Über das Wesenhafte in der abstrakten Kunst: Wer ist Kim Kluge?

Fotografie von Dennis Divinagracia

Seit ihrem Kunststudium an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, das sie 1999 mit Auszeichnung abschloss, arbeitet Kim Kluge als freischaffende Künstlerin. Sie findet eine spezielle Technik, farbigen Filz zur Herstellung von Farbfeldern, von Hand zu zupfen. 

Kim, was treibt dich an? Die transformatorischen Prozesse in unseren westlichen Demokratien treiben mich an, künstlerisch zu arbeiten. Um die Triebkräfte dieser unablässigen, gesellschaftlichen Erneuerung zu entschlüsseln,  arbeitet die Künstlerin deren Essenz heraus. In der Reflexion der eigenen kreativen Energien spürt sie der Dynamik der modernen Leistungsgesellschaft nach. Symbolhaft stehen interagierende Farbfelder für den permanenten Wechsel der Perspektive, der gesellschaftlichen Fortschritt erzeugt.

Das wesenhafte Porträt 

Mit ihren Farbfeldern aus Filz entwickelt die Künstlerin ein innovatives Konzept zur Kunst des Portraits. Das gewählte Material wirkt wie eine wärmende zweite Haut, das die Porträtierten imaginär vor sozialer Kälte schützt. Individuelle Charakterzüge werden mit leuchtenden Farben assoziiert. In ihrer Gesamtheit der Farbgebung erzeugen die Bilder das jeweils einzigartige Wesen der Porträtierten. Dieser neue Denkansatz liegt in der synästhetischen Kombinatorik farbiger Wechselwirkungen, die die Künstlerin mit bestimmten Menschen verbindet. Auf diese Weise entsteht das Bild einer individuellen Persönlichkeit.

Die unerschöpfliche Symbolik der Farbe

In der Menschheitsgeschichte ist die Sehnsucht nach Farbigkeit unerschöpflich. Zu allen Epochen mischen Menschen Farben, mit denen sie sich schmücken oder zur Tarnung. Bis in die Gegenwart werden neue Farbtöne und Farbtheorien entwickelt. Farbtheorien von Goethe, Itten, Albers, Munsell und vielen anderen beschäftigen uns weiterhin. Kulturhistorisch bleibt das Phänomen Farbe faszinierend. Reine Pigmente aus Lapislazuli für Ultramarin Blau beispielsweise sind immer noch sehr teuer. Besonders leuchtende Farben verkörpern Attraktivität, Reichtum und Göttlichkeit. Erdfarben stehen eher für Bescheidenheit oder sogar Armut.

Farbe als Code 

Kim Kluge setzt Farbe im Kontext ihrer universellen Bedeutung und Lesbarkeit konzeptionell zur Codierung einer Persönlichkeit ein: Bei Himmelblau assoziieren wir die Weite des Himmels. Grün steht für die Pflanzenwelt. Signifikant sind Wachstum und Hoffnung. Rot weist auf ein überbordendes Maß an Energie hin. Kulturell bedingt teilen wir alle Bereiche unseres Lebens in positiv und negativ ein. Sind Bewertung und Beurteilung gewohnt. Die Farbe selbst kennt aber keine Bewertung. Rot ist einfach Rot. Gelb ist Gelb. Blau ist Blau. Ich kann diese Farben mögen oder nicht.

Kontrapunkt zu Bewertungsmodellen

Sensibilität und Beobachtungsgabe steigern sich in den Portraits gegenseitig zu lustvollem Genuss der interaktiven Farbfelder. Im Zusammenspiel werden die Farben lebendig. Sie kommunizieren mit dem Betrachter und öffnen imaginäre schöpferische Räume. Damit betont die Künstlerin gelassen den Gegensatz ihrer Arbeiten zu den banalen Bewertungsmodellen einer digitalen Gesellschaft der Aufgeregtheiten. Farben sind Farben. Sie kennen keine Bewertung. Kein zu alt oder zu jung, kein zu groß oder zu klein, kein zu gut oder zu schlecht…Ein Perspektivwechsel auf Farbe ermöglicht uns einen Perspektivwechsel auf unsere Bewertungsmodelle. In den feinen Fäden des Filzes entfaltet sich je nach (Zupf)Richtung zusätzlich eine zarte, leichte Bewegung. Man könnte sie als Allegorie für die schillernde Entwicklungsfähigkeit oder sogar die kreative Unberechenbarkeit der menschlichen Seele betrachten. 

Abstraktion bedeutet Perspektivwechsel

Abstraktion bedeutet, das Überflüssige zu erkennen, bewußt zu ignorieren, um den Blick für die Wesenhaftigkeit der Welt zu öffnen. In Kim Kluges Überlegungen zur Kunst und deren Bedeutung für die Gegenwart zeigt sich ihr gesellschaftspolitisch wacher Geist. Einerseits vermittelt sie unbeschwertes Erleben und einen lustvollen Umgang mit der Welt als Farbe. Andrerseits drückt sich in ihrem Werk eine tiefe Skepsis gegenüber der zunehmenden inhumanen Monotonie einer von Bewertungsmodellen beherrschten Gesellschaft aus. Durch den schöpferischen Prozess der Reduktion und Verdichtung kommt die Künstlerin ihrem Ziel näher, den Blick für positive und humane gesellschaftliche Perspektiven zu öffnen.

Kommentare

2 comments on “Über das Wesenhafte in der abstrakten Kunst: Wer ist Kim Kluge?”
  1. Ich bedanke mich bei Corinna Heumann für diesen wunderbaren Artikel. Treffende und ergänzende Worte. Sehr spannend, diese aus der Perspektive einer geschätzten Künstlerkollegin zu lesen. Danke dafür🙏🌈❤️

    1. Corinna Heumann sagt:

      ❤️

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