Hexenjagd 2.0: Hightech im Rechner – Mittelalter im Gehirn!

Illustration und Text: Susanne Gold

Mit der Digitalisierung kam er auf die Welt: Der „Homo Protestus“, wie ich ihn nenne. Man begegnet ihm in den sozialen Medien. Und, würde es nach ihm gehen, dann brennten heute wieder Hexen zur Unterhaltung des Volkes an öffentlichen Plätzen. Ginge es nach ihm, dann wären Todesstrafe und Folter wieder gängiger Standard.

Der Homo Protestus wittert an jeder Ecke böse Verschwörungen. Er unterstellt, hasst und verachtet. Laut fordert er in den sozialen Medien Rache und Vergeltung für sein Schicksal in der bösen Welt: Ununterbrochen wittert er Gefahr und Betrug. Die Welt von Facebook, Twitter und Instagram einerseits und die “echte” Welt da draußen andererseits, in welcher wir uns in Fleisch und Blut begegnen und uns in die Augen sehen, sind offenbar sehr verschieden. Wie aber kann das sein, dass die gleichen Gehirne, die sich im echten Leben freundlich grüßen zeitgleich Hass, Gemeinheit und Unterstellung ins Internet kübeln?

An unserer Weltgemeinschaft liegt es nicht, die war faktisch nie besser!

Wir starren wie gebannt auf unsere Handys und suchen nach immer neuen Fakten und Informationen. Dabei wird unser Medienkonsum zum Teufelskreis. In dem Labyrinth der Informationen finden wir keine Sicherheit, sondern werden noch beunruhigter. Die tägliche Flut der Schreckensnachrichten zeichnet ein grässliches und – vor allem – ein verzerrtes Bild von der Welt. Es entsteht der Eindruck, als stünde es schlechter denn je um uns. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit ist groß:

“Great again” ist der Schlachtruf der Gattung des Homo Protestus

Dabei war in der Vergangenheit nahezu alles schlechter. Wer sich die Zahlen und Fakten im richtigen Kontext ansieht, muss zugeben, dass die Welt nie zuvor so gut war, wie jetzt. Egal ob Gesundheit, ja, auch der Umgang mit Seuchen, Kindersterblichkeit, der Kampf gegen extreme Armut, Weltfrieden, Selbstverwirklichung, von Arbeit freie Zeit und vieles mehr, was früher nur eine Utopie war – in fast jeder Statistik ist belegt, dass es keinen anderen Trend gibt, als den zum Besseren!

Warum hat der Homo Protestus also Untergangsstimmung?

Die Informationsflut hat, gemeinsam mit der Leistung der Rechner, exponentiell zugenommen. Die gesammelte mediale Berichterstattung der Welt ist immer nur einen Mausklick entfernt – und feuert vornehmlich schlechte Nachrichten. Aber warum?

In der Vielfalt des medialen Outputs müssen Journalisten heute mit den ihnen verfügbaren Mitteln um die Aufmerksamkeit einer notorisch überreizten Leserschaft buhlen. Hinzu kommt, dass Journalisten selbst einer verzerrten Wahrnehmung obliegen. Auch Journalisten nehmen – wie jeder Mensch – eher das Schlechte als das Gute wahr.

Wir alle haben diesen “Negativ-Instinkt”, der uns einst vor Gefahren schützte

Jener Instinkt stammt aus einer Zeit, in der sich unsere Ahnen ständig gegen ernsthafte Bedrohungen, hungrige Säbelzahntiger und streitlustige Nachbarstämme wehren mussten. Unser Überleben hing einst davon ab, Gefahren zu wittern. Doch im digitalen Zeitalter scheint sich dieser Instinkt in sein Gegenteil zu verkehren: Wir projizieren Ängste auf Dinge, sorgen uns um Bedrohungen, die, im Lichte der Faktenlage, gar keine sind. In der Nachrichtenflut unserer Zeit wittern wir laufend Gefahren und Bedrohung, wo Sicherheit herrscht. Mit dem Resultat, dass unser Negativ- Instinkt heute aus der Flut der Informationen die schlimmsten fischt und uns glauben macht, die Welt würde immer schlechter.

