Flexibles Leben in der Stadt – die Welt in 100 Jahren

Illustration Susanne Gold, Text Arseniy Pavlenko

Die Farbe hinter meinen Augenlidern wechselten sanft von einem dunklen Braun in ein weiches Orange. Ich blinzelte vorsichtig, öffnete anschließend endgültig meine Augen und richtete mich auf. Das Zimmer aus Sandstein wurde zunehmend heller, stoppte aber an einem Punkt, der mein schläfriges Ich schonte. Es war keine Lichtquelle erkennbar. Jeder der Wände sah aus, als ob sie durch eine Tischlampe an der gegenüberliegenden Seite beleuchtet würde, die jedoch nicht aufzufinden war.

Der Steinboden unter meinen Fußsohlen fühlte sich angenehm rau und , beheizt an. Mein restlicher Körper folgte meinen Schritten und während ich an der Theke, gegenüber von meinem Bett, eine Zitrone aufschnitt und diese in ein Wasserglas presste, betrachtete ich das Zimmer. Beige, fensterlos, türlos.

Meine kleine Höhle

Wie sollte ich sie heute einrichten sollte, überlegte ich, während ich mein zitronenversetztes Wasser auf eine der der mysteriös beleuchteten Wände stellte. Mit meinem Daumen strich ich auf Augenhöhe eine etwa dreißig-Zentimeter-lange, horizontale Linie. Dabei fühlte ich mich jedes Mal wie Rafiki, der Simba tauft. Nach einer kurzen, respektvollen Verzögerung, öffnete sich die Steinwand in einer Art, die wie ein Kompromiss zwischen mechanisch und organisch wirkte.

Die Öffnung hörte auf der X-Achse bei den Enden der angedeuteten Linie auf und nahm für die Y-Achse einfach die gleichen Maße. Ein kleines quadratisches Fenster, mit abgerundeten Ecken und Kanten erschien. Die Sonne fiel in mein Zimmer und das Licht imitierte das frischgeborene Fenster auf dem Fußboden. Ich trat an die Wand, die rechts an die vorherige grenzte und zog erneut eine Linie, dieses Mal jedoch horizontal. Dieselbe kurze Pause verging. Dann öffnete sich erneut die Wand, das Loch war dieses mal etwas größer und breiter als Ich selbst, hatte aber ebenfalls runde Kanten. Ein warmer Wind berührte mich, der in mein Zimmer hinein wehte. Ich trat nach vorn und ohne hinunterzublicken, machte ich mit meinem Fuß eine Bewegung, als würde ich einen feuchten Waschlappen zum Bodenputzen hin und her schieben.

Auch das verstand meine schlaue Höhle. Es bildete sich ein ungefähr Zwei Meter breiter Balkon, der sich rings um die Außenwände bildete.

Im Anschluss betrat ich meine neue Terrasse, setzte mich an ihren Rand und ließ meine Beine baumeln. Es war ein klarer, sommerlicher Tag. Ringsherum blickte ich zu meinen Nachbarn: die Wohnungen in der Siedlung waren kreuz und quer verteilt. Sie hatten in alle erdenklichen Richtungen einen Abstand von etwa 20 bis 50 Metern zum nächsten Apartment. Verbunden waren sie durch jeweils mehrere dünne, steinerne Säulen, die trockenen Ästen glichen, jedoch glücklicherweise deutlich stabiler waren.

Der Wohnungskomplex ähnelte einem monumentalem, neuronalem Netzwerk.

Die Kinder meinten, es schaut aus wie ein großes Klettergerüst. Ich sah, für welche Veränderungen an ihrer Wohnung sich meine Nachbarn entschieden. Wäscheleinen spannten sich wie Spinnennetze, Markisen schoben sich vor und gesamte Apartments dehnten sich aus oder schrumpften. Die Säulen, die die Wohnungen verbanden, lösten sich, um Bewohner vor ihrer Haustür abzuholen und sie behutsam auf dem Boden abzustellen. Menschen, die unten standen, wurden auf dieselbe Weise hochgetragen.

Alles war in ständiger Bewegung.

In meinem Netz aus Wohnungen sollten insgesamt knapp eineinhalb tausend Menschen leben. Ich habe sie nie gezählt und kannte nur einzelne Nachbarn beim Namen. Auf einer oberflächlichen Ebene verstand ich mich mit allen gut.

Fast alle Bewohner der Siedlung trugen gemütliche Kleidung. Zeitlose Schnitte aus hochwertigen Stoffen.

Primär wurden neutrale Töne wie grau, braun, beige oder schwarz bevorzugt. Die Steinstrukturen glitzerten leicht, wenn die Sonnenstrahlen direkt auf sie fielen. Dieses leichte Glitzern ist das einzige, was von den sperrigen Photovoltaikanlagen von früher übrig geblieben ist. Der ganze Komplex wurde ausschließlich von Solarenergie betrieben, die durch die gesamte Oberfläche aufgenommen und gespeichert werden konnte. Die Solarenergie fütterte auch den Algorithmus, der für die Sicherheit und Stabilität des Netzwerks verantwortlich war. Er berechnete in Echtzeit die Veränderungen, die wandelnden Schwerpunkte und die Abstände. Anschließend glich er diese gegebenenfalls mit Gegenmaßnahmen aus.

Die Verwendung von Photovoltaik wurde hervorragend dadurch ergänzt, dass das Wetter mittlerweile manipulierbar war.

In den Siedlungen entschied man sich meistens kollektiv für 24 Grad Celsius mit ganz viel Sonne. Heute waren es sogar 26. Dahingegen sorgte man in den Wäldern und Feldern, die die Wohnkomplexe umgaben, für viel Niederschlag. Trotz der vielen Wohnungen hatte man durch ihre Anordnung genug Sichtweite auf die Forstgebiete drumherum. Ich mochte besonders gerne, wenn man in der Ferne die graue Regenwand sehen, hören und riechen konnte, während man die Sonne genoss.

Unterhalb des Wohnungskomplexes war das Äquivalent einer Innenstadt.

Hier gab es auf einer riesigen Fläche, die mit Kopfstein gepflastert war, allerlei Angebote: Cafés, Restaurants, Märkte, Läden, Schulen, Museen. Statt Werbungen, welche früher die Stadt bunt gefärbt hatten, übernahmen mittlerweile die verschiedensten Pflanzenarten diese Aufgabe. Sie wuchsen auf Dächern, kletterten Fassaden herunter und brachen teilweise sogar das Kopfsteinpflaster durch.

Obwohl das Netz aus Wohnungen die Innenstadt wie eine Kuppel umgab, bekamen die Pflanzen durch die großen Abstände zwischen den Apartments genug Licht.

Ihnen zuliebe ließen wir es auch innerhalb der Siedlung für ein paar Stunden pro Woche regnen. Ich nahm einen großen Schluck vom Wasser, legte mich auf meinen Rücken und ließ die Füße weiterhin hängen. Dabei fühlt ich mich wie ein Ei, dass jemand auf einem Asphalt aufschlug um es zu kochen – als hätte dieser jemand die Temperatur überschätzt und es floss stattdessen Eiweiß und -gelb seelenruhig auseinander. In ein paar Minuten würde ich wieder reingehen und schauen, welche Aufgaben für heute anstehen. Noch kannte ich sie nicht, freute mich auf jede einzelne.

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