Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 16

Ein Roman von Mira Steffan

„Hier musst du rechts reinfahren.“ Charlotte saß auf dem Beifahrersitz und gab Justus gutgelaunt Anweisungen.

Prompt verdrehte er die Augen: „Ich weiß, wie ich fahren muss. Ich kenne die Straße.“

Charlotte ließ sich ihre gute Laune nicht verderben. Sie grinste und streckte ihm die Zunge raus. Justus reagierte nicht. Stattdessen schaute er ohne eine Miene zu verziehen durch die Frontscheibe auf die Straße. Diesen Blick kannte sie. Den packte Justus immer aus, wenn er etwas oder jemanden albern fand.

Sie waren auf dem Weg zu Dorotheas Geburtstagsparty. Charlotte war die einzige, die Dorothea aus dem Büro eingeladen hatte. Und das freute sie sehr.

„Wer kommt denn alles?“, fragte Justus nach einer Weile in unbehaglichem Schweigen.

Charlotte zuckte mit den Schultern und sagte knapp: „Freunde, Familie und ehemalige Kollegen. Keinen, den wir kennen.“

„Sie lebt alleine?“

Charlotte nickte: „Dorothea ist seit drei Jahr geschieden und kinderlos.“

Sie hielten vor einem modernen Mehrfamilienhaus im Bauhausstil. Der Aufzug brachte sie direkt in Dorotheas Penthouse. Wow, dachte Charlotte, als die Tür zur Seite glitt und den Blick auf eine geschmackvoll und teuer eingerichtete Wohnung freigab. Dorothea kam ihnen entgegen, begrüßte sie herzlich und nahm ihnen die Mäntel ab, die in einem Wandschrank verschwanden. Ihr Wohnzimmer war ein heller, lichtdurchfluteter Raum mit einem Kamin, hellem Parkettboden und Panoramafenstern mit Blick auf eine Dachterrasse und den Rhein. Beeindruckt schaute Charlotte sich um, als Dorothea sie zu einem Stehtisch dirigierte und ihren Bekannten vorstellte, deren Namen sie sofort wieder vergaß. Ein etwa 14-jähriges, blondes, schlankes Mädchen kam mit einem offenen, freundlichen Lächeln und einem Tablett Getränke auf sie zu.

Mit stolzem Blick stellte Dorothea sie vor: „Das ist Anna, meine Nichte.“

Justus und Charlotte nahmen je ein Glas Sekt und lächelten unwillkürlich zurück. „Kommt, ich zeige euch die Wohnung.“

Im Wohn- und Esszimmer standen eine gekonnte Mischung aus modernen und antiken Möbeln. An den Wänden hingen große, abstrakte Bilder, auf dem Boden standen Skulpturen aus Eisen und Holz. Die weißen Küchenmöbel strahlten in Hochglanz. Alle Haushaltsgeräte, von der Kaffeemaschine bis zum Toaster waren aus gebürstetem Stahl, abgesetzt mit schwarzen Elementen. Das Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Badezimmer und Gäste-WC hatten ebenfalls die klaren Linien wie die anderen Räume. Charlotte war begeistert von dem eleganten Stil und sagte es auch.

Dorothea nickte erfreut: „Das war das Gute an der Scheidung. Ich konnte mich nach meinem Geschmack einrichten.“

„Tante Dorothea, der Caterer ist gerade gekommen und fragt, wo er das Essen aufbauen soll.“

„Entschuldigt mich bitte. Ich muss mal nach dem Rechten sehen“, sagte Dorothea, verschwand mit ihrer Nichte Richtung Esszimmer. Charlotte stand Justus allein gegenüber. Wortlosigkeit senkte sich über sie. Das machte Charlotte nervös. Sie konnte Stille nicht gut ertragen. Fieberhaft suchte sie nach einem Gesprächsthema und fing planlos an zu plappern: „Tolle Wohnung, nicht wahr, sehr geschmackvoll. Schau mal, die Skulpturen sind außergewöhnlich und das Bild auch.“ Sie deutete auf ein ungefähr 1,50 Meter mal 1,50 Meter großes Gemälde das Wasserwellen mit weißen Schaumkronen darstellte. „Diese Dynamik und Tiefenwirkung. Es ist, als würden die Wellen aus dem Bild springen.“

Wie von einem Magnet angezogen, ging Charlotte auf das Bild zu. Justus folgte ihr und schaute sich demonstrativ im Raum um, nippte an seinem Sektglas: „Sie hat einen Blick für gute Kunst“, sagte er nach einer Weile anerkennend und sah Charlotte länger als notwendig an. Sie konnte den Blick nicht einordnen. Und weil sie sich unsicher fühlte, fragte sie aggressiv: „Was?“

„Ich hatte ganz vergessen, wie sehr Malerei dich begeistert“, sagte er und lächelte.

