Illustration Susanne Gold, Text Aenne Barnard
Vor gut einem Jahr – kurz vor Corona – habe ich meinen ersten Yoga-Kurs besucht, mit viel „Ooohhmm“, Klangschale, Duftöl und Gesang. Lilly (Name geändert) erklärte uns dabei nicht nur, wie der perfekte Sonnengruß geturnt wird, sondern auch allerhand Esotherisch-alternativ-medizinisches, etwa welcher Duft welche Kräfte stimuliert und welche Yogahaltung hilft, Krankheiten abzuwehren. Ihre Ratschläge waren nicht meine Welt, auch damals schon nicht. Mein Körper bekommt nur Therapien, die wissenschaftlich geprüft wirksam sind. Aber gestört hat mich Lillys Sicht der Dinge auch nicht, es wäre mir nicht im Traum eingefallen, eine Diskussion über medizinische Studien anzustoßen. Warum auch? Ist doch ihre Sache, was sie glaubt. Außerdem habe ich selten einen Menschen gesehen, der so zufrieden wirkte wie Lilly auf der Yogamatte.
Die Wut der einen und der anderen
Es war einfach damals, tolerant zu sein und dann kam die Pandemie. Jetzt bin ich wütend, wenn Menschen die Wissenschaft ignorieren. Ich könnte nur noch schreien, wenn ich sehe, dass Menschen auf Demonstrationen die Fakten leugnen und etwa behaupten, es gäbe gar keine Pandemie. „Seids ihr deppert!“, (schließlich bin ich Münchnerin) möchte ich brüllen. „Ihr macht alles nur noch schlimmer. Könnt ihr denn nicht sehen, dass die Wissenschaftler mit den mahnenden Worten seit einem Jahr immer Recht haben?“
Offensichtlich können sie nicht hören, sie wollen auch gar nicht, denn auch sie sind wütend. Sie beschimpfen die Presse als Lügner, fürchten ein korruptes System, das ihnen die Freiheit stiehlt und sie behaupten allerlei seltsame Dinge.
Toleranz für die Meinung der anderen ist für beide Seiten nahezu unmöglich geworden, denn die Meinung der anderen wird zur existenziellen Bedrohung. Wie konnte es so weit kommen?
Tertium non datur – Wahrheit und Lüge in der Logik
Erklärungsansätze gibt es sicher viele, einer liefert die Aussagenlogik – ein mathematischer Formalismus, um Zusammenhänge von Aussagen zu beschreiben. Aussagen, das sind Behauptungen, die entweder wahr oder falsch sind (tertium non datur, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht). Beispiele für Aussagen sind: „Eis ist kalt“, „drei ist größer als fünf“, „Affen sind keine Kamele“.
Wenn wir ein paar wahre Grundannahmen haben (Logiker sprechen von Axiomen), dann können wir mit Hilfe der Aussagenlogik weitere wahre Aussagen ableiten. Wenn wir zum Beispiel die Axiome kennen „Hugo ist ein Dackel“ und „Jeder Dackel ist ein Hund“, dann können wir ableiten, dass auch gilt „Hugo ist ein Hund“.
Aber wehe, wenn sich unter unsere Axiome ein einziges Falsches eingeschlichen hat, etwa „Dackel Hugo ist ein Goldfisch“. In diesem Fall können wir ohne irgendeinen weiteren Denkfehler interessante Aussagen ableiten. Zum Beispiel: „Manche Hunde haben Kiemen“, oder „Dackel Hugo schläft im Aquarium“.
„Es falso quotlibet“, sagen die Logiker dazu. „Aus dem Falschen kann Beliebiges gefolgert werden“. Ein falsches Grundaxiom genügt, und der Kreativität der Behauptungen sind keine Grenzen gesetzt.
Ein entscheidendes Axiom – Was ist gute Medizin?
Wir dürfen (in dieser Zeit, in diesem Land) umfassende medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen, die sich in vielen Studien als wirksam erwiesen haben – was für ein Privileg. Gleichzeitig glauben einige Menschen – und zwar nicht wenige mit hoher Bildung –, dass es bessere Alternativen gibt, dass Kristalle, Duftöle oder extrem verdünnte Substanzen mehr Wirkung haben als geprüfte Medikamente. Prävention durch Impfung lehnen sie oft komplett ab. Die Denkweise dieser Menschen könnten also folgende Axiome prägen: Axiom 1 „klassische Medizin ist schlecht“ und Axiom 2 „impfen ist gefährlich“.
Jetzt während der Pandemie könnte ein hypothetischer Gedankengang (allein durch logische Schlussfolgerungen) also wie folgt aussehen.
Und jetzt?
Und wie kommen wir jetzt wieder raus aus diesem Logik-Dilemma? Wie könnte die Vision für die Zukunft aussehen? Keine Ahnung, vermutlich ein langer steiniger Weg aus – bloß nicht die Meinungsfreiheit einschränken – Fakten, Fakten, Widerspruch und nochmals Fakten.
Mein Yoga-Kurs im vergangenen Frühjahr wurde übrigens in der Hälfte, wegen Lockdowns, abgebrochen. Lilly habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Ich hoffe, es geht ihr gut.