Ein Roman von Mira Steffan
Irgendwas stimmte bei der Aufstellung der Kosten nicht. Charlotte rechnete noch mal nach, dann mit dem Tischrechner. Es war eindeutig. Da hatte jemand in der Buchhaltung nicht nur die Zahlen falsch zusammengerechnet, sondern auch eine Rechnung übersehen. Sie nahm den Stapel Papiere und ging hinüber zum Vorzimmer ihres Chefs, klopfte an und trat ein. Seine Sekretärin telefonierte und winkte sie durch. Die Tür zu Heinzes Büro stand offen. Günter Heinze saß am Schreibtisch. Glaubte sie zumindest, denn von seinem Stuhl sah sie nur die die Rückenlehne. Offenbar genoss er die Aussicht aus seinem Bürofenster. Charlotte räusperte sich. Er drehte sich immer noch nicht um.
„Herr Heinze?“
Keine Bewegung, kein Ton. Er wird doch wohl nicht eingeschlafen sein. „Hallo Herr Heinze?!“
Noch immer nichts. Oh. Mein. Gott. Charlotte schlug die Hand vor ihren Mund. Er hatte einen Schlaganfall und war tot. So tot wie Norman Bates Mutter im Hitchcock Thriller „Psycho“. Ihr wurde heiß, dann kalt. Doch da – langsam drehte sich sein Stuhl in ihre Richtung. Heinzes blaue Augen schauten sie ausdruckslos an. Sie war so froh, dass er quicklebendig war, dass sie zunächst nicht auf das achtete, was er sagte. Als sie seinen fragenden Blick sah, schüttelte sie ihre Benommenheit ab und wedelte mit den Papieren: „Ich habe einen Fehler gefunden. Darf ich Ihnen den mal zeigen?“
„Wenn es sein muss“, sagte er mit einer Stimme, die sich wie das Öffnen einer alten Tür in verrosteten Scharnieren anhörte.
Sie trat neben ihn und fing mit ihren Erklärungen an, als er sich seiner Schreibtischlampe zuwandte, mit dem Zeigefinger über den Lampenschirm fuhr und sagte: „Ganz schön viel Staub. Schlampig gearbeitet, die neue Putzfrau.“
Irritierte hielt sie inne und blinzelte verdutzt. Was sollte sie antworten? Sollte sie überhaupt antworten? Was erwartete er von ihr? War das eine Provokation? Musste sie freundlich sein? Sie wand sich innerlich. Und weil ihr alles so unangenehm war, wurde sie geschwätzig. Sie hörte sich doch tatsächlich ernsthaft über den Staub und schlechte Putzfrauen plappern. Nachdem sie das Thema genug betrachtet hatten, durfte sie mit ihrem Anliegen fortfahren. Sie zeigte ihm die Fehler.
Er nickte zustimmend: „Sie haben recht. Reden Sie mit Meier. Und dann sollen sie die Berechnung neu machen.“
Während Charlotte den Gang zu ihrem Büro hinunter lief, übermannte sie Unsicherheit und Verwirrung. Was war da eben passiert? Was sollte das Putzfrauen-Thema? Die Flamme des Ärgers schoss durch ihren Körper. Sie legte die Papiere auf ihren Büroschreibtisch und steuerte die Toilettenräume an. Sie brauchte dringend für ein paar Minuten Ruhe. Sie zog die Kabinentür zu, schloss ab und setzte sich auf den Toilettendeckel. Nervös rieb sie sich die Stirn, hinter der es angefangen hatte schmerzhaft zu pochen. Was hatte sie Heinze getan? Was wollte er ihr mit diesem Verhalten sagen? Vielleicht, dass sie nicht gut genug für diesen Job war?
„Männer handeln und reden anders als wir Frauen. Das sind Machtspiele und Imponiergehabe“, Susanne sah Charlotte belustigt an.
Es war ihr samstäglicher Kaffeeplausch. Genießerisch schob Charlotte den Löffel mit dem Latte-Macchiato-Schaum und der extra Portion Zucker, die sie gerade großzügig darauf verteilt hatte, in den Mund.
