Ein Roman von Mira Steffan
Charlotte saß in ihrem Auto vor Dorotheas Haus und wartete auf sie. Gemeinsam wollten sie zu dem Betriebsfest ihrer Firma. Charlotte war gespannt. Zum ersten Mal machte sie dieses Fest, das alle drei Jahre stattfand, mit. Sie wollte gerade den Radiosender wechseln, als es an der Scheibe der Beifahrertür klopfte und Dorothea sie angrinste. Charlotte öffnete die Tür und mit Dorothea kam ein Duft aus Sandelholz und Moschus in ihren Wagen. Sie beugte sich zu Dorothea und schnupperte begeistert.
„Du riechst toll. Hast du dein Parfüm gewechselt?“
Dorothea grinste, fuhr mit ihrer rechten Hand durch ihr Haar und schüttelte ihre blonde Mähne: „Ja, ich war heute Morgen bei meiner Kosmetikerin, und da lief mir dieses Parfüm über den Weg. Das passt gut zu mir, nicht wahr?“
Charlotte hob ihren Daumen und startete ihr Auto: „Es passt hervorragend zu deinem blauen Kleid.“
„Vielen Dank. Dein Outfit gefällt mir auch sehr gut. Neu?“
„Das ist die Ausbeute von meiner Einkaufstour am letzten Samstag“, sagte Charlotte und zupfte mit der rechten Hand an ihrer rosa Bluse und der schwarzen Chino-Hose, während sie mit der linken das Lenkrad festhielt.
„Gut ausgesucht. Echt chic.“
Charlotte dachte an den Tag und lächelte glücklich: „Justus hat mich beraten.“
Als sie ankamen, war der Parkplatz vor dem Restaurant bis auf zwei Plätze besetzt.
„Da haben wir noch mal Glück gehabt“, sagte Charlotte und fuhr auf einen der Freien.
„Ich würde sagen, wir sind etwas spät dran.“
Charlotte blickte auf die Digitaluhr im Armaturenbrett: „Nur 15 Minuten.“
Als sie das Restaurant betraten, begann Peer Schuster gerade mit seiner Begrüßungsrede. Sie mischten sich so unauffällig wie möglich unter die Kollegen. Ineiner Lücke zwischen zwei Pärchen blieben sie stehen. Ein Kellner kam mit einem silbernenTablett auf dem Sektgläser standen vorbei. Als Charlotte nach einem Glas griff und aufschaute, sah sie Leo Schneider sehr nah bei Ricarda Baldus stehen. Sie schienen sich prächtig zu verstehen. Auch von Weitem erkannte Charlotte, dass Schneider wieder heftig flirtete. Anscheinend kam das gut bei ihr an. Denn ihre Wangen waren tiefrot, und ihre braunen Haare wickelte sie entweder um ihren rechten Zeigefinger oder strich sie hinter ihr Ohr.
Die ist hin und weg. Schade, ich habe ihr einen besseren Geschmack zugetraut, dachte Charlotte, ließ ihre Augen weiterwandern und blieben bei Peer Schuster haften. Sie hörte ihm eine Weile aufmerksam zu. Entweder hatte er schon zu viel von dem Sekt getrunken, oder er hatte einen schlechten Tag. Schuster sprach unzusammenhängend und monoton und verlor mehrmals den Faden. Charlotte blickte zu ihren Kollegen, die entweder gelangweilt den Stiel ihres Cocktailglases zwischen den Finger drehten, auf den Boden starrten oder mit ihrem Nachbarn flüsterten. Trotzdem erhielt Schuster am Ende seiner Rede viel Applaus.
„Das ist pure Erleichterung“, war Dorotheas geflüsterter Kommentar dazu.
Lachend drehte Charlotte sich um, um einen Sitzplatz zu suchen, als sie Schuster auf Dorothea und sich zukommen sah.
„Guten Abend Frau Reimann, guten Tag Frau Dr. Groß. Schön, dass Sie da sind“, sagte er aufgeräumt und schüttelte jeder die Hand, „Frau Reimann, Sie sind ja zum ersten Mal dabei. Ich hoffe, dass es Ihnen gefällt und Sie einen schönen Abend mit uns erleben.“
Doch ehe Charlotte antworten konnte, kam Kevin Meier auf die Gruppe zu. „Herr Schuster!“ rief er aus und lief mit dem ausgestreckten rechten Arm auf ihn zu, nahm seine Hand und schüttelte sie inbrünstig: „Was für eine wunderbare Rede. Sie haben wieder einmal die richtigen Worte gefunden.“
Indigniert blickte Dorothea Charlotte an und verdrehte in ihre Richtung die Augen: „Was für ein Schleimer.“
Unwillkürlich musste Charlotte lachen: „Ein Radfahrer eben.“ „Häh?“ machte Dorothea.
