Silvester in hundert Jahren

von Marten Steppat:

Von High Noon bis Mitternacht

Es war High Noon. Zwei Männer standen sich in der Mittagshitze vor dem Saloon gegenüber. Beide zuckten, schossen, einer krümmte sich. Zod konnte nicht erkennen, welcher von ihnen. Im entscheidenden Moment zogen Streifen über das Bild.

„Dass Du Dir immer diese uralten Schinken anschauen musst“, brummte er mit seiner tiefen Stimme und schüttelte den haarlosen Kopf. „Du sitzt vor dem Visulax, einem holographischen Projektor für dreidimensionale, frei drehbare Szenerien. Und was schaust Du Dir darauf an? Hundertfünfzig Jahre alte Filme in 2D ohne Zoom und Drehung.“

Zod stand in der Tür von Juns Appartement und schaute seinem Kollegen über die Schulter. Sein muskulöser Körper füllte die kleine Tür in allen Dimensionen aus. Er hob seinen mechanischen Arm und deutete hinter sich. „Komm, Teambesprechung.“

Zod schritt aufrecht und achtsam durch den Gang. Er hatte viele Jahre für die korrupte Raumhafen-Polizei auf der Erde gearbeitet und nochmal genauso lange für die Gegenseite. Dabei hatte er sich einen Überlebensinstinkt angeeignet, den er niemals ablegte.

Jun schlenderte scheinbar gedankenverloren neben ihm her, die Hände in den Taschen, die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen gespitzt, die Augen halb geschlossen. Er war jünger als Zod, hager, schlecht rasiert, ein Wuschelkopf. Unterschiedlicher hätten die beiden kaum sein können.

„Heute ist Silvester“, versuchte Zod ein Gespräch anzufangen. „Die Zeit, wo man mit alten Dingen abschließt und sich neue vornimmt. Hast Du vor, mit etwas abzuschließen, Jun? Nimmst Du Dir etwas Neues vor?“ Er blickte Jun aus den Augenwinkeln an. Der zog eine Zigarette hervor und zündete sie sich an. Es wirkte, als hätte er die Frage nicht gehört. Tief inhalierte er den Rauch und schaute in eine Welt, die nur er sah.

„Ich will diese künstliche Nahrung nicht mehr“, erklärte Zod schließlich seine Pläne. „Im nächsten Jahr werde ich mir biologisches Essen von der Erde schicken lassen, auch wenn das wesentlich teurer ist. Die Gesundheit ist es mir wert.“ „Warum wartest Du dann bis Silvester“, gab Jun von sich und klang dabei gleichgültig. So klang er meistens. „Wenn es die Gesundheit wert ist, dann warte nicht auf ein besonderes Datum. Mach es sofort.“ Zod brummte.

Eine Truppe verschrobener Außenseiter

Schweigend setzten sie ihren Weg durch die Raumstation fort, bis sie an die Tür kamen, an der ein Schild mit dem Wort „Abfallbeseitigung“ montiert war. Das Schild war zerkratzt, verbeult und vergilbt, als wäre es einhundertfünfzig Jahre alt.

Als sie den schmuddeligen Raum betraten, sahen sie Freya und Hina. Freya war die hochgewachsene und dünne Frau auf der Holzbank. Ihre langen, blonden Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und reichten geflochten fast bis zum Boden. Sie wirkte, als hätte sie schon viel erlebt und gesehen, hatte jedoch nie viel von ihrer Vergangenheit offenbart. Sie hatte diverse Gen-Kuren über sich ergehen lassen, teilweise noch im Experimental-Stadium, teilweise unbezahlbar für normale Bürger, sofern überhaupt für diese erwerblich. Ihr wahres Alter verriet sie niemandem.

Hina war jung, kräftiger gebaut und sehr modebewusst. In knallbunten schnittigen Farben saß sie auf dem Sofa. Sie stellte ihre Reize ohne Scham zur Schau und nutzte sie zu ihrem Vorteil, wann immer sie konnte. Mit Speichel reinigte sie ihre rot lackierten Stiefel. Gelangweilt schaute sie rüber, als Zod und Jun näherkamen.

