Interview mit Rainer Langhans

Die Digitalisierung schickt uns in einen ewigen „Summer of Love“

Man lebt das Leben vorwärts und versteht es rückwärts. Wie erscheint Dir die 68er Zeit rückwirkend?

Ich glaube, dass ich heute verstanden habe, dass wir damals gar nichts verstanden haben.  An der Uni gab es wenige – die berühmten 2 Prozent – die sich für politische Themen interessiert haben.  Plötzlich gab es den bis heute unerklärlichen Geist, der uns alle ergriff und buchstäblich verrückt machte. Das, was heute als „68er Gefühl“ bezeichnet wird, gab es zwar weltweit – aber vor allem die Studenten in den entwickelten Ländern haben es am stärksten wahrgenommen und zugelassen. Alle haben es gespürt, doch nicht alle konnten sich darauf einlassen.

Manche waren zu jung  und andere schon zu etabliert, um sich auf diese Erfahrung einzulassen, die alles umstürzt: Eine Erfahrung, die mit der alten Ordnung der Welt brach.

Rückwirkend möchte ich es als mystische und spirituelle Erfahrung bezeichnen. Die Frage, wie eine bessere und liebevollere Welt – fern von Massenmord und ewigem Krieg unserer Elterngenerationen – möglich ist, stand für uns alle im Raum. Wir wollten nicht mehr als „Menschen des Menschen Wolf“ leben, wie es die Menschen vor uns taten.

Wir wollten die bessere Welt ebenfalls aktiv und wollten nichts davon hören, dass die bestehenden Verhältnisse nicht zu ändern seien. Wir hatten sie ja gelebt! Die Endlosschleife des faschistischen Kapitalismus zu durchbrechen, war für uns daher selbstverständlich.

Der „Summer of Love“ war der Beginn einer geistigen Reise. Es wehte ein Wind über uns hinweg, ein Zeitgeist, den bis heute noch niemand wahrhaft in Worte fassen kann. Wir von der Kommune wurden unverhofft zu einer Art „Popstars“.

Seit dem ist viel passiert – Harari hat die Geschichte des Menschen von Morgen geschrieben – Homo Deus. Wie denkst Du darüber?

Der Traum vom neuen Menschen ist uralt.  Immer schon streben die Menschen  nach einem Anders- und Neu-Sein ihrer selbst. Vergeblich.

Homo Deus ist eine interessante Arbeit. Ich finde, dass er in seinem Werk zu wenig auf den spirituellen Weg, den wir – jeder für sich – gehen werden, eingeht.

Vor dem Hintergrund, dass er selbst immer für ein halbes Jahr nach Indien zum Meditieren geht und selbst offensichtlich einen spirituellen Weg gewählt hat, verwundert das ein wenig.

Warum erwähnst Du, dass Harari meditiert – Welche Rolle spielt seine Spiritualität?

Faszinierend finde ich, dass viele von den „Technik – Freaks“ sich dem inneren Weg und der spirituellen Erfahrung zu wandten. Mit diesen Erfahrungen versuchen die ganzen IT-Freaks die materielle Welt zu digitalisieren, eine neue, bessere Welt zu bauen. Die Leute im Silicon Valley sind nicht umsonst alle Hippies und bekennende 68er.

Wie meinst Du das – die materielle Welt digitalisieren, um eine bessere zu bauen?

Für diesen Umbau verwandeln sie die alte Welt erst einmal in Daten. Der Materialist kann Daten verarbeiten und begreifen. Nur so hat er Zugang zum  „Geist“.

Das Internet ist für mich die Renaissance des 68er Geistes. Jeder ist in Kontakt mit jedem. Jeder kann den anderen unmittelbar erkennen, seine Schönheit sehen und sich darüber freuen. Er kann den anderen lieben. Es gibt keinen Besitz mehr. Alles teilen, alles mitteilen. Und wenn es keinen Besitz mehr gibt, gibt es auch keine Kriege mehr. Das Internet führt in Besitzlosigkeit und damit konsequenterweise zum Weltfrieden. Im Internet wird alles mit- geteilt. Was soll das in der Konsequenz anderes sein, als die Besitzlosigkeit, von der wir damals träumten? Im Internet ist das Private öffentlich, also politisch.

