Zurück in die Zukunft in Kalifornien – Die Welt in hundert Jahren

Illustration Susanne Gold; Text Bernadette Imkamp

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Zufällig traf ich Michael J. Fox 

Er saß im Rollstuhl und sah sehr verletzlich aus. Doch sofort  erkannte ich den Schwarm meiner Jugend wieder. Noch nie hatte ich jemand um ein Autogramm gebeten, aber bei Michael J. Fox machte ich eine Ausnahme. Mit seinerParkinson-Krankheit konnte er zwar kaum schreiben, aber das hinderte ihn nicht daran, mir etwas in mein Notizbuch zu schreiben, was vermutlich weder er noch ich lesen konnten. Er genoss es, dass ich so direkt auf ihn zugegangen war. Das passierte ihm vermutlich nicht mehr oft, weil die meisten Menschen sich vor dem Tod fürchteten und er war diesem schon viele Jahre nah.

Flugreisen in hundert Jahren?

Wir kamen in’s Gespräch. Ich erzählte ihm, dass meine Töchter gerade in Kalifornien in einem Summer Camp seien und ich ein paar Tag zu ihnen geflogen sei. Dabei hatte ich zwar ein schlechtes Gewissen gehabt, denn mir war klar, dass jeder Flug uns näher an die Klima-Katastrophe brachte. Trotzdem bin ich geflogen. „Wie werden die Menschen in 100 Jahren  über Flugreisen denken“, dachte ich laut? Michael und ich sinnierten ein wenig theoretisch über diese Frage, und er fragte mich, ob ich das direkt überprüfen wolle, was die Menschen im Jahr 2122 darüber denken. „Na klar“, entfleuchte es mir schneller, als ich denken konnte. 

Woher hätte ich wissen sollen, dass er das ernst meinte? 

Ja, ich hatte in meiner Jugend den Film „Zurück in die Zukunft“ oft genug gesehen, um gewarnt zu sein. Die Zeitmaschine und der surreale Eindruck, seiner Zeit voraus zu sein. Ich hätte wissen sollen, dass es eine Zumutung ist, als Mensch der Vergangenheit in der Zukunft zu leben. Ich hatte „na klar“ gesagt … und stehe nun an einem Venice Beach, den ich nicht wiederkenne. 

Michael ist nicht mehr da

Es sind nur wenige Menschen zu sehen und die sind ganz anders gekleidet, als ich das gewohnt bin. Sie tragen schlichte Kleidung aus einem Material, welches ich nicht zuordnen kann. Plastikfasern vielleicht? Sie gehen ruhig und unaufgeregt ihren Weg. Wohin, das ist mir nicht klar. Ich sehe , dass sie sich am Strand treffen und etwas besprechen. Das sieht mir aber nicht danach aus, dass es um den nächsten Bodybuilder- oder Surf-Wettbewerb geht,  wie es früher am Venice Beach üblich war. 

Die Menschen sehen ernst und gleichzeitig in sich ruhend aus. 

Das kenne ich nicht aus meiner Zeit. Die Menschen im Jahr 2022 sind wie aufgescheuchte Hühner und quaken andauernd wie die Frösche durcheinander. Jeder hat zu allem eine Meinung und eine konzentrierte Aktion ist scheinbar unmöglich. Hier handelt es scheinbar um eine Gemeinschaftsaktion, bei der keiner aus der Reihe tanzt. Die Menschen gehen in Grüppchen den Strand ab und sammeln angeschwemmtes Plastik ein. Sie tun es auf eine Art, die ich noch nie gesehen habe.

Konsequent, überzeugt und freundlich – eine Zukunft ohne Autos

Während ich weiterschiebe, fällt mir auf, dass es überhaupt keine Autos gibt. Am Venice Beach in den U.S.A., jenem Land, in welchem Autofahren zum Grundrecht gehört? Es schnurren immer mal wieder Elektrobusse vorbei, aber nicht ein einziges Auto. 

Meine Gedanken rotieren. Wie kann eine solche Veränderung stattgefunden haben? Wer hat sie initiiert? Wie konnte es gelingen, dass sich alle dahinter versammeln und mitmachen? 

Wer hat den amerikanischen Kongress, Donald Trump oder seine Nachfahren und Greenpeace an einen Tisch und zu einer Lösung geführt? 