Im Nebenraum hörte man Stein wühlen. Stein war ein kleiner Hund, den Jun vor zwei Jahren geklaut hatte, um gewisse Spuren zu beseitigen. Er hätte den Hund ansonsten töten müssen. Stattdessen tauchte er eines Tages mit ihm unter dem Arm auf und erklärte, er sei Teil eines Zeugenschutzprogrammes. Niemand beachtete die Geräusche.

Freya klemmte die zu Fäusten geballten Hände zwischen die Knie und schaute angespannt zu Boden. Zod schaute fragend hinter sich zu Jun, der nur mit den Schultern zuckte. Sie setzen sich auf die zwei einfachen Stühle aus Holzimitat, nickten den Frauen zu und schwiegen erwartungsvoll. „Ich wollte immer damit abschließen“, stieß Freya schließlich hervor ohne dabei aufzuschauen. „Die Vergangenheit hat mich jedoch eingeholt. Ich muss Euch ein Geheimnis beichten.“

Freyas dunkles Geheimnnis

Sie presste die Lippen aufeinander und schaute auf. Arglose Gesichter blickten sie mit großen Augen an. Sie ihrerseits kniff die Augen zusammen und schluchzte. „Ok, raus damit“, sagte sie zu sich selbst. „Ich war früher eine Prostituierte!“ Ein paar Sekunden lang passierte nichts. Füße scharrten. Hina hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte teilnahmslos auf ihre Stiefel, um nach weiteren Flecken Ausschau zu halten.

Zod blickte zu Jun hinüber, der nur mit den Schultern zuckte. Für beide war immer klar gewesen, dass alle Anwesenden im Raum ihre Vergangenheit hatten. Keiner von ihnen hatte ein Muster-Leben wie aus dem Katalog gelebt. „Freya“, sagte Zod schließlich langsam in einem mitfühlenden Ton, in dem ein wenig Unverständnis mitklang. „War das jetzt schon das Geheimnis, oder kommt das noch?“

Überrascht riss die drahtige Frau die Augen auf. Offenbar hatte sie mit einer anderen Reaktion gerechnet. „Ihr seid so tolle Kollegen“, rief sie dankbar. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Zod und Jun schauten sich fragend an. Jun zuckte mit den Schultern. „Was hindert Dich daran, damit abzuschließen?“, fragte der Wuschelkopf in gewohnt gleichgültigem Tonfall.

„Ich werde erpresst“, erklärte Freya und plötzlich lehnten ihre Kollegen von der Abfallbeseitigung sich gebannt nach vorne. „Ich habe das nie freiwillig gemacht, aber ich bin damals in diese Kreise reingerutscht, und es war auch viel Geld im Spiel“, fuhr Freya mit ihrer Geschichte fort.

„Wozu gibt es denn E-Robots?“, fragte Zod verständnislos. Freya schüttelte den Kopf. „In dieser Gesellschaft nimmt man Menschen. Für diese Leute sind Menschen wie Abfall. Sie benutzen sie und schmeißen sie weg. Mit mir war es anders. Ich war etwas Besonderes. Aber sie haben mit mir Dinge angestellt, die ich Euch niemals im Detail erzählen könnte, ohne vor Scham zu sterben. Und es macht ihnen keinen Spaß, diese Dinge mit Robotern zu tun.“

Hina ergriff eine Bürste, die neben ihr lag, und warf sie nach den beiden Männern, die mit Abwehrhaltung und fragenden Blicken reagierten. „Hört auf, Euch das vorzustellen“, rief sie mit ernster Miene. „Klingt nach Leuten, für die ich mal gearbeitet habe“, überlegte Jun, stand auf und ging zu seinem Spind, „ein Syndikat“. Zod brummte zustimmend. „Sie wollen jetzt viel Geld von mir“, fuhr Freya fort. „Geld, das ich natürlich schon lange nicht mehr habe. Sonst würde ich ja nicht hier arbeiten. Und ich hab nur bis Mitternacht Zeit. Aber das ist nicht alles. Sie -“

„Spar Dir die Details, Freya“, unterbrach Zod sie und ging ebenfalls zu seinem Spind. „Ich werde die Station verlassen“, brachte Freya in einem verzweifelten Tonfall hervor. „Nein, das wirst Du nicht“, entgegnete Zod mit ruhiger, fester Stimme, während er in seinem Spind rumwühlte. „Oder was meinst Du, Jun?“ „Ich meine, es ist Zeit, unsere Arbeit zu tun“, erklärte Jun. Seine Stimme war lebendig, von Gleichgültigkeit keine Spur. Er drehte sich um und zeigte ein siegessicheres Lächeln.

