Vor wenigen Jahrzehnten machte die Babyboomer-Generation es notwendig, ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsleben zu verabschieden, um jüngeren Arbeitssuchenden eine Chance zu geben.
In den 80er Jahren äußerte der damalige Bundesarbeitsminister Deutschlands, Norbert Blüm, die Frage, „warum ältere Arbeitnehmer länger arbeiten sollten, wenn dadurch gleichzeitig jüngere Menschen arbeitslos sind?“
Damals waren bezahlte Arbeitsplätze in den westlichen Industriestaaten knapp, und die Einführung der Altersteilzeit folgte als Reaktion auf diese Herausforderung.
Franz Steinkühler, der damalige zweite Vorsitzende der deutschen Gewerkschaft IG Metall, prognostizierte zu Recht, dass ältere Arbeitnehmer von den Unternehmen regelrecht wie „Hasen“ gejagt würden, um deren Verträge zu beenden und Platz für die nachdrängenden Babyboomer auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen.
Das war einmal: Rente mit 58 Jahren
Die „58er Regelung“, wie sie genannt wurde, war allgegenwärtig, und viele Menschen traten vor Erreichen des 60. Lebensjahres in den Ruhestand. In der heutigen Zeit allerdings steht die westliche Welt nicht mehr vor Massenarbeitslosigkeit, sondern vielmehr vor einem Fachkräftemangel als massive Herausforderung, denn die Babyboomer drängen nicht mehr auf den Arbeitsmarkt, sondern wollen in Rente gehen.
Es ist zu erwarten, dass aufgrund des Fachkräftemangels die älteren Mitarbeiter erneut wie „Hasen“ gejagt werden, diesmal jedoch, um sie um eine Verlängerung ihrer Verträge zu bitten.
Deutsche Rentenwelle: Können wir von Japan lernen?
In Japan ist die Bevölkerungsalterung ebenfalls ein wichtiges Thema. Mit rund 85 Jahren hat Japan eine hohe Lebenserwartung.
Die Fertilitätsrate ist mit 1,31 Kindern je Frau jedoch sehr niedrig, und die japanische Bevölkerung altert stark. Die Renten sind ebenfalls vergleichsweise niedrig. Mit diesen Daten kann Japan beinahe als Blaupause für die zu erwartenden demographischen Entwicklungen in anderen westlichen Ländern gelten.
Über das Rentenalter hinaus tätig bleiben in Japan
Da die Rente in Japan schon heute vielfach nicht ausreicht, um davon leben zu können, hat aktuell jeder vierte Rentner zwischen 65 und 69 Jahren noch einen oder mehrere Jobs.
Der neue Normalfall – Warten auf Arzttermine und Handwerker
Angesichts der Entwicklungen ist es wenig überraschend, dass das Rentenalter in Deutschland bereits auf 67 Jahre gestiegen ist und weitere Erhöhungen diskutiert werden. Der schrumpfende Nachwuchs und die frei werdenden Arbeitsplätze werden immer mehr zum Problem. Jeder, der heute in Deutschland versucht, einen Termin bei einem Facharzt oder einem Handwerker zu bekommen, hat bereits praktische Bekanntschaft mit der neuen Herausforderung des Fachkräftemangels gemacht.
Die einstige Annahme, dass ältere Arbeitnehmer:innen nicht mehr gebraucht werden, verliert zunehmend an Bedeutung. Stattdessen gewinnen ältere Arbeitnehmer:innen aufgrund der abnehmenden Zahl junger Menschen immer mehr an Relevanz für die Unternehmen.
Arbeitswelt im Wandel: Betriebe als Fitnesscenter und Bildungsinstitutionen
Die Förderung der Gesundheit und lebenslanges Lernen wird immer weiter zu wichtigen betrieblichen Themen avancieren, um die fortgeschrittene Altersgruppe intellektuell und fachpraktisch durch passende Qualifizierungsangebote auf dem neuesten Stand zu halten.
