Ein Roman von Mira Steffan
Keine drei Schritte von ihr entfernt sah sie einen Mann, der ihr schon im Seminar wegen seiner endlosen Fragerei aufgefallen war.
„Was machen Sie denn hier?“
„Ich bin auf dem Heimweg. Wir sind in derselben Bahn gefahren. Sie haben mich aber nicht gesehen“, sagte er und streckte ihr seine rechte Hand entgegen, „ich heiße Leo Schneider.“
„Charlotte Reimann.“ Als sich ihre Hände berührten, durchrieselte Charlotte ein unangenehmer Schauer. Erstaunt und erschrocken zugleich zog sie ihre Hand zurück. „In welche Richtung müssen Sie gehen?“ Charlotte deutete unbestimmt nach rechts, als es stärker anfing zu regnen. Leo hielt seinen Schirm über sie: „Darf ich Sie begleiten?“ Überrumpelt nickte sie. Schweigend machten sie sich auf den Weg. Zehn Minuten später hatten sie ohne ein Wort zu wechseln ihr Ziel erreicht. Die Situation war Charlotte zutiefst unangenehm. Unentschlossen blieb sie stehen.
„Gute Nacht. Bis morgen“, hörte sie Leos Stimme durch das Prasseln der Regentropfen auf den Schirm. „Bis morgen.“ Sie winkte ihm vage zu und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, zur Haustür. Hastig schloss sie die Tür auf und warf sie erleichtert ins Schloss. Auf Zehenspitzen schlich sie an das Fenster neben der Haustür. Vorsichtig schob sie die Gardine zur Seite. Die dunkle Straße wurde von zwei Laternen erhellt, die sich in den Pfützen spiegelten. Niemand war zu sehen, alles war still. Schnell drückte sie auf den Knopf der elektrischen Rollade. Eine komische Begegnung. Sie mochte ihn nicht. Dieser Leo Schneider hatte etwas Unangenehmes an sich. Charlotte fühlte in sich hinein, konnte dieses Unangenehme aber nicht weiter benennen. Vielleicht weil sie zu müde war. Gähnend erklomm sie die Treppe ins obere Stockwerk. Im Schlafzimmer warf sie ihre Klamotten auf den Sessel neben dem Bett, holte ein Handtuch aus dem Schrank, rubbelte ihre Füße und Haare trocken, schlüpfte in einen Flanell- Schlafanzug, ließ sich, eingewickelt in ihr Plumeau, auf das Bett fallen und schlief sofort ein.
Neue Gesetze, Urteile und Vorschriften, Bilanzierung, Finanzmanagement und Kommunikation – Charlotte schwirrte der Kopf. Andererseits war es ein befriedigendes Gefühl, ihren Verstand wieder zu gebrauchen. Es machte ihr Spaß, für knifflige Sachverhalte eine Lösung zu finden. Und zu ihrem Erstaunen hatte sie nichts verlernt.
Zu Leo Schneider hielt sie Abstand. Wenn sie ihn in den Pausen auf sich zukommen sah, wich sie ihm aus. Im Seminarraum saß er in der hintersten Reihe, Charlotte in der zweiten. Und mit der Bahn fuhr sie nicht mehr. Sie hatte mit einer anderen Teilnehmerin, die im selben Stadtteil wohnte, eine Fahrgemeinschaft gebildet. Als das Seminar nach zwei Wochen beendet war, fühlte sich Charlotte zwar ausgelaugt, aber zufrieden. Sie freute sich auf das Wochenende und beschloss, am Samstag auszuschlafen. Und sie freute sich auf den Sonntag, wenn Justus und Emma wieder nach Hause kamen. Ja wirklich, dachte sie beschwingt, ich kann es kaum abwarten, sie wiederzusehen.
Mit geschlossenen Augen tastete Charlotte nach ihrem vibrierenden Smartphone. Wie spät war es? In ihrem Kopf pochte es dumpf. Mühsam öffnete sie die Augen. Das Display ihres Weckers zeigt 8 Uhr an. Sie schaute auf das Smartphone. Emma. Charlotte räusperte sich, um ihre Stimme zu finden und meldete sich betont munter: „Guten Morgen Süße.“
„Hallo Mama“, Emmas klare, hohe Mädchenstimme drang an ihr Ohr. „Geht es euch gut?“
„Ja, Papa und ich wollen gleich an den Strand und eine große Burg bauen.“ „Das hört sich toll an.“
„Danach gehen wir schwimmen, und heute Nachmittag mieten wir ein Tretboot.“ Während Emma ihr von den Muscheln vorschwärmte, die sie gefunden hatte, lehnte sie sich gegen das Kopfende des Bettes und schloss ihre Augen. Gedanken wirbelten hinter ihrer Stirn wie ein buntes Kaleidoskop. Warum war sie doch gleich nochmal zu Hause geblieben, anstatt mit ihrer kleinen Familie Urlaub zu machen? Das Seminar war genau richtig für sie gewesen. Sie sehnte sich nach Justus und Emma. Das Osterfest alleine zu verbringen, war keine gute Idee gewesen.
„Mama, ich muss jetzt los. Papa ruft mich. Ich freue mich auf morgen, wenn ich wieder bei dir zu Hause bin.“ Charlotte schüttelte ihre Überlegungen ab wie ein nasser Hund seine Feuchtigkeit und konzentrierte sich auf Emma. Sie schickte ihr Küsse durch das Telefon, erwiderte, dass sie sich auch freuen würde und wünschte beiden eine gute Zeit und schwang sich aus dem Bett, erledigte ihre Körperhygiene, frühstückte und setzte sich an den Schreibtisch. Nachdenklich blätterte sie ihre Zeugnisse und alten Bewerbungsunterlagen durch. Sie hatte ganz vergessen, was sie alles gemacht hatte. Abitur mit 1,4, Studium in Rekordzeit, Leitung verschiedener Projekte, Abteilungsleitung, Vorstand. Ob sie das noch konnte? Zum achten Mal las sie die Stellenanzeigen verschiedener Unternehmen durch. Sie dachte an den gestrigen, letzten Tag und den Vortrag über Bewerbungsstrategien. Sie musste und wollte endlich den Hintern hoch kriegen. Sie brauchte dringend eine Veränderung. Sie fischte aus ihren Unterlagen ihren Lebenslauf hervor, ergänzte ihn, verfasste ein Anschreiben und speicherte alles auf ihrem Rechner ab. Ihre Zeugnisse, Zertifikate und Beurteilungen scannte sie. Einen Teil ihrer Bewerbungen versandte sie per E-Mail, die restlichen, die per Post verschickt werden sollten, druckte sie aus, steckte die Unterlagen in zehn Klarsichthüllen, fischte zehn DIN-A-4 Umschläge aus ihrer Schreibtischschublade, verpackte alles, schob die gefüllten Umschläge in ihre Tasche, schnappte sich die Autoschlüssel und fuhr in die Stadt.