„Schließen wir ab mit dem alten Kram und bringen den Müll raus“, schlug er motiviert vor und lud eine auf Hochglanz polierte Feuerwaffe durch, bevor er sie sich mit dem Lauf zur Decke an die Schläfe hielt. Zod zog unter den immer größer werdenden Augen von Freya ein ganzes Arsenal von Waffen aus seinem Spind und drehte sich grinsend zu Jun um. Das Grinsen verging ihm, als sein Blick auf Juns Waffe fiel. „Die ist doch mindestens hundertfünfzig Jahre alt!“, rief er. Mit unbewegter Miene zog auf Hina einen Laser der X-Klasse aus ihrem Stiefel. Im Nebenraum bellte Stein.

Projekt Feuerwerk

Zu diesem Zeitpunkt durchliefen sie gerade Test-Programme: In dunklen Farben und mit wenig Leuchtkraft wurde die Funktion ihrer Lichter getestet; ein mattes Glimmen in der Dunkelheit des Weltraums. Ein ganzer Gürtel dunkel funkelnder Lichter ließ sich im Augenblick rund um die Station beobachten, wenn man sehr aufmerksam war, doch für den arglosen Beobachter lief alles im Verborgenen ab.

Jun rollte mit den Augen, er fand nichts Sentimentales an der Situation. Etwas energischer zählte er noch einmal mit den Fingern. Auf Drei stürmten sie durch die Tür, die sich hinter ihnen schloss. Ein Bildschirm, der an der Tür angebracht war, schaltete sich ein und offenbarte die Worte „Diese Sektion ist wegen Reinigungsarbeiten vorübergehend geschlossen“.

Raketen und Leichen

Schüsse und Schreie hallten durch die Gänge. Es war ein Blutbad.

Die Aktion vollzog sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Sie kämpften sich mit Waffen und mit Fäusten durch die Sektion, als wären sie ein Spezial-Kommando, das für genau diesen Tag ausgebildet worden wäre. Der Plan war, zum Jahreswechsel ein komplettes Syndikat auszulöschen. Ein paar Ziele flohen zur sektionseigenen Andock-Luke. Jun und Zod verfolgten sie ohne Erbarmen.

Es war eine Falle. Sie wussten das, denn sie hatten sie aufgebaut. Der Mechanismus der Luke war außer Funktion und die Opfer leisteten in ihrer Verwirrung kaum Gegenwehr. Der Blitzkrieg endete nur Augenblicke später wie ein professionell ausgeführte Auftrag eines Syndikats. „Ja, wie damals“, kommentierte Jun scheinbar emotionslos und zeichnete vor der Luke ein Kreuz in die Luft, die sich daraufhin öffnete.

Jetzt galt es nur noch, den kurzen Weg zur Außenluke zu gehen. Auf der anderen Seite hatten Hina und Freya bereits aufgeräumt, wie Juns Armband ihm durch ein kleines grünes Licht verriet. Zod hörte die Schritte als erster, begleitet von dem leisen, gefürchteten Geräusch eines Mag3-Raketenwerfers, der gerade in Betrieb genommen wurde: Ein Ton, dessen Frequenz zunahm, bis er das Spektrum des menschlichen Gehörs überschritt. „Komm“, rief der Muskelprotz und sprintete durch den kurzen Gang, der noch einmal um die Ecke führte.

Direkt an der Ecke hockte Stein, der kleine Hund der Abfallbeseitigungs-Truppe, und erleichterte sich. Zod und Jun eilten um die Kurve, dicht gefolgt vom aufgeregt mit der Rute wedelnden Stein. Jun blieb noch einmal stehen und drehte sich um. Er erschrak, als er bemerkte, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte: Der Mann mit dem Raketenwerfer war ihm dichter auf den Fersen als erwartet.