Charlotte lächelte erfreut und geschmeichelt zurück: „Ja, ich auch. Komm, lass uns die anderen Bilder anschauen.“

Als Dorothea das Buffet eröffnete, diskutieren Charlotte und Justus gerade intensiv über eine Skulptur. Justus unterbrach seine Überlegungen zu den Gesichtszügen und der Körperhaltung der Figur: „Ich habe Hunger. Und mit leerem Magen fällt mir nichts Kluges mehr ein.“ Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Dort, wo ihre Handflächen sich berühren, prickelte ihre Haut. Charlotte suchte Justus Blick und fand eine liebevolle Antwort. Er hatte es also auch bemerkt. Ehe sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, hatten sie das Buffet erreicht. Davor stand ein Paar, das unschlüssig auf die vielen verschiedenen Speisen schaute. Beide waren elegant angezogen. Das signalrote Kostüm der Frau wurde durch eine weiße Bluse ergänzt. Ihre knallrot geschminkten Lippen betonten das blasse, fast weiße Gesicht, das von schwarzen Haaren, geschnitten zu einem Bob, eingerahmt wurden. Der Mann wirkte in seinem blauen Anzug, weißen Hemd mit grauer Krawatte overdressed. Charlotte begann einen Smalltalk über das abwechslungsreiche Buffet, um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen. Doch das Paar schaute sie nur stumm von oben bis unten an. Charlotte ignorierte die Unhöflichkeit und versuchte es weiter. Nun über die Kunstgegenstände. Doch die Frau kniff nur ihre Lippen zu einem blutroten Strich zusammen. Sehr unvorteilhaft, dieser Lippenstift. Doch der Mann lächelte. Na also. Da sah Charlotte, dass die Mundwinkel der Frau nach unten sackten.

„Er betrügt sie. Und sie weiß das. Sie hasst jede gut aussehende Frau“, hörte Charlotte Justus Stimme flüsternd an ihrem Ohr.

Sie unterdrücke ein Kichern, winkte unbestimmt mit der Gabel, wandte sich ihrem Teller zu, den sie stumm füllte und überließ die beiden lieber sich selbst. Justus zwinkerte ihr zu und begann ebenfalls seinen Teller vollzuladen. Das wortlose Verstehen, dieses harmonische Miteinander: Charlottes Herz flog Justus zu. Es war wie früher, zu Beginn ihrer Beziehung, als sie noch über mehr sprachen, als über Alltagsdinge. Wohin waren all die kraftvollen Gefühle verschwunden?

Seine Stimme unterbrach ihre Gedanken: „Bist du fertig?“

Charlotte, die an das Ende des Buffets angelangt war, blickte hoch und sah Justus dort stehen und auf sie warten. Sie nickte. Und mit dem Essen steuerten sie einen freien Stehtisch im Wohnzimmer an.

Gerade steckte sich Charlotte ein Stück Lachs in den Mund, als Dorothea mit einer blonden, schlanken Frau in ihrem Alter auf ihren Tisch zusteuert: „Darf ich euch Marianne vorstellen. Wir haben mal in derselben Kanzlei gearbeitet.“

Justus fragte sie freundlich nach ihrem Fachgebiet. Und während die beiden sich über baurechtliche Dinge austauschten, raunte Dorothea Charlotte ins Ort: „Ich kann sie nicht ausstehen“, und verdrehte vielsagend ihre Augen.

„Warum hast du sie dann eingeladen?“ fragte Charlotte flüsternd.