Bedrohung und Schuldzuweisung: Warum hasst Homo Protestus?

Die Antwort darauf liefern Neurowissenschaftler. Angst ist ein Zustand, welchen Menschen nicht gut ertragen. Wir verwandeln diesen in Aggression. Schließlich war es unsere aggressive Wehrhaftigkeit, die unserer Angst entsprang und uns – beispielsweise vor unserem Fressfeind, dem Säbelzahntiger – rettete. Letzterer ist allerdings längst ausgestorben. Wir haben keine Fressfeinde mehr. Doch unsere Angst verwandelt sich noch immer in Aggression, unsere Säbelzahntiger sind heute als negative Schlagzeilen im Netz.

Von der Angst des Homo Protestus

Er gehört, wie wir alle, trotz Digitalisierung noch zur Gattung des Homo Sapiens. Und der tickt nicht digital, sondern immer noch steinzeitlich. Der Homo Sapiens hat fest verankerte Bedürfnisse, die ihn antreiben: Essen, Trinken, Sex, Liebe, Geselligkeit, Spiritualität, Solidarität, Kooperation und Selbstverteidigung. Dabei hat eines der wichtigsten Systeme in unserem Gehirn keine andere Aufgabe, als abzuwägen, wie wir zur Befriedigung all unserer Bedürfnisse kommen. In unserem kognitiven Ur-Gehirn, dem limbischen System, kochen jene Emotionen hoch, die in die vorderen Bereiche unseres Gehirns weitergereicht werden.

Unsere Evolution hält mit unseren Technologien nicht Schritt. Sie wächst nicht exponentiell

Wäre es so, würden alle Menschen heute einen platten und quadratischen rechten Fuß haben, der besser für das Gaspedal unseres Autos geeignet ist. Das haben wir aber nicht, weil die Evolution sich nur langsam wandelt. Also haben wir immer noch jene Füße, mit denen wir weite Strecken zurücklegten, um Nahrung zu finden. So sind es unsere urzeitlichen, archaischen Emotionen von Angriff und Verteidigung, die in den sozialen Medien aktiv werden.

Norbert Elias beschreibt im seinem „Prozess der Zivilisation“ wunderbar, wie wir lernen mussten, unsere spontanen Bedürfnisse im gesellschaftlichen Miteinander zu regulieren. Mühsam erlernten wir, unsere Bedürfnisse zugunsten eines zivilisierten Umgangs miteinander aufzuschieben. Während der Zivilisation haben wir ein paar Regeln begriffen und etabliert: Darunter Dinge, wie keinen Sex oder Ausscheidungen in der Öffentlichkeit, nicht mit den Händen essen mit und nicht dem Konkurrenten einen Stein über den Kopf hauen. Die Liste ist des Verzichts zu Gunsten des zivilisierten Umgangs ist lang.

In diesem Miteinander etablierten sich andere, zivilisierte Strategien von Angriff und Verteidigung – diplomatische Strategien

Elias nannte diese „Interdependenzketten“, anhand welcher wir lernten, die Konsequenzen unseres Tuns abzuwägen. Bis heute! Bis das Internet und die sozialen Medien erfunden wurden. Digital können unsere triebhaften Bedürfnisse neu und spontan ausgelebt werden. Das gilt offensichtlich in besonderem Maße für den Gewalt- und Aggressionstrieb. Letzterer scheint stark in den sozialen Medien vertreten. Kein Wunder – die Komplexität unserer Welt beängstigend. Und dort, wo Angst ist, da herrscht auch Aggression.

Was begrenzt unser Mitgefühl?

Möglich wird das wohl durch die physische Distanz. Schon in den 1960er Jahren kamen Psychologen zu der Erkenntnis, dass wir den Raum um uns herum in konzentrische Zonen, also in nahe und ferne Beziehungen, einteilen. Beziehungen in den sozialen Medien gehören danach zu den fernen Kontakten. Diesen entfernten Bekannten lässt sich leichter etwas Böses unterstellen, beschimpfen und beleidigen. Es lästert sich einfach besser, wenn man die Sorgen, Nöte und Verletzungen eines Menschen nicht sehr gut kennt. Es mindert das Mitgefühl.