„Na, ein Radfahrer. Nach unten treten, nach oben buckeln. Kennst du nicht Carl Zuckmayers „Der Hauptmann von Köpenick“?“
Dorothea winkte ab: „Puh, das ist lange her. Ich glaube, ich habe es in der Schule lesen müssen.“
„Dann lass mich mal klugscheißen“, sagte Charlotte und hob ihren rechten Zeigefinger, machte ein strenges Gesicht und dozierte mit ernst aufgesetzter Miene: „In dem Theaterstück benutzt Zuckmayer das Wort „radfahren“ als Synonym für kriechen, schleimen und katzbuckeln. Damals war jene Verhaltensweise verpönt, aber anscheinend erfährt sie eine Renaissance“, Charlotte ließ den Zeigefinger sinken und fügte mit einer Grimasse hinzu: „Zumindest bei Meier.“
„So oder so. Das Synonym ist klasse. Ich werde ihn ab heute Radfahrer nennen“, sagte Dorothea und kicherte vor sich hin.
„Ich glaube, wir haben noch mehr Radfahrer in der Fima als ich dachte“, sagte Charlotte und deutete auf die Kollegen, die sich um den Geschäftsführer scharten und ihn laut und vernehmlich für seine Rede lobten.
„Komm, lass uns zum Buffet gehen, bevor die Radfahrer mit ihren Lobpreisungen fertig sind und uns alles wegfressen“, aufmunternd zog Dorothea Charlotte mit sich in Richtung der Anrichte mit dem Essen.
„Das sieht gut aus“, stellte Dorothea fest und belud ungeniert ihren Teller, „am besten nehme ich auch direkt den Nachtisch mit.“
„Du bist ein ganz schöner Nimmersatt, liebe Freundin“, sagte Charlotte ironisch lächelnd und schaufelte sich ebenfalls ihre Lieblingsspeisen auf ihren Teller.
„Habe ja auch zwei Wochen kaum was gegessen“, sagte Dorothea und saugte ihre Wangen nach innen, so dass rechts und links in ihrem Gesicht Löcher erschienen.
Charlotte musste so lachen, dass ihr zwei Kartoffeln von ihrem Teller herunterpurzelten.
„Wie schön, dass die Damen so einen Spaß haben.“
Überrascht schaute Charlotte, die gerade dabei war, die Kartoffeln wieder auf ihren Teller zu bugsieren, auf und sah Burkhard Fligge neben sich stehen. Ohne nachzudenken trat sie einen Schritt zurück. Sie konnte seine devote und schmierige Art nicht leiden. Trotzdem bemühte sie sich, freundlich zu sein.
„Guten Abend Herr Fligge. Auch hier“, sagte sie, denn was besser fiel ihr partout nicht ein.
Vertraulich rückte Fligge näher, so dass Charlotte sein Deo richten konnte. Die Distanzzone einer Person zu respektieren, gehörte anscheinend nicht zu seinen Stärken. Er neigte seinen Kopf zu ihrem Ohr und zwinkerte ihr zu. „Reservieren Sie auf ihrer Tanzkarte doch bitte einen Tanz für mich“, sagte er flüsternd und atmete seinen Mundgeruch in ihre Richtung. Schaudernd trat Charlotte drei Schritte in Richtung Dorothea und verabschiedete sich hastig von Fligge, der sich schon bereit gemacht hatte, um den Abstand wieder zu verringern. Sie stieß Dorothea, die den Nachtisch ganz verliebt anschaute, in die Taille: „Ich bin fertig. Kommst du?“
Dorothea, die die Szene beobachtet hatte, grinste amüsiert: „Willst du den reizenden Fligge nicht erhören?“
„Junge Dame. Ich bin eine verheiratete Frau“, sagte Charlotte gespielt entrüstet, „such uns lieber einen Sitzplatz, statt so unsittliche Ideen zu verbreiten.“
Lachend balancierte Dorothea ihren Teller in der einen Hand und ihren Nachtisch in der anderen zum Tisch ihrer Kollegen aus der Rechtsabteilung. Es war eine lustige Runde, und die Zeit verging wie im Flug. Aber als der DJ mit seiner Arbeit begann, und Charlotte Fligge auf sich zukommen sah, zupfte sie an Dorotheas Ärmel: „Lass uns nach Hause gehen.“ Und als Fligge an ihrem Tisch angekommen war, befanden sie sich mitten in der Verabschiedung.
Es war der Montag nach dem Betriebsfest. Und in den Fluren und Büros standen Gruppen zusammen und tuschelten und kicherten. Charlotte grinste amüsiert und betrat den Besprechungsraum. Schuster, der vor dem Besprechungstisch stand und mit Heinze redete, blickte auf und deutete auf die beiden freien Stühle vor ihm. Charlotte steuerte darauf zu, als sich Schuster und Heinze umdrehten und sich auf die Stühle setzten. Irritiert hielt Charlotte inne. Hatte sie das Zeichen falsch verstanden? Verdattert blieb sie stehen und versank in einen tiefen Morast aus Verwirrung. Hatte jemand im Raum diese unangenehme Situation beobachtet? Was dachten die Kollegen jetzt? Wie peinlich, peinlich, peinlich. Panik stieg in ihr hoch. Was sollte sie machen? Sie fühlte sich wie festgenagelt am Boden. Schnell, schnell, irgendetwas musste ihr doch einfallen. Sie hörte ein Räuspern und das beendete ihre trudelnden Gedanken. Sie wischte sie energisch weg und steuerte einen freien Stuhl Schuster gegenüber an. Erleichtert ließ sie sich auf das Polster fallen.