Wenn das Internet der Weg zu Weltfrieden ist – Wie erklärst Du dann Dinge wie Hate Speech und Cyber Mobbing?

Die Leute hatten bisher nie etwas sagen dürfen  hatten kein Recht auf Entfaltung. Seit ewigen Zeiten gab es für sie nur die Wahl zwischen Arbeits- oder Kriegssoldat. Sie sind gewöhnt, sich in einem autoritären System unterzuordnen.

Und jetzt plötzlich setzt Du sie frei – sie können alles tun in der digitalen Welt, alles sagen. Das macht einerseits Angst und andererseits platzt alles raus, was bisher unterdrückt wurde. Der Damm der Unterdrückung ist gebrochen und alles bricht nach außen, was so lange Innen versteckt wurde, die „Mördergrube“.

Da kommt alles raus, das Wolfsbewusstsein. Alle Muster, die sie in der materialistischen Welt leben mussten. Der ganze Zorn, Enttäuschung und Verzweiflung, die sie voreinander verbargen – alles kommt jetzt hoch. Muss es auch, denn nur dann können wir daran arbeiten.

Die Digitalisierung bringt also unsere Abgründe zutage? Alles Ungesagte platzt jetzt raus?

Zunächst müssen die Menschen durch die Hölle des Ego, durch „Es“ im Sinne von Freud hindurch. Meistens, wenn Leute das versucht haben, blieben sie in dieser Hölle stecken, in ihrem Ego oder Faschismus.

In dem Augenblick, wo die Alternative auf ein anderes Leben sichtbar wird, also eine erste Erfahrung gemacht wird, erkennst Du den Abgrund – die Hölle – in der Du bisher gelebt hast.

Du siehst, dass die vermeintliche Normalität eine grausame ist. Wenn eine echte Alternative auf den Plan tritt, dann erkennst Du, dass alle Deine Bemühungen vorher, Dein Leben zu verbessern, vergeblich waren. Du erkennst, dass alles was Du wähltest und tatest, lediglich die Symptome milderte, aber keine wahrhaftige Alternative war.

Du sagst, dass wir noch immer in einem faschistischen System leben?

Gut anschaulich macht das die Politik von Trump. Der steht ganz offen dazu, dass er ein Arschloch ist. Er hält den Menschen einen Spiegel vor und macht ihnen damit deutlich, dass sie selbst welche sind. Jeder, der in diesem kapitalistischem System von sich sagt, dass das nicht stimme, lügt sich selbst was vor.

Sein Vorgänger, Obama – Musterbeispiel eines aufgeklärten Menschen und Träger des Friedensnobelpreises – was ist er denn anderes als ein weiterer kapitalistischer Kriegsherr geworden? Tragischer weise wurde aus dem wunderbaren aufgeklärten Friedensfürst, der er sein wollte, nichts anderes.

Wenn wir dort raus wollen – und das wollen wir offenbar – dann könnten wir uns auf die bekannten Therapieformen besinnen: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.

Dabei ist die Psychologie sicher kein Allheilmittel, aber es ist eine Technik und erklärt manches. Auf kollektiver Ebene bedeutet das, dass wir erkennen müssen, was für Faschisten wir eigentlich immer waren und vor allem – noch sind.

Die „aufgeklärten“ Leute behaupten dann natürlich, dass sie humanistisch und keine Faschisten sind. Doch sie tun nur so, handeln aber ganz anders. Dabei gehört zur Heilung die Krankheitseinsicht, hier eben eine kollektive Einsicht. Wir müssen unsere Abgründe durchwandern – zunächst uns selbst als faschistisch erkennen, bevor wir uns ändern können. Dann können wir frei werden.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung beim politischen Wandel? Hältst Du einen digitalen Weltstaat für möglich?