Well-being und Identität im Alter
Auch Maßnahmen zum Wohlbefinden gewinnen immer mehr an Bedeutung, um die alternde Belegschaft lange fit und leistungsfähig zu halten. Um den Fachkräftemangel zu bewältigen, ist es absehbar, dass Unternehmen verstärkt ältere Menschen der Babyboomer-Generation als Mitarbeiter rekrutieren müssen. Daher wird es immer wichtiger, die vorhandenen möglichst lange im Unternehmen zu halten und sie zu unterstützen.
Das Ende des Jugendwahns
Im seinem Buch „Alterleben„, das bereits 1999 von dem britischen Wirtschaftsexperten Paul Wallace veröffentlicht wurde, sagte dieser voraus, dass der Jugendwahn ein Ende haben muss.
Schon damals erkannte Wallace einen großen Wandel im Umgang mit dem Alter und der Arbeitswelt. Er betonte, wie wichtig es sei, nicht länger ausschließlich auf die Jugend fixiert zu sein. Heute sehen wir, wie sich die Vorhersagen bewahrheiten und unsere Gesellschaft sich zunehmend mit der Organisation des Lebens einer alternden Gesellschaft auseinandersetzt.
Die menschliche Haltung zur Arbeit
In Japan sind viele Menschen stolz darauf, über das Rentenalter hinaus zu arbeiten, da sie es als eine soziale Verpflichtung und Möglichkeit betrachten, gesellschaftlich nützlich zu sein.
Die im Vergleich zu Deutschland geringeren Renten in Japan bieten einen zusätzlich finanziellen Anreiz für längeres Arbeiten. Noch unterscheidet sich die Einstellung zum Ruhestand in Deutschland aber deutlich von der in Japan, da hier der dritte Lebensabschnitt oft als Zeit für sich selbst angesehen wird.
Doch – liegt es nicht in der anthropologischen Natur des Menschen, dass er den Wunsch verspürt, für die Gemeinschaft, in der er lebt, nützlich zu sein? Und – einen Sinn durch sein Schaffen zu haben?
Das japanische Ikigai als Konzept eines erfüllten Lebens
Ikigai soll Menschen helfen, ihre Lebensziele zu finden, ihre Fähigkeiten zu nutzen und eine tiefere Erfüllung im Leben zu erfahren. Es steht für den Sinn des Lebens, für die „Lebenserfüllung“.
Letztere wird durch das Zusammenspiel von vier Elementen erreicht: Leidenschaft (was du liebst), Berufung (wofür du bezahlt wirst), Beruf (was du gut kannst) und Bestimmung (was die Welt braucht).
Der Zustand eines erfüllenden Lebens ist erreicht, wenn alle diese vier Bereiche sich überschneiden und in Harmonie miteinander verbunden sind.
Für Menschen, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren, einen Sinn in ihr finden und deren Arbeit auch im Alter noch ausübbar ist, könnte Japan eine Orientierung bieten, weil dort Menschen durchschnittlich fünf bis sieben Jahre über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus arbeiten.
Aber – nicht alle Berufe sind bis ins hohe Alter ausübbar, und manche Menschen sehnen sich danach, sich am Ende ihres Lebens anderen Dingen zu widmen. Diese sollten mindestens die Freiheit der Wahl haben, nachdem sie über lange Jahre in die Rentenkassen einzahlten.
Die gerechte Verteilung der Rentenfinanzierung ist eine der bedeutendsten Herausforderungen in der westlichen Welt. In den Betrieben hat nun eine Art neue „Hasenjagd“ begonnen, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Mit Erfolg – schon heute gibt es unter den Senioren immer mehr Menschen, die über das Renteneintrittsalter beruflich aktiv bleiben wollen.
Doch – ein Rentensystem, das auf die Bereitschaft einer alternden Belegschaft allein setzt, ist weder gerecht noch nachhaltig. Die Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft erfordern ein ganzheitliches und zukunftsorientiertes Vorgehen.
Neben der Förderung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen andere Maßnahmen ergriffen werden, um um die soziale Absicherung zu gewährleisten.
Die Politik, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind gleichermaßen gefordert. Nur durch eine umfassende Strategie und eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten können wir die Herausforderungen des demographischen Wandels erfolgreich bewältigen und eine stabile soziale Absicherung für alle Mitglieder unserer Gesellschaft gewährleisten.
Susanne Gold, July 2023