Utopie auf einem Chip – Die Welt in hundert Jahren

Illustration Susanne Gold/ Text Arthur Pease

Zum Gedenken an den 2.500. Jahrestag des Baus der Akropolis haben die Regierungen die Planung und Erprobung einer zukünftigen Stadt in der virtuellen Welt in Auftrag gegeben: Einer Stadt, die auf den demokratischen Prinzipien, menschlichen Dimensionen und der klassischen Architektur des antiken Athens basiert. Lange bevor die Stadt in der physischen Welt gebaut wird, besuchen die zukünftigen Bewohner die Stadt mit Hilfe von Virtual Reality Systemen – darunter auch Studenten in einem offenen Online-Kurs, die eine Energiesparhypothese testen wollen.

Eine virtuelle Stadt bringt uralte Modelle des städtischen Lebens in die Zukunft und wird zu einem Lernzentrum für Studenten, die die perfekte städtische Umgebung schaffen wollen.

Sie nimmt langsam Gestalt an“, sagte ich zu Solon, als wir über die Agora blickten. In der Ferne erstreckte sich hinter einem eindrucksvollen Säulengang die virtuelle Stadt.

Solon und ich – mein Name ist Ligeia – leiten den Bereich Integrierte Systemarchitektur. Natürlich sind auch Hunderte andere Fachleute am Projekt beteiligt – Historiker, Soziologen, Technologie-Experten aus Unternehmen und Universitäten rund um den Globus.

Wir treffen uns seit Monaten über vernetzte „Deep-Immersion“-Systeme in der virtuellen Welt. Sie vermitteln ein so echtes Gefühl, dass einige von uns – auch Solon und ich – bereits antike griechische Gewänder tragen.

Physisch haben sich die meisten von uns nie getroffen. Wir wurden alle von der griechischen Regierung und anderen EU-Partnern ausgewählt, eine virtuelle Stadt zu entwerfen, umzusetzen und zu optimieren, die sich auf die demokratischen Prinzipien, das Leben und die Architektur des antiken Athen gründet. Die neue Stadt soll an das 2.500ste Jubiläum des Baus der Akropolis 438 v. Chr. erinnern und Aristopolis heißen.

Diese virtuelle Stadt ist eine voll funktionsfähige Simulation mit integrierter energie- und ressourcenoptimierter Infrastruktur: Von der Wasser-, Gas- und Stromversorgung bis zu allgegenwärtigen Kommunikationseinrichtungen; von unterirdischen lichtdurchfluteten Hydrokultur-Gärten bis zu vernetzten Verkehrssystemen und einem vorausschauenden, stark auf Prävention setzenden Gesundheitswesen.

Kurz: eine ganze Stadt auf dem Chip.

Es wurde bereits ein Gelände an der griechischen Küste für die reale Stadt reserviert und die unterirdische Infrastruktur – vom Verkehrsnetz bis zur Entsalzungsanlage – installiert. Bevor die ebenerdigen Bauarbeiten beginnen, ist es nun an den Auftragnehmern, die städtischen Einrichtungen, Wohn- und Gewerbegebäude sowie die überirdische Infrastruktur virtuell aufzubauen, zu testen und zu optimieren. Rund 7.000 virtuelle Wohneinheiten wurden bereits realisiert.

Auch die künftigen Bewohner können über Deep-Immersion-Systeme die Stadt zu Fuß oder per Elektrogleiter erkunden, die Bäcker, Fleischer und die Versammlungshallen besuchen, sich mit der vergessenen Kunst der persönlichen Begegnung vertraut machen, ihr künftiges Zuhause probeweise einrichten und Hausgeräte erwerben, die dann automatisch in die CO2-neutralen Energiemanagementsysteme integriert werden.

Das Potenzial von Aristopolis als Testlabor für Stadtentwicklung ist fast grenzenlos. Schon vor der Eröffnung wird es als Versuchsumgebung für „Massive Open Online Courses“ genutzt. Heute morgen hat eine Computerklasse mit Schülern aus aller Welt einen Algorithmus eingereicht. Über die Deep-Immersion-Systeme ihrer Schulen trafen wir uns mit zwei Vertretern der Klasse aus Dubai und Baku auf der Agora. Virtuell, natürlich.