Ich denke, dass wir den schon haben. Nimm zum Beispiel Facebook – 2,1 Milliarden Nutzer. Das ist die größte Gemeinschaft überhaupt. Nie zuvor gab es eine so große Gemeinschaft, die intensiv miteinander kommuniziert. Bei denen verwirklicht sich unser Erfahrung: „Das Private ist politisch“.

Dir gefällt also die Idee von einem großen digitalen Staat, wie es beispielsweise Bitnation anstrengt?

Das Geld abschaffen und die alte Ordnung aus den Fugen bringen? Und wie mir das gefällt! Nicht Staat – in der  digitalen Gesellschaft wird alles allen gehören. Jeder ist einer Datenblase und hat damit genau so viel oder wenig, wie jeder andere. Nur das gilt.

Das Internet holt auch die sogenannten „Abgehängten“ – die, die immer im Abseits standen – dazu.

Datenschutzaktivisten sehen die Entwicklung sehr skeptisch und fürchten die totale Überwachung – Hast Du keine Angst?

Die Angst vor der sogenannten Datenkrake, das ist für mich nur die Angst vor der geballten Macht, die dort im Netz entsteht. Die Macht aber sind wir – nur dass wir das noch nicht wissen.

Auch die Angst vor der künstlichen Intelligenz – wie Elon Musk und Stephen Hawking es in ihrem offenen Brief verbreiten, ist für mich nur die alte Angst vor der Freiheit. Die Angst davor, dass es möglich ist, alles mit allen anderen Menschen in Echtzeit zu teilen.

Was ist mit Methoden wie Nudging — ist das nicht Manipulation?

Nein, das ist Verführung – ich verführe sie zu einem bestimmten Verhalten. Das ist doch etwas Wundervolles!

Und China – das chinesische Sozialkredit-System ist nicht unbedingt eine Verführung. Was denkst Du über den Citizen Score? Siehst Du neben der Utopie auch die Gefahr?

Aus persönlicher Erfahrung muss ich sagen, dass der Weg ins Paradies voller Hindernisse und Steine ist. Auf diesem Weg begegnet man allen alten Mustern in einer schrecklichen Form, vor allem weil sie zunächst unüberwindbar erscheinen.

Hier spiegeln sich auf dem Weg nur die bestehenden Verhältnisse wider, die immer da waren und noch sind. In dem chinesischen Sozialkredit-System wird digital lediglich transparent, was real ist: Kapitalistische Sklaverei!

Doch jetzt kann man es deutlich sehen. Die digitale Welt macht es erkennbar und begreifbar. Diese Transparenz gibt erstmals in der Geschichte der Menschen die Chance, dieses ausbeuterische System zu überwinden.

Das Schlimmste daran ist, dass uns das System ständig den Eindruck vermitteln will, als sei es unüberwindbar. Doch wir können das, wir befinden uns nicht mehr in der Hölle der Alternativlosigkeit. Die digitale Welt liefert uns die Alternative, weil sie nicht mehr grob materiell ist.

Was genau meinst Du das, wenn Du sagst, dass uns die digitale Welt einen Ausweg aus dem kapitalistischen System bietet?

Das Internet zeigt uns den Weg in eine neue Welt. Wir werden die alte Hölle durchschreiten und letztendlich hinter uns lassen. Alle wollen frei sein. Man darf nicht glauben, dass das Internet nur Technik ist.

Es überschreitet sie. Es ermöglicht immerhin zu sehen, dass alles und jeder Teil eines großen Ganzen ist. Im Internet ist es möglich, dass alle alles haben. Und dann gibt es keinen Besitz mehr. Wenn es keinen Besitz mehr gibt, dann gibt es keinen Grund mehr, Kriege zu führen.

Das ist ein neuer und freier Geist, dem wir uns öffnen können. Die totale Transparenz und das Fehlen von alten Autoritäten, das macht es möglich. Jeder liebt jeden – das nennt man heute eben Freunde oder Follower.  Ich glaube, der Siegeszug ist nicht aufzuhalten, wir können das Böse überwinden.

Du siehst in der Automatisierung also mehr Möglichkeiten als Gefahren?

Dass so viele von den Technik- Freaks meditieren und sich nach innen wenden, verstehe ich als Chance für den Beginn einer neuen und liebevollen Welt.