Doch er rutschte in der Kurve auf den Hinterlassenschaften des Hundes aus und prallte ungebremst gegen die Wand. Jun krümmte sich und brach in einen Lachanfall aus. Zod packte ihn von hinten mit seinem mechanischen Arm und zog ihn durch die Schleuse. Die Schleuse schloss sich vor Juns Augen und durch das kleine Fenster hindurch sah er, wie sich die Gestalt wieder aufrappelte und entschlossen den Raketenwerfer schulterte.

Der Wuschelkopf machte hastig einen Schritt zurück und stolperte in Zod hinein. Sie spürten einen Ruck unter ihren Füßen. Beide konnten jetzt nur noch hilflos mitansehen, wie die Rakete gezündet wurde. Es passierte wie in Zeitlupe. Die Luke blähte sich auf, doch sie hielt. Direkt vor ihren Augen gab es eine Explosion, die für sie weder zu hören noch zu fühlen war. Der Gegner hatte sich lediglich selbst in die Luft gesprengt.

„Ist denn schon Silvester“, stammelte Zod, um irgendwie die Fassung zurückzugewinnen. „Der hat auf jeden Fall mit der Vergangenheit abgeschlossen.“ Betont lässig drehten sie sich um und begutachteten das Shuttle, das sie betreten hatten. „Eine Limousine“, kommentiert Jun beeindruckt. „Die behalten wir“, fügte er hinzu und tippte Zod auf die Brust. „Das ist doch mal ein guter Vorsatz“, erklärte er selbstzufrieden.

Vergoldete Schienen umrahmten eine Verkleidung aus echtem Holz von der Erde, sanfte Musik wurde über die Bordlautsprecher eingespielt. Elegant klappte eine Tür zur Seite. Hina und Freya kamen freudestrahlend hindurchspaziert und hielten Flaschen in ihren Händen, die vermutlich hundertfünfzig Jahre alt waren und Alkohol enthielten; ein Getränkezusatz, der wegen seiner Giftigkeit längst verboten und durch Syntherol ersetzt worden war. „Champagner“, riefen beide gleichzeitig. Zod und Jun sahen sich an. Jun zuckte nur mit den Schultern.

Zukunftspläne

Die Limousine flog einen voreingestellten Kurs, hielt an der ihr vorbestimmten Stelle und drehte elegant. Von hier aus würden sie eine noch bessere Aussicht genießen können als von jeder Aussichtsplattform der Station aus. Sie saßen auf bequemen Sofas aus echtem Leder von der Erde und schauten durch ein riesiges Fenster in das Weltall. Die Korken knallten um Punkt Null Uhr.

Die Drohnen und Bojen um die Station herum starteten ihre Silvester-Programme.

Manche kreisten ganz gemächlich, andere schossen mit atemberaubender Geschwindigkeit durch das All. Verschiedene Drohnen transportierten kleinere Drohnen oder Bojen, die sich bei Bedarf lösten und anschließend wieder eingefangen wurden. Manche flogen frei, andere waren über unsichtbare Seile miteinander verbunden. Ein wilder Tanz begann. Die verschiedensten Lichteffekte brannten sich durch das Weltall und lieferten sich einen Wettbewerb an Feuerwerk. Glimmen, Funkeln, Flackern, Glühen und künstliche Flammen schossen durch die Dunkelheit und begeisterten die Zuschauer.

„Früher auf der Erde benutzte man für solche Effekte winzige Bomben und Raketen“, erklärte Zod, während alle gebannt nach draußen schauten. „Was für eine Verschwendung“, kommentierte Jun geistesabwesend. Zwei Gruppen verschiedener Drohnen schlossen sich zusammen und bildeten zwei gewaltige Drachen, die um die Station zu kreisen begannen, als würden sie sich gegenseitig jagen.

Den Zuschauern klappte die Kinnlade runter. Ohne den Blick abzuwenden kramte Jun in seinen Taschen rum und zog eine Zigarette hervor. Er steckte sie sich in den Mund und zögerte dann. Schließlich nahm er sie langsam wieder raus und warf sie auf den Tisch vor sich. „Fangen wir doch einfach ganz neu an“, sagte er und lächelte entspannt.

Hina nahm sich die Zigarette ohne zu zögern oder eine Miene zu verziehen und zündete sie sich gleich an. Freya saß neben ihr und schaute ihre Kollegen überglücklich und dankbar an.

„Frohes neues Jahr!“

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