Warten: Corona Lockdown für mehr Lebenssinn?

Illustration und Text von Susanne Gold

Wir alle warten auf das Ende der Pandemie – das Ende des Lockdowns. Viele fühlen sich, als säßen sie in einem globalen Wartezimmer und sind genervt davon. Wir wollen unser gewohntes Leben zurück. Gibt es auch etwas Gutes am Lockdown?

Der Zustand des Wartens spielt in der Existenzphilosophie eine entscheidende Rolle.

Die philosophische Idee dahinter ist, dass der Mensch erst allen Ablenkungen des Alltags entledigt sein muss, um sich in der darauffolgenden Leere selbst zu finden und mit sich ins Reine kommen zu können. Diesen Zustand der Leere erleben zur Zeit viele Menschen – nicht nur, weil sie ihre Zukunft nicht einschätzen und planen können, sondern auch, weil sie ihren Tätigkeiten nicht in gewohnter Art und Weise nachgehen können.

Wenn Erwachsene sich langweilen, leiden sie nicht in erster Linie an leerer Zeit, sondern fühlen sich in ihren Erwartungen enttäuscht. (Stefan Klein)

Die Welt steht still. Global befinden sich Menschen in einem Vakuum – in luftleerem Raum – schwebend in der Leere der Ungewissheit, in der selbst die nahe Zukunft unplanbar erscheint. Nicht einmal was wir im nächsten Urlaub machen dürfen und können, wissen wir heute.

Wenngleich die philosophische Leitidee der Existenzphilosophen aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammt, ist sie heute aktueller denn je. Wir alle warten inmitten der globalen Pandemie, dass wir unsere hektische Betriebsamkeit wieder aufnehmen können.

Leere als Gewinn.

Laut den Vertretern der Existenzphilosophie führen starke Emotionen wie Langeweile, Angst, Sorge, Ekel sowie die Erkenntnis über die eigene Vergänglichkeit und Sterblichkeit auf schnellem Weg zur segensreichen Leere. Erst dann, wenn uns Menschen die Absurdität des Lebens den Boden unter den Füßen wegreißt, sind wir in der Lage, aus unserem gewohnten Alltagstrott auszubrechen und unsere Existenz zu hinterfragen. Allzuoft ist es der Alltagstrott, der unsere Lebenszeit unwiederbringlich und sinnlos verrinnen lässt.

Mit der Industrialisierung begann die Herrschaft der Uhr – die formale Zeit gibt den Takt unseres Lebens vor.

Wir haben uns nicht immer nach der Stechuhr gerichtet, aber dennoch nach einer Zeit – unserer subjektiven Zeit. Nicht nur wir Menschen, sondern jedes andere Lebewesen verfügt über einen angeborenen Zeitsinn, welcher unabhängig von unserer Umwelt funktioniert. So strecken sich manche Pflanzen selbst in abgedunkelten Zimmern zur gleichen Tageszeit in Richtung Sonne. Bei Menschen ist das ähnlich, wie es der Höhlenforschers Michel Siffre belegt. In seinem Selbstversuch hielt er sich monatelang in einer Höhle auf. Es fiel ihm immer schwerer zu sagen, wieviel Zeit vergangen war und Zeitspannen abzuschätzen. Kurioserweise kamen ihm in der monatelangen Dunkelheit und Abgeschiedenheit Zeiträume wesentlich kürzer vor, als sie tatsächlich waren. Und trotz der Abgeschiedenheit folgte er einem ähnlichen Rythmus wie die Menschen außerhalb der Höhle – und das ganz ohne Sonnenlicht.

Die Herrschaft der Uhr – Soziologen nennen sie die „formale Zeit“ – wurde erst in durch die Industrialisierung geboren, zu dem Zweck, dass sich Menschen in dem immer komplizierterem Geflecht von Produktion und gesellschaftlichen Leben aufeinander abstimmen konnten. Der englische Philosoph Gerald Whitrow nennt unsere Uhrzeit eine „Erfindung“. Mit der Pandemie ist unsere Stechuhr aus dem Takt geraten, wir können ihr nicht mehr folgen.

Liegt genau darin möglicherweise eine riesige Chance für uns?

Erst dann, so glauben Existenzphilosophen, wenn man nicht mehr der Lage ist, seinem gewohnten Trott nachzugehen, beginne man, seine Existenz zu hinterfragen. Aus dieser Sicht ist das bedrohliche Warten auf das Ende des Covid Lockdowns also ein hoffnungsvolles Tun. Es bedeutet nicht weniger, als von dem Takt der Stechuhr freigesetzt zu sein und ganz nebenbei herauszufinden, wer wir sind und wie unsere innere Uhr tickt.

Was gibt uns Sicherheit, wenn alles um uns herum unsicher ist?

Der Philosoph Martin Heidegger dachte, man könne durch die Leere des Wartens Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens finden. Seinen persönlichen Sinn zu finden, das sei mit Zeit nicht aufzuwiegen, glaubte der Philosoph. Denn erst dann, wenn Menschen in der Leere angekommen sind, können sie reflektieren und belastende Emotionen wie Angst, Einsamkeit oder Wut bereinigen. Wer also ständig beschäftigt ist, stets einen vollen Terminkalender hat, hat nie die Chance, seinen Sinn zu finden. Friedrich Nietzsche nannte das sich „gegen sich selbst verschanzen“.

Sich hinter seinem vollen Terminkalender verstecken und sich vor der Selbsterkenntnis verschließen.

