Auf dem Weg in das industrielle Zeitalter schien die Welt aus den Fugen geraten zu sein: „Gott ist tot!“- verkündete Friedrich Nietzsche im Jahr 1883.
Die Hölle in den Städten
Mit der beginnenden Industrialisierung verließen Millionen von Menschen ihre Dörfer und beendeten ihre Traditionen, um in die Städte zu ziehen. Dorthin, wo große Fabriken und Mietskasernen in gigantischem Ausmaß entstanden. Obgleich ihr Lohn gering war, arbeiteten sie zwischen Lärm und Hitze, in der Hoffnung auf ein besseres Leben bei Tag und bei Nacht, atmeten Staub und spuckten Blut.
Die Tristesse ihrer engen Wohnungen, in welcher Gewalt, Krankheit und Tod Dauergast waren, betäubten sie gerne mit Alkohol. Während sie bettelarm blieben, erfreuten sich die Fabrikanten ihres rasant wachsenden Reichtums. War das Gerechtigkeit? Konnte das Gottes Wille sein?
Wenngleich kirchliche Vertreter, beispielsweise Papst Leo XIII mit seinem Rerum Novarum von 1891, für einen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital eintraten – geschah dieser Ausgleich nicht wirklich: Bis heute! Religion und traditioneller Gottesglaube schienen zunehmend ein Relikt aus der Vergangenheit, welches ausgedient hatte: Wirklich?
Eine gemeinsame Geschichte über und für die Welt
Vor der Industrialisierung regelten Religionen Familienleben, gesellschaftliche Ordnung, sicherten Machtverhältnisse und gaben den Menschen einen übergeordneten Sinn. Dabei basierte der kollektive Glaube immer auf gemeinsamen Geschichten, die halfen, die Welt zu verstehen. Der gemeinsame Glaube an ein übergeordnetes Narrativ führte dazu, dass Gesetze befolgt wurden und Menschen miteinander kooperierten. Zahlreiche Errungenschaften der modernen Welt gehen auf das Christentum und den Islam zurück. Letztlich ist die Zivilisation, in der wir heute leben, mit all ihren Schulen, Krankenhäusern und Brücken, aus dem kollektiven Glauben an eine höhere Kraft entstanden.
Bruch in der Geschichte – und im Glauben
Die erste Industrialisierung zerstörte das Bild der geordneten Arbeit in einer von Gott geordneten Welt. In religiösem Sinne erinnert uns Arbeit daran, dass das Paradies verloren ist und der Schweiß im Angesicht zum Los des Menschen gehört. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ heißt es beim Apostel Paulus – und es ist ganz sicher kein Zufall, dass sich der gleiche Satz auch bei Karl Marx findet: Arbeit ordnet die Gemeinschaft – sie ist das Bindeglied zwischen dem himmlischen und dem irdischen Paradies. Es ist die Arbeit, die den Menschen über das Tier erheben soll.
Doch die Verhältnisse der Arbeiter in den ersten industriellen Fabriken spiegelten diese Erhabenheit nicht. Ihr Leben war nicht gut, für die meisten blieben all ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben unerfüllt. Erst später, mit den Arbeitskämpfen der Gewerkschaften, wurde ein Teil des Wohlstandes an die arbeitende Bevölkerung weitergereicht. Hunger, Krankheit und Not verschwanden aus dem Alltag, als Existenzsicherung in die Haushalte einzog. Die Antwort auf die besseren Lebensbedingungen war aber nicht die dankbare Rückkehr zu den organisierten Religionen.
Im Gegenteil: Fortschritt, Wirtschaft, Wissenschaft und Demokratie haben zunehmend eine säkularisierte Welt erschaffen, in der die institutionalisierten Religionen ihre Macht einbüßten. Mit der Verbreitung der naturwissenschaftlichen Grundsätze sank der Einfluss der Kirchen und Religionen nahezu überall auf der Welt zusehends. Religiöse Erklärungen dafür, wie die Welt und ihre Bewohner entstanden sind, wurden durch wissenschaftliche Ansätze verdrängt. Organisierter Glaube wurde in Wohlstandsregionen häufig zu einem Auslaufmodell.
Unsere Welt – ein gottloser Ort?
Einer der treibenden Kräfte für den Wandel der vergangenen Jahre war der Individualismus, der durch neue Technologien beschleunigt wurde. Wir sind angekommen in einer Zeit, die global, rastlos und entwurzelt zu sein scheint: Frei zu glauben, was immer wir wollen, zumindest dann, wenn wir eine unsichtbare Grenze nicht überschreiten. Es gibt viele Debatten darüber, welche Richtung der Kapitalismus künftig nehmen wird.
Möglicherweise ist es genau die demokratische Freiheit und die Suche nach dem individuellen Glück, welche zahlreiche Probleme schafft. Im ungehemmten Kapitalismus leidet die Gemeinschaft und es profitiert das Anspruchsdenken des einzelnen. Produkte und Erfahrungen, die früher begrenzt waren, sind heute für jeden verfügbar geworden.
Der breite Wohlstand, der die Massen erreichte, ist zum Feind traditioneller Religionen geworden: Die neugewonnene Kaufkraft der Menschen machte es möglich, sich sofortigen Komfort und sinnlichen Genuss zu erwerben. Tiefe Gedanken über den Sinn des Lebens wurden schon häufig in einem ekstatischen Konsumrausch erstickt.
Welchen Platz hat der Glaube in einer Welt individueller Marotten und Wünsche?
An die Stelle von Gottesfurcht trat in den industrialisierten Gesellschaften religiöser Eifer – ganz ohne Religion: Dieser offenbarte sich in einer Fülle von neuen Sekten, Starkulten, Konsumjüngern, in einer Renaissance des Aberglaubens, Astrologie oder persönlichen Glaubenssätzen – gleich einer maßgeschneiderten Kirche – speziell auf die Wünsche des jeweiligen Konsumenten zugeschnitten. So erlebten beispielsweise die paganen Religionen, wie die indigenen der Asatru und Kelten, Schamanismus, slawisches Heidentum, Hexen, Wicca und Druiden ihre Renaissance. Es entstand in der industriellen Welt ein Nebeneinander von Wissenschaft, institutionalisierten Religionen und Aberglauben, wie wir es heute kennen.
Glaube – nichts weiter als Sehnsucht?
Alle Orte des Glaubens haben einen gemeinsamen Nenner: Sie bedienen die unbändige Sehnsucht der Menschen nach Magie. Mit dem industriellen Zeitalter wurde die Frage nach einem Glauben immer öfter mit individueller Weltanschauung beantwortet. Ein höherer Sinn wurde nicht länger durch die Gesellschaft vorgegeben, sondern durch denjenigen, der ihn suchte.
Trotz allen Fortschrittes haben die Menschen nicht aufgehört, sich nach einem Versprechen auf eine Zukunft zu sehnen, nach einem höheren Sinn. Wir alle sehnen uns nach einer Verbindung und einem Zusammenhang. Die meisten von uns wünschen sich zumindest eine Ahnung davon, einer Realität anzugehören, die größer ist, als wir selbst.
Ob in der Stille der Meditation, des Gebetes, Tanz, Gesang oder der Liebe – Wir alle wollen trinken – von der einen unendlichen Quelle, die beständig sprudeln wird – unabhängig davon, welche Richtung der Fluss unseres Lebens nehmen wird.
Möglicherweise starb die organisierte Religion am Fließband des Kapitalismus, doch die Sehnsucht der Menschen nach der Quelle allen Lebens scheint unsterblich zu sein.
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