt aber gerade die aus diesem Umstand folgende Abstinenz von Sicherheitsbehörden zu einem anomischen Raum, in dem das Vertrauen in den Rechtsstaat gesunken ist und eigene Mechanismen zur Rechtsdurchsetzung entwickelt werden.

Phänomen Selbstjustiz

Ein Sinnbild hierfür ist unter anderem die Akzeptanz beziehungsweise Verbreitung von Selbstjustiz. Ein Phänomen, das im Internet bereits aufzufinden ist: Man denke an die Hacktivisten von Anonymous. Aber es entwickeln sich auch neue eigene Regeln und Normen, wie es sich beispielsweise bei der Netiquette und ungeschriebenen Regeln wie „Don´t feed the troll“ oder auch dem Konzept von Counterspeech bereits abzeichnet.

Auf sichtbare digitale Delikte wird nicht sichtbar reagiert

Ein kriminologischer Ansatz (Routine Activity Approach) ist es, dass für eine Straftat folgende Dinge gegeben sein müssen: Ein motivierter Täter, ein geeignetes Opfer (oder Objekt) und die Abwesenheit von Schutz für das Opfer oder Tatobjekt . Diese Voraussetzungen sind offenbar im Internet bestens erfüllt.

Auf „Normenüberschreitungen“ im Internet wird in der Regel nicht sichtbar reagiert – das kann weitere Täter motivieren

Angenommen, ein Fenster wird zerbrochen und das Glas wird nicht zeitnah repariert oder der Übeltäter sichtbar für alle anderen mit seiner Tat konfrontiert – dann kann dies zu weiteren zerbrochenen Fenstern führen (Broken Window Theorie).

Da die Täter – aber auch andere Personen – sehen, dass es anscheinend niemanden interessiert, ob ein Fenster eingeschlagen wird oder nicht, sinkt die Hemmschwelle. Denn Menschen wägen stets das Risiko mit dem Mehrwert ab.

Realität im digitalen Raum

Viele Nutzer werden im Netz täglich mit Phishing E-mails, beleidigenden oder hetzerischen Kommentaren oder auch sexuellen Belästigungen und Cybergrooming -Versuchte Anbahnung sexueller Kontakte – konfrontiert.

Gleichzeitig fehlt es an einer sichtbaren Normenkontrolle. Das zeigt den Nutzern, dass es offenbar nur ein geringes Verfolgungsrisiko im Netz gibt.

Dies kann sich nun selbst verstärken und weiter zur Senkung der Hemmschwelle führen, welche ihrerseits zu immer mehr Delikten führt, die wiederrum erneut die Hemmschwelle senken.

Ich bezeichne diesen Kreislauf als „Broken Web“ bzw. den „Broken Web Circle“.

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