Jahrelang kannte man sich. Dann der Schock: Nichts mehr, wie es war. Wie konnte das passieren? Kann man sich so irren?
Er ist nach Hause gekommen. Ein Tag, zunächst wie viele Tage in den vergangenen dreißig Jahren. Sie haben eine Werkstatt, ein schönes Haus und drei volljährige Söhne
zusammen. Vertrauter Alltag, vertraute Welt und vor allem – vertrauter Partner. Sie waren zusammen jung gewesen, kannten sich schon seit der Schulzeit. Von Freunden wurden sie um ihre innige Bindung beneidet. Jetzt waren sie zusammen in der Mitte Ihres Lebens angekommen.
Der innere Blick wendet sich bereits dem Alter zu. Häufig träumte sie davon, mit ihm noch einmal etwas Neues zu beginnen. Vielleicht an einem Ort, an dem sie ihr gemeinsames Hobby – das Segeln – öfter ausüben können. Dem Leben noch ein letztes Mal ein neues Kapitel schreiben.
Sie mochten die gleichen Dinge, dachten die gleichen Gedanken.
Für andere Menschen waren sie eine Einheit. Nicht nur das Segeln verband sie. Oft hatte der andere den Gedanken des anderen als erster ausgesprochen. Sie haben sich gegenseitig begleitet – durch alle Phasen ihres Lebens: Abitur, Geburt der Kinder, Tod der Eltern, finanzielle Nöte und berufliche Erfolge. Auch gesundheitliche Probleme haben sie zusammen überstanden.
Vor ein paar Jahren hatte er einen leichten Schlaganfall gehabt.
Aus dieser Erfahrung haben sie beide gelernt. Seit dem haben sie sich nicht mehr übernommen. Haben begonnen, weniger zu arbeiten. Sind gemeinsam alles etwas ruhiger angegangen. Da waren noch viele Wünsche für die letzten Jahre.
Der Satz, der alles aus den Fugen bringt. Eine Welt zerbricht.
“Ich habe mich verliebt und ziehe aus.” sagte er. Einfach so.
Ganz ohne Lautstärke, ohne Vehemenz, ohne Drama und vor allem – ohne Bedauern in
der Stimme.
Zunächst glaubte sie an einen eigentümlichen Scherz. Dann sah sie
ihm ins Gesicht und sah etwas, dass sie nicht kannte. Einen Blick, einen
fremden Ausdruck. Noch nie hatte er sie so angesehen.
Sie glaubte, einem Fremden gegenüber zu stehen. Es war ihm ernst – das zumindest konnte sie erkennen. Während sie zu zittern begann, blieb er ruhig. Fast entspannt wirkte er, als er entschlossen seine Koffer packte.
Taten folgten unmittelbar. Er zog aus.
Zu seiner Freundin ging er mit einem Koffer, noch am selben Abend. Wie sie etwas später erfuhr, ist sie 28 Jahre jünger. Sehr jung also, sehr fruchtbar und – im vierten Monat schwanger. Von ihm – ihrem Mann.
Alles haben sie zusammen gemacht. Jahrzehntelang vertraut Seite an Seite. Jetzt
wird er eine neue Familie haben. Er hat etwas Neues begonnen und sie? Sie hat
es nicht einmal bemerkt. Dachte, er trifft sich mit Freunden, ist beim
Kartenspielen oder im Schützenverein.
Zunächst empfand sie nur vollkommene Fassungslosigkeit und besonders: Leere! Viel Nichts das in jedem Moment einem verzweifelten Schmerz wich. Bald blieb von der Leere und dem Nichts nichts übrig – außer Verzweiflung und Schmerz.
Wie konnte sie sich so irren? Wie konnte sie nichts bemerken? Hatte sie jahrelang neben ihm gelebt und ihn eigentlich nicht gekannt? Immer wieder hämmerten diese Fragen – gepaart mit Erinnerungen – in ihrem Kopf. Hat sie sich so sehr in ihm irren können? Was war noch wahr?
Vorurteile strukturieren unsere Welt
Misstrauen gegenüber einem Fremden ist ein Vorurteil. Vertrauen einem Vertrauten gegenüber ebenso. Eigentlich kennen wir nichts, von dem, was uns umgibt. Wir kennen weder den fremden noch den vertrauten Menschen. Es kommt noch schlimmer: Wir kennen nicht einmal uns selbst. Der größte Teil von uns ist uns verborgen: Unser Unterbewusstsein!
