Ein Tanz zwischen Uhren und Biologie: Zeit und Digitalisierung

Das Wunder unserer inneren Uhr

„Wie wir Zeit empfinden, ist eine der erstaunlichsten Leistungen unseres Gehirns.“ Dieses Zitat des Neurowissenschaftlers David M. Eagleman führt uns in die faszinierende Welt des menschlichen Zeitempfindens: Jeder Tag beginnt mit dem Erwachen aus unserem Schlaf, in einem Rhythmus, welcher von unserer inneren Uhr gesteuert wird. 

Doch was genau ist das: Die innere Uhr? 

Unser Organismus folgt einer inneren biologischen Rhythmus, der auch unabhängig von äußeren Einflüssen funktioniert. Die Experimente des Höhlenforschers Michel Siffres in den 1960ern, bei denen er zwei Monate isoliert in einer dunklen Höhle verbrachte, zeigten, dass unsere innere Uhr nicht nur Schlaf steuert, sondern auch andere Funktionen wie Blutdruck und Verdauung. Interessanterweise hat jede Zelle ihren eigenen Rhythmus, der auf der Proteinherstellung basiert.

Echo und Nachhall der ersten industriellen Zeit

Die Einführung der standardisierten Zeit im 19. Jahrhundert, initiiert durch die Expansion der Eisenbahnnetze, markierte einen Wendepunkt in unserer Zeiterfahrung. Mit der Greenwich Mean Time (GMT) begann eine Ära, in der der strikte Rhythmus der Industrialisierung unseren Alltag dominierte, oft im Konflikt mit unseren natürlichen Zyklen. Dieser Konflikt zwischen künstlichem Takt und innerer Uhr führt nachweislich zu Stress, Schlafmangel und ungesunden Lebensweisen.

Die Herausforderung liegt nun, besonders für unsere digitalen Ära – der vierten industriellen Revolution – darin, eine Balance zwischen äußerer und innerer Uhr zu finden, um eine Harmonie zwischen unserem Lebensstil und unseren natürlichen Bedürfnissen wieder zu finden.

Gedehnte Momente: Die Kunst der Zeitwahrnehmung in Bewegung und Stillstand

Unser Zeitempfinden ist eng mit unserem Körper und seiner Bewegung verbunden. Das Kleinhirn und die Basalganglien, die Bewegungen steuern, beeinflussen auch, wie wir Zeit erleben. Interessanterweise scheint die Zeit langsamer zu vergehen, wenn wir uns langsam bewegen oder langsam bewegende Objekte beobachten – eine Tatsache, die sogar in Hollywood-Filmen wie „Matrix“ genutzt wurde, um die Illusion einer verlangsamten Zeit zu erzeugen. Soziale Experimente belegen, dass das Tempo unserer Umgebung unser Zeitempfinden prägt. 

In großen Städten scheint die Zeit schneller zu vergehen als in ländlichen Gebieten, und schöne Momente fliegen vorbei, während unangenehme sich ziehen.

Dabei ist auch der Moment, das „Jetzt“  eine Schöpfung unseres Gehirns, geformt durch die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses. Diese Begrenzung ermöglicht es uns, in einer komplexen Welt Informationen zu verarbeiten und zu lernen. 

Die Renaissance der Achtsamkeit im Zeitalter der digitalen Technologie

In unserer von digitalen Technologien dominierten Welt wird viel unserer momentanen Aufmerksamkeit beansprucht. Achtsamkeitspraktiken wie Meditation können uns lehren, im Moment zu verweilen und unsere Gedanken bewusst zu beobachten, was mehr innere Ruhe und ein erfüllteres Leben verspricht.

Das Aufblühen der Stille: Die Expansion der Wellness-Industrie

Der weltweite Boom der Wellness-Industrie, hatte ein Marktvolumen von über 5,3 Billionen US-Dollar im Jahr 2023 und  spiegelt deutlich die wachsende Sehnsucht nach der Rückkehr zum inneren Rhythmus, zur eigenen Zeit, wider. Menschen suchen vermehrt nach Produkten und Dienstleistungen, die ihnen helfen, ihre innere Uhr zu ergründen. Wir  sehnen uns danach, wertvolle Erinnerungen an ein lebenswertes Leben und gute Zeiten zu erschaffen. 

Das Labyrinth in unserem Gehirn: Wie verhalten sich Zeitwahrnehmung und Erinnerungen zueinander?

Die Art, wie wir Erinnerungen speichern und abrufen, beeinflussen ebenfalls unser Zeitempfinden. Rückblickend scheint eine Zeit oft schneller zu vergehen, insbesondere wenn wir weniger neue und abwechslungsreiche Erfahrungen gemacht haben, oder verliebt sind. 

Verfügbarkeitsheuristik: Wenn wir etwas nicht kennen, greifen wir auf verfügbare Bilder in unserem Erinnerungsspeicher zurück. Das sind oft besonders einprägsame katastro- phische, bedrohliche Bilder, Klischees oder Symbole. Auf diese Weise schät- zen wir Gefahren falsch ein und leiten daraus verzerrte Zukunftsprognosen ab.

Der Verfügbarkeitsheuristik folgend, erinnern wir uns eher an außergewöhnliche Erfahrungen höher bewerten, als alltägliche. Dadurch beeinflussen besonders die lebhaftenErinnerungen unser Zeitempfinden. Damit sind unser Zeitempfinden, wie auch unsere Erinnerung komplex und – fehlbar. 

Unser Gedächtnis wird von der Emotion des jeweiligen Momentes geformt. Es lohnt sich also, einen Blick darauf zu werfen, wie Momente zu außergewöhnlichen Erinnerungen werden.

Das rasende Tempo des digitalen Lebens: Der unaufhaltsame Druck der beschleunigten Gesellschaft

Noch nie hatte eine Generation so viel Freizeit, wie die digitalisierte Gesellschaft. Trotz dieses historisch unvergleichlichen Umfangs an Freizeitmöglichkeiten fühlen wir uns oft unter Zeitdruck.

Die Technologien, die zur Zeitersparnis entwickelt wurden, tragen paradoxerweise zu diesem Druck bei, indem sie uns in einen Zustand permanenter Erreichbarkeit und Informationsüberflutung versetzen.

Die Zähmung der Sekunden: Die Versuche, die Zeit und den Moment zu kontrollieren 

Die bewusste Kontrolle und Gestaltung unserer Zeit scheint entscheidend, um den Zeitdruck der digitalen Welt zu bewältigen. Achtsamkeit und Konzentration sollen uns helfen, trotz der Beschleunigung durch Technologie, die Kontrolle über unsere Zeit zurückzugewinnen.

Denn obwohl wir weder unsere Zeit noch unser Schicksal steuern können, liegt es in unserer Macht, jeden Moment bewusst zu erleben und zu gestalten. 

Es liegt an uns, die Balance zwischen der Herrschaft der Uhr und dem Takt unserer Biologie zu halten und unser Leben mit Momenten anzufüllen, die es wert sind, sich zu erinnern. 

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