Hinzukommt die menschliche Angewohnheit, sich zu vergleichen. Heute kann man sich nicht nur weltweit vernetzen, sondern auch – vergleichen!

In den sozialen Medien sind wir für alles anfällig, was Glück verspricht. Nie zuvor hatten Menschen diese expandierte Möglichkeit zur sozialen Vernetzung. Noch nie konnten wir uns so reichweitenstark präsentieren, unseren Ruf und unsere soziale Attraktivität steigern. Wer anerkannt werden will und Zugehörigkeit sucht, schloss sich schon immer einer sozialen Gruppe an. Doch, während man sich früher nur mit seiner unmittelbaren Umgebung verbündete und verglich, kann man es heute – digital – mit der ganzen Welt.

Frustration vorprogrammiert – Besser geht immer!

Wer schon ein bisschen Lebenserfahrung hat, weiß, dass Vergleiche vor allem eines mit sich bringen: Frustration! In all unserer Einzigartigkeit sind wir eben nur bedingt miteinander vergleichbar. Wir versuchen uns im Vergleich zu messen und zu definieren und sind doch nicht an anderen messbar. Waren wir in früheren Gesellschaften, in denen die Lebensläufe der Menschen einander ähnelten, auch einander ähnlich, werden wir mit zunehmender Individualisierung und unseren einzigartigen Lebensentwürfen immer individueller.

Vergleiche werden schwieriger, wir werden immer verschiedener. Unsere Biografien werden „divers“. Leider funktionieren die sozialen Medien dennoch als Reich der Verführung: Wir vergleichen dort, was nicht vergleichbar ist – uns mit anderen, unser Leben mit denen der anderen – und werden frustriert. Die Frustration wird zur Aggression und kann in den entfernten Beziehungen der sozialen Medien so rücksichtslos ausgelebt werden, als hätten wir nie einen Prozess der Zivilisation durchlaufen.

An unseren Rechnern sitzt der Homo Protestus wie ein mittelalterlicher Inquisitor, welcher Rache für imaginäre Bedrohungen fordert. Er vergisst, dass am Ende jedes Rechners ein Mensch sitzt. Manche davon werden zur digitalen Hexenjagd freigegeben, von Mitgefühl keine Spur.

Wie können wir heute Empathie auch über die digitalen Distanzen etablieren?

Wo die absurden Wahrheitsbehauptungen, Empörungen, Beleidigungen, Bezichtigungen und Verschwörungstheorien des Homo Protestus hinführen ist offen – ob sie in eine neue Realität münden, oder für Beteiligte und Publikum langweilig werden, sich neue radikale Minderheiten bilden oder die verschiedenen Gruppierungen miteinander in einen echten – analogen –  Streit geraten, das wird sich zeigen.

„Im Bekenntnis bindet sich ein Subjekt an eine bestimmte Wahrheit und zeigt so, wer er ist. Die eigene Märtyrerrolle wird dabei ständig mitimaginiert und dort zur Schau gestellt“, schreibt Michel Foucault schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

Wo galt dieses Zitat mehr als in den sozialen Medien? Die Aggressoren präsentieren sich in ihrer Anklage immer auch als Opfer. Wer versteht, dass ihre Aggression von ihrer Angst rührt, versteht auch, warum sie sich selbst als Märtyrer begreifen. Vermutlich ist der einzige Ausweg aus diesem Dilemma eine bewusste Fokussierung auf die guten Nachrichten unserer Welt: Der achtsame und differenzierte Blick auf eine Realität, die – nimmt man Pauschalisierungen und Vorurteile heraus – viel besser ist, als behauptet.

Die Werkzeuge und Methoden unserer Zeit sind fortschrittlicher und auf weltweite Vernetzung und Verbrüderung ausgerichtet als unser Denken, welches noch immer in Angriff und Verteidigung einer längst vergangenen Zeit tickt:

Es ist so viel Positives da draußen. Wir sollten nur lernen, das auch zu sehen.

 

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