Wir brauchen Vorurteile, um uns in der Welt bewegen zu können: Ich bin ich und kenne mich. Ein Bäcker verkauft Brötchen. Der Autofahrer wird nicht nach links wechseln, während ich ihn auf der Autobahn überhole. Für ein Kind sorgt man und es wird es danken. Ein Fremder könnte gefährlich sein. Ein Ehemann ist vertraut. Eltern meinen es gut. Arbeit wird bezahlt. Unsere Welt ist von Erwartungen und Vorurteilen.
Ein Vorurteil hat einen Preis: Die Wahrscheinlichkeit des Irrtums
Jede Enttäuschung ist die Folge einer falschen Erwartung, sagt ein jüdisches Sprichwort. Was können wir tun? Wie können wir uns vor Enttäuschungen schützen? Die schlechte Nachricht ist, dass wir es nicht können. Wir brauchen unsere Erwartungen und – wir können sie der Welt anpassen – aber nicht die Welt an unsere Erwartungen. Ohne Erwartungen können wir uns nicht bewegen. Wir könnten nicht mehr aus dem Haus gehen, wenn wir nicht erwarten können, dass die Welt dort draußen dieselbe wie gestern ist.
Wir brauchen unsere Vorurteile, um zu leben. Mit ihnen strukturieren wir unsere Welt, um uns in ihr bewegen zu können. Die Welt bleibt dennoch ein Universum für sich, das sich von einem auf den anderen Moment komplett ändern kann.
Sozialpsychologen sprechen von der „Fragilität der Realität“ – d.h. die Realität ist nicht sicher. Sie ist zerbrechlich. Aus ihren Scherben bildet sich ein neuer Zusammenhang,
eine neue – eine andere Realität. So wird aus einer Ehefrau eine verlassene Ehefrau. Der Mensch muss flexibel bleiben, um sich bewegen zu können. Nur der Moment ist sicher. Er wandelt sich nicht.
In jedem Moment ist man sicher.
Hänge an nichts in der Welt. Vom Geist kommen die Dinge und zum Geiste kehren sie zurück, heißt es im Buddhismus. Jeder Mensch ist ein Universum für sich – an Hormonen, Bakterien, Stoffen, Gedanken, Gefühlen und Eindrücken. Wie sollte man ein solches Universum kennen? Mehr noch – seine Konstellation vorhersagen können?
Unmöglich! Wolken sind in dem einem Moment ein festes Bild, wenn wir an den Himmel blicken. So ist es auch mit den Menschen – In jedem Moment sind sie ein Bild zusammengesetzt aus ihren Bestandteilen. Sie können von einem Moment auf den anderen zerfallen und sich in einer völlig neuen Konstellation zusammen setzen.
Doch das Bild, das man im Moment am Himmel sieht, ist sicher. Man kann sich darauf verlassen. Ein Bild, welches man von einem Menschen hat, gleicht den Wolken. Es ist sicher – für diesen einen Moment. Jeder Moment ist es wert, ihm zu vertrauen.
Am Ende kennen wir uns selbst nicht wirklich
Einen anderen Menschen – sein künftiges Verhalten kennen – das ist unmöglich. Mehr noch – sich selbst kennen, ist ein oft unerreichter Wunsch. Wie häufig in unserem Leben sind wir von uns selbst überrascht? Was wissen wir von uns? Wir wissen nicht, woher wir kommen, nicht, warum wir hier sind und auch nicht, wohin wir gehen.
Wir können glauben, nicht aber wissen. Wir sind Mini-Universen in einer unüberschaubaren Unwissenheit und Umgebung – in einem viel größeren Universum. Wir suchen Nähe, ohne sie können wir nicht sein. Geisteswissenschaftler sprechen von „anthroposophischen Konstanten“ – von menschlichen Bedürfnissen, die alle haben.
Das Bedürfnis nach sozialer Nähe gehört dazu. Wir können uns das also letztendlich nicht aussuchen. Unsere gemeinsamen Bedürfnisse, die „anthroposophischen Konstanten“ sind unser kleinster gemeinsamer Nenner.
Wir können nicht anders. Wir müssen vertrauen und die Wahrscheinlichkeit des Irrens akzeptieren.
Niemand möchte alleine sein in der großen Unendlichkeit. Da draußen befindet sich ein Pendant von uns – dort der Kosmos – hier der in uns. Also ziehen wir uns an. Und gleiten Hand in Hand durch die Unwissenheit unserer Herkunft und unseres Ziels.
Das gibt uns Geborgenheit. Wir sind nicht alleine in den unendlichen Weiten der Welt und des Universums. Wir vertrauen oder misstrauen aus einer Annahme heraus. Häufig täuschen wir uns auch nicht.
Wir begleiten uns. Wir reihen sichere Momente aneinander. Jeder neue Versuch, zu vertrauen ist es wert. So navigieren wir uns gegenseitig durch das Universum, auf dem Weg zu unserem Ziel.