Illustration Susanne Gold / Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger
Digitale Kriminalitätstransparenz – Oder wie der digitale Raum das Konzept der Präventivwirkung des Nichtwissens durchbricht
„Bestätigen Sie Ihre Angaben unter folgendem Link! Letzte Mahnung – Rechnung beigefügt! Ich habe Ihre Webcam gehackt und Sie beim Masturbieren gefilmt! oder „Mein verstorbener Ehemann hat ein großes Vermögen bei einer Versicherung eingelagert, ich brauche nur 5.000 Euro um einen Anwalt zu bezahlen.“
Wer kennt sie nicht, solche oder ähnliche Nachrichten, die täglich in den Spamordner oder als Anfragen in den Sozialen Medien in unseren Posteingang spülen?
Fast immer lästig, nicht selten kriminell: Für viele Menschen sind Spammails lästige Normalität, quasi zur Begleiterscheinung des digitalen Zeitalters geworden.
Noch Anfang des Jahrzehnts – so Schätzungen – betrug der Anteil der Spam – und Phishing Nachrichten am gesamten E-Mailverkehr rund 80 Prozent, gegenwärtig geschätzte 60 Prozent. Berücksichtigt man, dass etwa 280 Milliarden Haushalte weltweit täglich Mails senden – davon rund zwei Millarden in Deutschland – handelt es sich um eine beachtliche Menge. Diese Mails sind oft nicht nur lästig, sondern in vielen Fällen auch ein Akt krimineller Handlung, von Betrugs- über Bedrohungs- und Sexual- bis hin zu Erpressungsdelikten ist alles zu finden.
Stellen wir uns kurz vor, im echten – physischen – Leben würden wir mit der gleichen Häufigkeit mit Delikten konfrontiert werden: Welche Ausswirkungen hätte das auf unser Rechtsverständnis?
Wie würde es um unser gesellschaftliches Verständnis von Recht und Normenakzeptanz stehen, würden wir bereits auf dem Arbeitsweg mit mindestens drei Erpressungs- und Betrugsversuchen konfrontiert werden?
Heinrich Popitz hat sich im Jahr 1968 mit seiner Veröffentlichung „Präventivwirkung des Nichtwissens“ diesem Thema gewidmet. Dabei ist er der Frage nachgegangen, wie unser Verständnis von Strafrecht und Kriminalität funktionieren würde, wenn nicht jeder die gerechte Strafe bekommen würde, die er eigentlich verdient.
Dahinter steht der Gedanke, dass jeder Mensch letztlich Normen bricht oder in seinem Leben bereits gebrochen hat.
Wenn nun jeder Mensch in einer absoluten Verhaltenstransparenz erfahren würde, was Andere schon an Normenübertritten bis hin zu Straftaten begangen hätten und – das ist hier wichtig, gleichzeitig – wofür sie davon nicht bestraft wurden, – würde die gesamte Normenregulierung der Gesellschaft ihre Stabilität verlieren.
Diese „Präventivwirkung des Nichtwissens“ lässt sich mit einem einfachen Beispiel beschreiben: Wenn wir bei einem Brettspiel immer schon wüssten, wer alles beim Spielen schon geschummelt hat und damit durchgekommen ist, würde sich kaum noch jemand offen an die Regeln halten. Demzufolge führt gerade die Tatsache, dass wir nicht von den Schummeleien der anderen wissen, führt dazu, dass wir uns weitestgehend an die Regeln halten.
Ein weiterer Punkt ist hier wichtig: Die formelle Normenkontrolle, d.h. die Überwachung, dass Gesetze – „gesellschaftlichen Spielregeln“ eingehalten werden, – also die Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten – sind personell wie strukturell so ausgestattet, dass sie nur Schwankungen im Hellfeld (Hellfell bedeutet den Strafverfolgungsbehörden angezeigte Delikte) kontrollieren können.
Wenn das gesamte Dunkelfeld (die tatsächlich begangenen Delikte) bekannt wären, würde das Rechtssystem kollabieren und – wenn überhaupt – nur noch ausgewählte Delikte verfolgen.
Viele Menschen würden dann wahrscheinlich das Vertrauen in die Normenkontrolle (Ahndung von Straftaten) verlieren und das gesamte System als einen rechtsfreien Raum wahrnehmen.
Dann stünde die Frage im Raum, wer bestimmt, welche Delikte von all den Taten verfolgt werden? So lässt sich erklären, warum das Rechtssystem tatsächlich von der „Präventivwirkung des Nichtswissens“ profitiert.
Im Netz hingegen sind die Normenüberschreitungen jedem bekannt. Was bedeutet das für die „Präventivwirkung des Nichtwissens“. Kommen wir zurück auf das Brettspielbeispiel – Beispiel
In dieser Analogie ist im Netz die Schummelei der anderen bekannter Alltag. Das Prinzip des Schutzes des Nichtwissens scheint seit längerem durchbrochen. Dies spiegelt sich auch indem sich stetig wiederholenden politischen Mantra, dass das Internet „kein rechtsfreier Raum“ sei wider.
Vielmehr erscheint das Internet als ein, wie ich es nenne, „Broken Web„, ein anomischer Raum wie es Durkheim bezeichnen würde: Spam, Phishing Mails oder betrügerische Anfragen in Sozialen Medien sind ein Massenphänomen. Sie verkörpern dabei in einer besonderen Weise die sichtbare Durchbrechung dieses popitzschen Prinzips der „Präventivwirkung des Nichtswissens“.
Das Internet erscheint wie ein digitales Fenster oder Brennglas, welches uns allen täglich zeigt: Kriminalität ist im Netz Normalität, eine Anzeige lohnt sich nicht.
Dies schon aufgrund der puren Masse an Delikten dort. Das Risiko einer Tat im Netz scheint für die Täter offenbar sehr niedrig zu sein, denn sonst würde es ja nicht so viele und regelmäßig Spams geben.
Welche Auswirkungen diese tägliche Konfrontation mit Kriminalität im Netz auf die Menschen hat, wissen wir noch gar nicht, da es an Studien fehlt.
Es kann aber vermutet werden, dass der Wegfall der normenstabilisierenden Funktionen, also die Bereitschaft, sich an die gesellschaftlichen Spielregeln und Gesetze zu halten, einen Einfluss darauf hat, wie menschen den digitalen und globalen Interaktionsraum des Internets erleben: Kein Nichtwissen übt eine Präventivwirkung aus, Schummel und Betrug gehören dort zur Tagsordnung.
Umso wichtiger ist es , dass gegen diese neuen Formen von Kriminalität vorgegangen wird, vor allem indem sie durch eine Weiterentwicklung von KI-gestützten Filtermechanismen verhindert, dass Menschen überhaupt damit konfrontiert werden.