Intuitiv laufe ich weiter. Auf meinem weiteren Weg komme ich zum Rodeo Drive. Auch hier sehe ich keine Autos, obwohl hier früher die tollsten Sportwagen cruisten. Auch die Konsumtempel sehen anders aus. Sie wurden von außen begrünt und innen gibt es keine Gucci-Taschen oder Tiffany-Schmuck. Stattdessen sind dort großzügige Werkstätten entstanden, in denen das gesammelte Plastik sortiert und zu allem Möglichen – unter anderem Kleidung – verarbeitet wird. Das erinnert mich ein wenig an die Erzählungen zur Zeit vor der Industrialisierung. Kann das wirklich sein, dass die Welt so viele Schritte zurückgegangen ist? Niemand scheint damit unglücklich zu sein. 

Im bunten Restaurant

Ich setze mich in ein Restaurant, das  einem schwäbisch Besen ähnlicher ist, als einer McDonalds-Filiale. Tische und Stühle sind wild zusammengesammelt. Nichts passt zueinander, in seiner Gesamtheit sieht es gut aus. Ich finde einen freien Tisch und setze mich. Ein Blick in die Speisekarte zeigt mir, dass eine Coke und ein Burger hier nicht zu finden sind. Stattdessen kann ich einzig Leitungswasser und Hirsebratlinge bestellen. Dagegen habe ich nichts, denn mir sind Hirsebratlinge lieber als Burger. Es dauert auch gar nicht lange, bis ich beides serviert bekomme. 

Jetzt erst merke ich, dass ich viele Kilometer gelaufen bin. Ich bin hungrig und durstig. Das  Leitungswasser und die Hirsebratlinge schmecken großartig. Während ich esse, setzt sich ein junger Mann zu mir an meinen Tisch. Das ist hier offenbar üblich,  ich diese Geselligkeit am Nachbartisch bereits bemerkt. Das wäre vor 100 Jahren undenkbar gewesen. 

Der junge Mann stellt sich als Andrew vor. „Nice to meet you!“ Ich freue mich über ein Gespräch, wenngleich ich Skrupel habe. Was soll ich sagen? Ich bin nicht sicher, wo ich hier genau gelandet bin und wie diese Welt funktioniert. Andrew wird bestimmt innerhalb kürzester Zeit denken, dass ich der Psychiatrie nach 35 Jahren Inhaftierung entlaufen bin. 

Wie soll meine Weltfremdheit erklären?

Andrew scheint nichts zu bemerken. Er fragt mich, wie mir Kalifornien gefällt. Ich sage, dass ich es so entschleunigt finde, was er gleich mit einem Kopfnicken bestätigt. Er bestätigt, dass auch die Menschen im Jahr 2122 es ebenso empfinden. Haben die überhaupt einen Vergleich dazu, kennen sie das Gegenteil, frage ich mich. 

Hektik, Größer-Schneller-Weiter aus meiner Zeit gibt es hier nicht

Ich unterhalte mich lange mit Andrew. Er gibt das Gefühl, hier hinzugehören. Es kommt mir fast vor, als würden ich ihn schon ewig kennen. So gut habe ich mich noch nie unterhalten und komischer Weise habe ich das Gefühl zu wissen, wie wir den Turnaround auch in 2022  einleiten könnten. Aber das ist ja unnötig nötig – ich bin bereits in der Zukunft.

Unerwartet nimmt unser Gespräch eine Wendung 

Andrew erzählt mir, dass er seinen Namen zu Ehren seines Ur-Urgroßvaters trägt, der mit zweitem Namen Andrew hieß und fragt, ob ich ihn kennen würde. Er wäre zu seiner Zeit ein berühmter Schauspieler – und in gewisser Weise auch ein Visionär – gewesen. 

Mir wird kurz schwindelig und als ich wieder zu mir komme, steht vor mir eine Coke und ein Burger, und um mich rum ist hektisches Rodeo Drive-Gewusel des Jahres 2022. 

Wer ist Andrew und wann bin ich?

Ich esse meinen Burger und trinke die Coke. Die Hirsebratlinge wären mir lieber gewesen. Andrew, Andrew, Andrew – Er sah ein bisschen aus wie Michael J. Fox. Aber Andrew beginnt nicht mit „J“. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und googele Michael J. Fox. Und tatsächlich – er heißt mit zweitem Namen Andrew. Wahrscheinlich fand er für den Künstlernamen das „J“ passender als das „A“. 

Nun weiß ich, was zu tun ist, und esse erst einmal in Ruhe auf.

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