„Mal sehen, was sie vorhaben“, sagte ich zu Solon und zog einen bleistiftdünnen Scroll Viewer aus meinem Armhalfter. Nach dem Ausrollen und einem kurzen Sicherheitscheck erschienen die Gesichter der Schüler.

Sie erklärten uns, dass ihr Algorithmus die Energiemenge vorhersagen kann, die eine Stadt bei Heizung und Kühlung einspart, wenn für das Straßenpflaster ein Material verwendet wird, das seine Farbe und damit die Wärmeabsorption je nach Umgebungstemperatur und Jahreszeit ändert. „Wir haben die führenden Produkte analysiert“, sagte derjenige, der sich als Faruq identifiziert hatte. „Jetzt möchten wir unsere Auswahl hier testen.“

„Hört sich super an“, sagte ich. „Aber ist das Produkt auch robust genug, um jahrzehntelange Beanspruchung zu überstehen?“ „Wir sehen da kein Problem“, antwortete der junge Mann selbstbewusst. „Es ist eine mikroverkapselte Polymerlösung, die ihre Farbe anpassen kann. Sie ist abnutzungsfest und kann mit üblichen Verfahren einfach auf die meis- ten Oberflächen gesprüht werden.“

„Und der Preis?“, fragte ich. „Da muss man die Lebenszykluskosten betrachten, also mitsamt der Energieeinsparung“, antwortete Wahib, der andere Student, wie aus der Pistole geschossen. „Mit Ihrer Erlaubnis würden wir unseren Algorithmus gern in die Intelligence Platform der Stadt laden und den Test beginnen.“

„Die beiden sind gut vorbereitet“, sagte ich zu Solon, während ich unser „3D Virtual City Control Center (VC3)“-Panel auf dem Viewer aufrief.

Das Panel erzeugte eine Art Steuer-Cockpit für die Stadtinfrastruktur. Ich berührte den Begriff „Straßen und Plätze“. Zugleich erschien ein Symbol für den neuen Algorithmus auf dem Viewer. Ich zog das Symbol auf das „Straßen“-Icon.

Im Zeitraffer wechselten die Straßen auf dem Monitor von dunkel zu hell und wieder zurück – wie das Pflaster unter uns, denn auch wir befanden uns in der virtuellen Welt.

„Der Algorithmus geht davon aus, dass die Polymerlösung auf alle gepflasterten Oberflächen aufgesprüht wird, die mindestens zehn Prozent des Jahres direktem Sonnenlicht ausgesetzt sind“, erklärte Wahib. „Dafür misst er den Winkel der Sonneneinstrahlung für jeden Quadratmeter und kalkuliert die Verschattung durch die Gebäude. Dann berechnet er die Temperaturdifferenz zwischen der statischen und der dynamischen Testoberfläche, übersetzt dies in abgestrahlte Energie und schätzt die Energiemenge, die eingespart werden kann, während eine angenehme Temperatur beibehalten wird.“

„Rechnet Ihr Programm die Beleuchtung mit ein?“, fragte Solon. „Denn in einer Winternacht hätte man nicht gern dunkles Pflaster.

Dann bräuchte man mehr Energie für die Beleuchtung.“ „Das möchten wir mit den Polymerlösungsherstellern untersuchen“, sagte Faruq. „Vielleicht kann man noch eine photochrome Schicht einbringen. Das Pflaster wäre dann wie eine Sonnenbrille, die mit nachlassendem Licht transparenter wird. Nachts hätte es wieder seine weiße Ursprungsfarbe.“

„Es gibt noch einen Vorteil“, sagte Wahib. „Da die Bürgersteige sich durch die ganze Stadt ziehen und die Schicht leitfähige Kohlenstoffnanomaterialien enthält, könnte man ein riesiges Informationsnetz realisieren. Es könnte nach einer kurzen Lernphase Bewegungsmuster erkennen, in Echtzeit. Daraus könnte in Verbindung mit dem VC3 eine Demokratie ,per Fußabstimmung‘ werden: Firmen und Behörden hätten dann alle nötigen Informationen, um ihre Dienstleistungen dort anzubieten, wo sich die Menschen auch tatsächlich befinden. Wäre das nicht der Gedanke der griechischen Agora in moderner Ausprägung?“

 

 

 

 

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