Titelfoto Vivian Haddad/ Interview Susanne Gold
Professor Gerald Hüther ist Neurobiologe und zählt zu den bekanntesten Hirnforschern im deutschsprachigen Raum. Er ist Autor zahlreicher (populär-) wissenschaftlicher Publikationen und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung.
Lieber Herr Professsor Hüther, in unserem vorangegangen Gesprächen thematisierten wir Hate-Speech, Glück in digitaler Zeit und kindliche Entwicklung.
In allen unseren Gesprächen schwingt Ihre Forderung nach Würde mit, welches auch der Titel eines ihrer Bücher ist. Sie fordern darin eine kollektive Rückbesinnung auf die Würde, um als (digitale) Gesellschaft stark zu sein und in komplexer Zeit Orientierung zu finden.
Würde ist jener innere Kompass, den alle Menschen brauchen, um als Gesellschaft zu bestehen. Im Sinne von Adorno und Horkheimer und deren Studien zum autoritären Charakter verstehe ich ihren Ansatz gleichzeitig als Forderung nach Autonomie und der Abkehr von autoritären Stukuturen.
Wie können wir zu würdigen und autonomen Charakteren werden?
Kann das unser Schulsystem leisten?
Die Schulen unserer Zeit können den Schülern derzeit nicht das Modell eines autonomen Sozialcharakters vermitteln. Darum wäre es gut, wenn man diesen diese Aufgaben gar nicht erst zuweist. Bleibt die Frage, wer kann das leisten? Gut möglich, dass das ein Erwachsener gut kann, der beispielsweise den Feuerwehrverein für die Kinder und Jugendlichen leitet.
Und es wäre natürlich schön, wenn es auch die Eltern könnten. Eltern müssten sich bewusst machen, dass jedes Kind eine große Sehnsucht danach hat, von anderen anerkannt zu werden und so wie es ist, richtig sein will. Dass es sich nicht verbiegen und seine Bedürfnisse unterdrücken muss, um die Anerkennung anderer zu bekommen.
Eigentlich geht es um bedingungslose Liebe!
Wenn ich als Kind die Erfahrung gemacht habe, dass ich wertvoll bin, und zwar um meiner selbst Willen, nicht aufgrund meiner Leistung, dann habe ich eine Vorstellung über meinen Wert. Das hat viel mit Würde zu tun. Dann bin und darf ich Subjekt sein und stelle mich anderen auch nicht mehr als Objekt zur Verfügung. Also auch nicht auf Amazon, Google und Facebook, sondern sorge dafür, dass meine Würde immer gewahrt bleibt. Ein solcher Mensch macht sich nicht zum Objekt und macht auch niemand anderen zu einem.
Dann passiert das Interessanteste und vielleicht auch das Dringendste, was in unserer Zeit passieren sollte, nämlich, dass wir nicht länger verführbar sind. Wir müssen unseren heranwachsenden Kindern und Jugendlichen helfen, in eine Position zu kommen, aus der heraus sie nicht mehr verführbar sind.
Um bei Adorno zu bleiben, alle Herrschaftssysteme haben bisher mit Unterdrückung gearbeitet.
Die neuen Herrschaftssysteme haben längst erkannt, dass Unterdrückung ein ungeeignetes Mittel ist. Darum arbeiten diese heute mit Verführung. Wer unterdrückt wird, bleibt zumindest noch gestaltendes Subjekt und kann sich wehren. Unterdrückte können sich zusammenschließen, eine Partei gründen oder einen Aufstand in Gang bringen. Verführte können das alles nicht mehr. Verführte haben in gewisser Weise das Gefühl für ihre eigene Subjekthaftigkeit verloren. Wenn man Verführten sagt, dass sie verführt wurden, dann werden diese es heftig abstreiten. Sie merken gar nicht, was mit ihnen passiert ist, und dass sie sich als Objekte für ihre Verführer zur Verfügung stellen.
Die beliebteste Verführungsstrategie ist das Schüren von Angst.
Wenn ich glaube, was man mir erzählt, dann bin ich im Zustand der Angst und mache alles, was mir mein Verführer erzählen. Damit wir das nicht drastisch machen und es nun für die Corona-Diskussion interpretiert wird, nehmen wir als Beispiel Eltern, die ihren Kindern sagen, „wenn du dich nicht in der Schule anstrengst, wird aus dir nichts“. Das ist eine Verführung des Kindes über die Angst. Oder beispielsweise eine Mutter, die ihrem Kind sagt, „du musst dir die Zähne putzen, sonst kriegst du Löcher und schwarze Zähne“. Das Kind wird sich in der Folge nicht die Zähne putzen, weil es ihm guttut, sondern wird ein „Angstputzer“.
Die neue Welt, in die wir unsere Kinder entlassen, muss anders sein.
Ich bin sehr froh, dass es immer mehr junge Eltern gibt, die das zu verstehen beginnen. Wenn wir nicht aufhören, Dinge zu tun, nur weil wir müssen, eingeschüchtert wurden oder weil wir Angst haben, dann kommen wir nicht im 21. Jahrhundert an und werden kollektiv auf diesem Planeten untergehen.
Mehr lesen kannst Du in den neu erschienen Büchern von Professor Gerald Hüther „Wege aus der Angst“ und “Lieblosigkeit macht krank” . Jeder ist aufgerufen sich an der jüngst ins Leben gerufenen Initiative“liebevoll jetzt“ zu beteiligen.