Wann gab es in der Welt jemals eine Zeit, in der 2 Milliarden Menschen Freunde waren – wie jetzt bei Facebook? Es gab immer nur Feinde. Wenn das nicht der Beginn eines neuen Zeitalters ist, was ist es denn dann?

Das ist in meinen Augen ein unübersehbares Zeichen für eine bessere und liebevollere Welt. Die Menschen haben begonnen, unmittelbar miteinander zu kommunizieren – in Resonanz mit ihrem tieferen selbst. Auch wenn es dahin noch ein Stück zu gehen ist und finstere Täler zu durchwandern sind. Möglicherweise stehen vor dem Paradies die Engel mit den Flammenschwertern – aber der Weg in einen ewigen „Summer of Love“ ist angetreten.

Unterdrückung manifestiert sich durch Produktionsverhältnisse. Wir befinden uns in der sogenannten 4. Revolution der Arbeit. Erneut ändert sich für die Menschen die Arbeitswelt.  Ist Selbstverwirklichung im Beruf heute realistischer?

Wir, die 68er, wollten nicht arbeiten. Selbstverwirklichung durch die bekannte Arbeit hielten wir für ausgeschlossen. Das ist eine Ideologie mit dem Ziel, die bestehenden Verhältnisse zu erhalten.

Vielleicht mag das mit der Selbstverwirklichung für ein paar Wissenschaftler und Künstler stimmen – aber normalerweise und in den Wirtschaftsbetrieben in besonderer Weise geht es um Profit – nicht um Verwirklichung und Sinn.

Bei dem neuen Arbeiten, seien es digitale Nomaden oder Zusammenkünfte in Co-Working-Spaces, geht es eher um Selbstverwirklichung der Menschen.

Ich behaupte, dass die  neuen IT-Konzerne nicht die Gewinnmaximierung als Unternehmensziel haben, sondern die Verbesserung der Kommunikation, die Digitalisierung.

Du glaubst, dass Konzerne künftig nicht mehr Gewinnmaximierung als oberstes Prinzip haben? – Kannst Du mir das bitte genauer erklären?

Von dem Gewinnstreben hin zum Streben nach Inhalten: „Inter-Net-Inhalte“. Diese Inhalte bedeuten eine „Smartisierung“ der Welt auf verschiedenen Ebenen – eine Vergeistigung und „Entstofflichung“.

Wenn dieser Trend in einem Postmaterialismus mündet, in einem miteinander statt gegeneinander, dann endet auch die Unterdrückung durch die Produktionsverhältnisse. Das Geld und die alte kapitalistische Welt sind im  Begriff zu sterben.

Damit verschwindet der Kapitalismus von der Welt – statt Gewinnmaximierung tritt Liebesmaximierung in den Vordergrund.

Was ist Deine Prognose für die Zukunft?

Es hat sich mittlerweile eine Eigendynamik entwickelt, die nicht mehr aufzuhalten ist. Neben mir glauben viele andere, dass bereits eine grundlegende Verwandlung der Verhältnisse stattfindet. Und das ändert selbstverständlich die Bedeutung von Arbeit grundlegend.

Einen ersten  Eindruck davon gibt uns die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen. Ursprünglich eine Utopie! Alleine die Tatsache, dass wir das mittlerweile ernsthaft diskutieren – ist revolutionär!

Wir – die 68er – haben gewonnen!  Liebe – nicht Krieg – wird unsere Zukunft sein!

 

Kommentare

1 comments on “Interview mit Rainer Langhans”
  1. Super: „Wir, die 68er, wollten nicht arbeiten. “
    Getraut sich heute kaum noch jemand zu sagen. Aber bis 2005 gab es im Ausland noch unbürokratisch den halben Sozialhilfesatz. Heute übernehmen KI-Roboter die Jobs, die für die Allermeisten zum Lebensinn erhoben wurden.
    Leben wir um zu arbeiten, oder arbeiten wir um zu leben?
    Das BGE ist ja eine richtige Befreiung. 🙂

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