Titelfoto Vivian Haddad/ Interview Susanne Gold
Professor Gerald Hüther ist Neurobiologe und zählt zu den bekanntesten Hirnforschern im deutschsprachigen Raum. Er ist Autor zahlreicher (populär-) wissenschaftlicher Publikationen und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung.
Selten hat eine technische Innovation, wie die des Internets, eine so tiefgreifende Veränderung des kollektiven Zusammenlebens herbeigeführt. Soziale Netzwerke nehmen im Alltäglichen Leben der Menschen eine immer wichtigere Rolle ein. Zum Beispiel greifen Menschen in Krisenzeiten auf die sozialen Netzwerke als Informationsquellen zurück, die sie auch aus Nicht-Krisenzeiten kennen. Wie können Menschen heute, während sie permanent zwischen digitaler und analoger Welt hin- und herpendeln, zu kohärenten Weltanschungen kommen?
Hüther: Kohärenz ist der Zustand, den das Gehirn ständig anstrebt. Das ist offenbar ein Grundgesetz aller in Organisation lebenden Systeme. Wir versuchen immer, unsere Beziehungen so lange zu ordnen, bis ein Zustand erreicht ist, der möglichst wenig Energie verbraucht. Wir streben einen Zustand an, bei dem alles gut zusammenpasst.
Denken, Fühlen und Handeln: Das, was im Kopf passiert, soll gut zu dem passen, was im Körper passiert. Danach müsste jeder in einer Beziehung zu anderen Menschen stehen, die erfüllend ist und froh macht. Darüber hinaus müsste ich auch der Rest der Welt zur eigenen Kultur in einer kohärenten Beziehung stehen, vielleicht sogar zum Kosmos.
Ja, dann würde alles passen. Und da ahnen Sie schon, dass das ein Zustand ist, den es nicht gibt.
Interessanterweise ist jedoch genau dieser Zustand auch in unseren Narrativen, in unseren Märchen und Geschichten, beschrieben. Es ist das Himmelreich, Schlaraffenland oder das Paradies. Das bedeutet, dass wir wohl wissen, dass wir dorthin gelangen wollen. Das ist in der digitalen Welt nicht anders, als in der analogen. Und doch müssen wir uns langsam damit abfinden, dass es diesen Zustand nicht gibt.
Wirklich kohärent ist es im Hirn eben erst dann, wenn wir gestorben sind.
Solange wir leben, ist unser Gehirn immer inkohärent. Das Hirn lernt, immer wieder auftretende Inkohärenzen kohärent zu machen. Das ist eigentlich das Lernen. Es passiert was, wir haben ein Problem und wir finden eine Lösung, unternehmen etwas und sind im Anschluss glücklich darüber, dass es wieder besser passt als vorher.
Wie könnte man als Gesellschaft dazu kommen, Widersprüche auszuhalten?
Hüther: Wenn man erst einmal verstanden hat, dass es keine fortwährend kohärenten Zustände gibt, dann geht es im Leben nicht länger darum, den Zustand von Kohärenz zu erreichen, den alle wollen. Dann geht es darum, im Leben jemand zu werden der, was immer auch kommen mag, immer wieder eine gute und passende Lösungen findet.
Ein Mensch mit einem „Kohärenzwiederherstellungskompetenzgefühl“. In unserer deutschen Sprache haben wir dafür Begriffe wie Glück, Zufriedenheit, Weltoffenheit, also Offenheit aber auch Lebensfreude und Gesundheit sind an diesen Zustand gekoppelt. „Kohärenzwiederherstellungskompetenzgefühl“ ist also ein zentraler Begriff. Aber die Tatsache, dass ich dafür so ein komisches Wort verwenden muss, macht uns vielleicht deutlich, dass wir bisher noch auf einer Bewusstseinsstufe stehen, in welcher wir nicht einmal ein brauchbares Wort für das gefunden haben, worauf es im Leben ankommt.
Um Ihre Frage zu beantworten: Menschen müssten froh darüber sein, dass es Widersprüche gibt und sich freuen, dass immer wieder Krisen und ständig neue Probleme gibt, denn nur an Problemen können wir Menschen wirklich wachsen.
Weshalb wir uns aber meistens nicht darüber freuen, ist die unangenehme Erfahrung, die wir alle gemacht haben, nämlich, dass wir mit Problemen konfrontiert wurden, die für uns als Einzelne nicht lösbar waren. Das geht leider früh in der Kindheit los. Ein Kind sollte beispielsweise mit Eltern großgeworden sein, die ihm möglichst viele lösbare Probleme bereitet haben.
Statt dem Kind Steine aus dem Weg zu räumen, sollten die Eltern welche in den Weg legen. Aber bitte nur solche, die die Kinder auch selbst beiseite tragen können.
Die meisten Menschen machen diese Erfahrung bereits im Elternhaus
Unlösbar für ein Kind sind Probleme, die seine Eltern haben und noch schlimmer ist es, wenn Eltern ihre Kinder zu Objekten ihrer eigenen Erwartungen, Belehrungen, Bewertungen und Massnahmen machen. Ich frage auf meinen Veranstaltungen jeweils, wo den Teilnehmern erstmals Gehorsam verordnet wurde. Die häufigste Antwort lautet – schon im Elternhaus. Das stärkste, was da verletzt worden ist, ist das Bedürfnis nach Verbundenheit.
Darum gibt es so viele Menschen, die ihr Bedürfnis nach Verbundenheit unterdrücken und zu unterdrücken gelernt haben.
Leider sind unsere digitalen Geräte die ersten Werkzeuge, wir zur Affektregulation erfunden haben. Affektregulation heißt, ein ungestilltes Bedürfnis, wie Langeweile, Unruhe, Wut, Ärger, vielleicht auch das Bedürfnis nach Verbundenheit und Nähe, oder das schöne Bedürfnis, mal richtig zeigen zu können, was ich draufhabe, zu beruhigen. Dies passiert bei Erwachsenen leider auch häufig, um das Bedürfnis nach sexueller Erleichterung zu stillen.
Deshalb werden digitale Geräte vermutlich zu etwa 90 Prozent als Instrumente zur Affektregulation benutzt, nicht nur von den Kindern, auch von den Erwachsenen, statt als Werkzeuge. Wir müssen lernen, digitalen Geräte als Werkzeuge zu begreifen und nicht als Mittel der Affektregulation und Bedürfnisbefriedigung.
Darin sehe ich den Ausweg aus dem digitalen Dilemma unserer Gesellschaft.
Erfahre mehr in dem neuen Buch von Professor Gerald Hüther „Wege aus der Angst„.