Die Langeweile, die viele Menschen durch den Lockdown nun erfahren, ist also – aus existenzphilosophischer Sicht – ein echtes Privileg: Nämlich das Privileg der Muße und gedankliche Leere, die uns auf unseren eigentlichen Sinn zurückwirft. Viele haben schon begonnen, ihrem eigenen Rythmus zu folgen – den Tag in ihrem Takt zu gestalten.

Was passiert, wenn ein Mensch ganz ohne Uhr lebt?

Der französische Schriftsteller Marcel Proust, welcher von 1871 bis 1922 lebte, ist dieser Frage nachgegangen und machte nebenbei eines der größten Experimente der Weltliteratur: Ab 1912 verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens in einem  abgedunkelten und mit Korkplatten abgedichteten Zimmer. In dieser Einsamkeit reiste er in die Tiefen seiner Erinnerung – in die Zeit seines Lebens.

Die Zeit unseres Bewusstseins ist eine reichhaltige Wirklichkeit voller Sinneswahrnehmung und voller Gefühle. Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein mit Düften, Tönen, Plänen und Stimmungen angefülltes Gefäß. (Marcel Proust)

 

In einer idealen Welt hätten wir unendlich viel Zeit.

Doch unsere Zeit ist begrenzt. Wenngleich wir – im Gegensatz zu Marcel Proust – trotz des Lockdowns dank Internet nicht in vollkommener und abgedunkelter Abgeschiedenheit leben, weil wir digital miteinander kommunizieren können: Ist dies nicht eine einmalige historische Gelegenheit, uns als Gesellschaft in unsere Erinnerungen und Tiefen unserer Seelen zu begeben?

Wir wollen viel und schaffen wenig von dem, was uns wichtig ist.

Wir sollten Prioritäten setzen und entscheiden, womit wir unsere Zeit füllen wollen. Was zählt wirklich? Mit welchen Gedanken, Worten und Taten wollen wir die uns gegebene Zeit füllen?  Ein Blick auf die Dinge, die andere Menschen am Ende ihres Lebens bereuen, kann lehrreich sein. Die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware erfuhr in ihren Gesprächen mit Sterbenden stets dasselbe Bedauern und dieselben Vorwürfe:

Darüber, nicht das Leben gelebt zu haben, welches sie sich gewünscht hatten. Reue angesichts der Entscheidungen, welche getroffen oder nicht getroffen wurden. Selbstvorwürfe, weil die Erkenntnis erst kam, als es bereits zu spät war. Nutzen wir also den Stillstand unserer Tage, um mehr über unsere wahrhaftigen Wünsche herauszufinden. So, dass wir unsere Zeit entsprechend unserer seelischen Bedürfnisse und nicht möglichst effizient verbringen können.

Wie nehmen wir überhaupt Zeit wahr?

Wissenschaftler haben sich lange darüber gewundert, dass wir zwar mit Sensoren für warm und kalt, für Farben, Geschmack und Geruch ausgestattet sind, aber für die Zeit keinen Sinn haben. Sie suchten überall nach einem Organ, welches die Zeit misst. Aber nirgendwo im Körper ließ es sich finden. Auf der Suche hatten Forscher kurioseste Ideen. Sie suchten nach der Zentraluhr des Menschen, dem „Zeittier“ in uns. Der Wiener Physiker Ernst Mach vermutete beispielsweise ein biologisches Chronometer in unseren Ohren. Wilhelm Wundt, der die Methode der „Introspektion“ entwickelte, bei der man sich selbst beim Denken und Fühlen beobachtet, gründete das erste psychologische Labor der Geschichte, in welchem eine Maschine zur Erforschung des Zeitgefühls stand.

Heute ist die Hirnforschung zwar noch nicht in alle Tiefen dieses Gebietes vorgedrungen, aber man weiß zumindest, dass die innere Uhr von den verschiedenen Arealen unseres Gehirns im Kontext mit unserer Umwelt tickt. Unser Innere Uhr misst, wo wir sind und was wir dabei machen.

Unsere Zeit ist Bewegung und Raum.

Unser Gehirn misst die Zeit, indem es beobachtet, wie sich unser Körper im Raum bewegt. Der Sozialpsychologe Robert Levine hat die Unterschiede im Hinblick in der Wahrnehmung von Zeit (Raum und Bewegung) untersucht und fand heraus, dass die Bewohner von Millionenstädten wie Tokio oder München sich viel schneller bewegen, reden und reagieren als griechische Bauern – doppelt so schnell. Die enge Verbindung zwischen dem Zeitempfinden und der Art, wie wir uns bewegen, ist im Tai Chi lange bekannt. Der Meister Yang Chengfu gab seine Erkenntnis jedem Schüler mit auf den Weg: „Suche die Ruhe in der Bewegung und die Bewegung in der Ruhe.“ Das kleine Covid-19 verordnet allen Menschen auf der Welt Ruhe. Kann daraus eine Bewegung entstehen?

Können wir in der Pandemie finden, was wirklich zählt?

Jenseits der Stechuhr und dem Hektik des Alltags, in welchem der Sinn unseres Lebens nur allzugerne verblasst? Möglicherweise finden wir tief uns jene Erkenntnisse, welche uns helfen werden, unsere Welt und unseren Alltag von Morgen – nach dem Lockdown anders – neu und besser zu formen?

 

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Kommentare

2 comments on “Warten: Corona Lockdown für mehr Lebenssinn?”
  1. Angela Smets sagt:

    Das ist ein ganz wunderbarer Artikel, viele tolle Aspekte!

    1. Susanne Gold sagt:

      🙄😍 Dankeschön

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