Dorothea zuckte mit den Schultern, zog Charlotte etwas vom Tisch weg und drehte sich mit ihren Rücken so zu Justus und Marianne, dass Charlotte sie nicht mehr sehen konnte: „Weil sie in dem Moment, als ich einen anderen sehr netten Kollegen aus der alten Kanzlei eingeladen habe, dazu kam. Da habe ich mich blöderweise verpflichtet gefühlt, sie auch einzuladen.“ Dorothea zog ihre Augenbrauen hoch und verzog bedauernd ihre Mundwinkel.

Charlotte streichelte tröstend Dorotheas rechten Oberarm: „Das kennen ich. Hätte mir auch passieren können.“

Dorothea grinste schief, drehte sich wieder zu dem Tisch und deutete auf Charlottes Teller: „Ich glaube, dein Essen wird kalt. Iss, bevor es nicht mehr schmeckt.“

Charlotte zwinkerte ihr zu und verspeiste dann genüsslich und selbstvergessen ihren Fisch. Doch als Marianne abrupt das Thema wechselte und nach Dorotheas geschiedenen Mann fragte, horchte sie auf. Auf die Frage, wie es ihm gehe, zuckte Dorothea mit den Schultern: „Keine Ahnung. Das interessiert mich nicht. Wir sind seit drei Jahren geschieden.“

Marianne ließ nicht locker: „Du hörst doch bestimmt hin und wieder von ihm?“

„Nein“, sagte Dorothea, drehte sich abrupt um und winkte einer Frau in einem braunen Hosenanzug zu, die heiter zurückwinkte und an den Tisch geschlendert kam. Dorothea strahlte sie an. „Das ist meine Schwägerin Ute, sie ist Annas Mutter“, sagte sie an Charlotte gewandt.

„Ach, sie gehören auch zur Familie. Wie nett“, sagte Marianne in einer schrillen Tonlage. Ihre rechte Hand schoss knapp an Dorotheas Schulter vorbei, um Utes Hand zu schütteln. Mit einem irritierten Gesichtsausdruck ließ Ute das geschehen. Dorothea stellte sie ihr daraufhin vor.

„Ich wollte Dorothea gerade für ihre Tapferkeit loben“, sagte Marianne in einem theatralischen Ton.

Utes Gesicht war ein einziges Fragezeichen: „So? Ist sie krank?“ Und fuhr an Dorothea gewandt hinzu: „Geht es dir gut?“

„Nein, nein“, mischte sich Marianne ein und winkte mit ihrer rechten Hand ab, „wir sprachen über ihre Scheidung. Alle Achtung, wie Dorothea das verkraftet hat. Sie hat sich wirklich gut gehalten. Aber ich sage immer: Jeder hat sein Päckchen zu tragen.“

Ute runzelte kurz die Stirn und fragte dann unvermittelt und betont höflich: „Sie sind auch Rechtsanwältin?“

Marianne nickte und verstand den Themenwechsel als Aufforderung über die Herausforderungen als Frau in einem juristischen Beruf zu reden. Charlotte wandte sich wieder ihrem Essen zu und ließ das Gespräch über ihre Wichtigkeit an sich vorbeiziehen. Munter wurde sie erst wieder, als Marianne mit ihrem leeren Glas in Richtung Küche verschwand und sie Dorothea erleichtert aufatmen hörte. Fragend hob sie ihre Augenbrauen.

„Ich kann es nicht leiden, wenn man mich auf meine Vergangenheit reduziert.“

Ute klopfte Dorothea lächelnd auf die Schulter: „Nimm es nicht so schwer.“ Und nach einer kurzen Pause fügte sie grinsend hinzu: „Vielleicht ist sie ja spitz auf deinen Ex.“

Dorothea schnalzte genervt mit der Zunge und verdrehte die Augen, musste dann aber lachen. Spontan hob Charlotte ihr Sektglas: „Auf dich und die Gegenwart.“

Dorothea prostete ihr zu: „Auf uns.“

Sektgläser klirren leise aneinander und die angespannte Stimmung verschwand wie Eiswürfel im heißen Wasser.

„Da sind ja zwei meiner Lieblingsfrauen.“ Die tiefe Stimme gehörte zu einem attraktiven, blonden Mann Ende 30, der seine Arme um Ute und Dorothea legte.

Dorothea grinste ihn an. „Das ist einer meiner Lieblingsbrüder“, sagte sie in Charlottes und Justus Richtung, „dieser hier heißt Robert. Er ist mein großer Bruder.“

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