Schuster erhob sich: „Meine Dame, meine Herren. Ich habe sie heute zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengerufen, um mit ihnen ein neues Projekt zu besprechen. Die wirtschaftliche Lage in unserem Land ist zurzeit gut. Das merken wir auch in unserem Unternehmen. Wir haben einige neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt. Das stellt uns vor ein Problem. Wir haben zu wenig Platz für die Anzahl der Angestellten. Wir müssen uns dringend räumlich vergrößern. Wir haben verschiedene Optionen. Wir können anbauen, das jetzige Gebäude um ein weiteres Stockwerk erweitern oder umziehen. Um die Lage und Möglichkeiten zu sondieren, möchte ich von Ihnen Frau Reimann, dass Sie eine Analyse erstellen. Die anwesenden Herren bitte ich darum, Frau Reimann mit allen notwendigen Informationen zu unterstützen.“
Ein Gemurmel wurde laut, das Schuster unterbrach: „Meine Herren, alle weiteren Diskussionen verlegen wir auf den Zeitpunkt, wenn wir Frau Reimanns Analyse zu den entsprechenden Möglichkeiten vorliegen haben.“
Damit war die Besprechung beendet.
Marktchancen, Bedarf und Zielgruppenanalyse, Kosten, Kapazitäten, Baupläne und Gewinnprognosen bestimmten die nächsten Wochen Charlottes Berufsleben. Hin und wieder versuchte sie sich in gedanklichen Pausen an geraden Linien, doch ansonsten verschwand die Welt der Kunst aus ihrem Bewusstsein bis sie eine E-Mail von Lana Sass erreichte:
Sehr geehrte Frau Reimann,
unser Treffen in meiner Galerie hat mich nachhaltig beeindruckt. Deswegen möchte mein Angebot noch einmal in Erinnerung rufen. Ich weiß, dass das Gehalt, das ich Ihnen bieten kann, Ihrer Qualifikation nicht gerecht wird. Aber ich habe Ihre Leidenschaft für die Kunst gesehen. Ich bin davon überzeugt, dass die Arbeit Sie sehr erfüllen würde. Es wäre ein zugleich kunstbezogenes wie verkäuferisches Tun. Kurz: Es ist ein wunderschöner Beruf, bei dem neben der Leidenschaft für Kunst betriebswirtschaftliche Kenntnisse ebenso wichtig sind. Zwar erschaffen wir in der Galerie selbst keine Kunstwerke. Künstler aber sind auch wir. Eine Galerie erfolgreich zu führen, ist schließlich eine Kunst. Wir müssen den Markt analysieren, Investitionen durchkalkulieren, Künstler wie Kunden beraten, werben und selbstverständlich immer wieder verkaufen. Dafür sind Produktkenntnisse ebenso wichtig wie eine solide kaufmännische Qualifikation. Dafür wären Sie genau richtig. Ich benötige Unterstützung und Beratung bei der Buchhaltung. Mein Schwerpunkt ist die Kunst, Ihrer die Verwaltung von Geld. Ich glaube, dass wir ein gutes Team wären.
Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören.
Mit freundlichen Grüßen
Lana Sass
„Wow“, sagte Justus am Abend, nachdem er die Mail gelesen hatte.
„Ja, ich war auch ganz perplex.“
„Was willst du jetzt machen?“
„Ich weiß es immer noch nicht. Ich glaube, ich habe ich zu wenig Ahnung von Kunst.“ „Hast du Ahnung von Kunststoffverpackungen?“
Charlotte lachte kurz auf: „So gesehen…“ Nachdenklich fügte sie hinzu: „Vielleicht mag ich Kunst nur nicht als schnödes Verkaufsobjekt betrachten.“
„Nun, wenn niemand Kunst verkauft, wovon sollen dann Künstler leben?“
Geistesabwesend rieb Charlotte ihre Nase: „Auch wieder wahr. Das schlechte Gehalt liegt mir aber ebenfalls im Magen.“ Und in Gedanken dachte sie an das Gespräch mit Dorothea.
Am nächsten Tag beantwortete Charlotte Lara Sass‘ Mail mit einer Absage. Beim Schreiben überkam sie das diffuse Gewühl, dass sie damit etwas verpasse. Doch das schüttelte sie energisch ab. Was sie tat, war genau richtig, redete sie sich zu. Mit einem Mal kam ihr eine neue Idee. Wenn sie schon die Kunst aufgab, konnte sie vielleicht etwas für Julia in Bewegung setzten. Deswegen empfahl sie sie in ihrem Schreiben an die Galeristin. Die Antwort kam noch am selben Tag:
Sehr geehrte Frau Reimann,
mit Bedauern habe ich Ihre Absage zur Kenntnis genommen. Sollten Sie es sich allerdings doch noch anders überlegen, dann melden Sie sich bitte bei mir. Jederzeit!
Mit der jungen Künstlerin setzte ich mich sehr gerne in Verbindung. Vielen Dank für die Empfehlung.
Mit freundlichen Grüßen
Lara Sass