„Mhm“, Charlotte verdrehte genüsslich die Augen.
„Ein Tipp von mir: Schmeiß dein Harmoniebedürfnis über Bord und eliminiere dein Liebes-Mädchen-Syndrom. Es bringt dich nicht weiter. Du kannst nicht von allen gemocht werden.“
„Mir ist das aber unangenehm.“
„So funktioniert das nun mal in unserer Männerwelt. Da können alle noch so viel von Emanzipation reden. Unsere Gesellschaft ist eine patriarchalische.“
„Ich mag diese Spielchen nicht.“
Susanne zuckte mit den Schultern: „Musst du auch nicht. Aber das zu akzeptieren und einen Weg zu finden, damit umzugehen, wäre einfacher für dich.“
Vehement schüttelte Charlotte ihren Kopf: „Für mich sind ein gutes, soziales Klima, kollegialer Umgang und Vernetzung viel wichtiger.“
„Darauf musst du nicht verzichten. Du solltest aber schon daran denken, dass in den Unternehmen immer noch die von Männern geprägte hierarchische Ordnung gilt“, sagte Susanne.
Der Schweiß kroch die Wirbelsäule entlang, ihr Kopf fühlte sich an, als hätte sie ihn in den Ofen gesteckt, ihre Knie waren kurz vor dem Einknicken und ihr Herz fuhr Achterbahn. Nie, nie, nie mehr wieder würde sie an einem Halbmarathon teilnehmen. Ihre Kollegin Dorothea Groß, 34 Jahre, groß, blond, promovierte Juristin, hatte sie überredet, für ihre Firma bei dem Wettkampf mitzumachen. Blödsinnige Idee. Von den 300 Mitarbeitern machten nur 20 mit, davon fünf Frauen. Eine war Charlotte. Was sie tröstete: Dorothea war genauso lahm wie sie und sah genauso mitgenommen aus. Als sie mit der letzten Gruppe durch das Ziel liefen, standen einige männliche Kollegen feixend am Wegesrand. Hinter der Ziellinie kamen sie schnaufend und keuchend zum Stehen und rangen nach Luft.
„Die Frau Doktor sieht aber ganz schön fertig aus. So ein Marathon ist eben nix für blonde Juristinnen“, die schadenfrohe Stimme gehörte einem Typen mit Bierbauch und Glatze.
Charlotte holte Luft, um ihn darüber aufklären, dass sein Verhalten unmöglich und chauvinistisch sei, als sie Dorotheas Hand auf ihrem linken Unterarm spürte. Sie hielt inne und beobachtete, wie Dorothea sich zu ihrer ganzen Größe, nämlich 1,79 Meter, aufrichtete, gelangweilt in Richtung des Aggressors schaute, ruhig die rechte Hand hob, ihm den Mittelfinger zeigte, sich gelassen wieder zu ihr drehte und sagte: „Ich hab Durst. Lass uns was trinken gehen.“ Und mit weit ausholenden Schritten lief Dorothea langsam Richtung Getränkestand. Der Glatze-Bierbauch-Typ lachte anerkennend. Hurtig tippelte Charlotte hinter ihr her, ganz beeindruckt von ihrer Reaktion.
„Wer war das?“, fragte Charlotte neugierig.
Dorothea winkte ab: „Ein Idiot. Er arbeitet für die Konkurrenz.“
„Ihm den Stinkefinger zu zeigen, hätte ich mich nicht getraut.“
Sie zuckte mit den Schultern: „Ich habe drei Brüder. Da lernt man, wie man sich Respekt verschafft.“
„Wir müssen unbedingt mal zusammen einen Abend verbringen. Und dann erzählst du mir ausführlich, wie man mit Männern umgeht“, sagte Charlotte.
„Machen wir.“ Verschwörerisch grinste Dorothea, hob ihre rechte Hand und klatschte mit Charlotte ab.
„Sehen Sie, hier ist es falsch zusammengerechnet und diese Rechnung ist übersehen worden.“ Charlotte saß Kevin Meier, dem Leiter der Finanzabteilung, gegenüber. Absichtlich hatte sie keinen Namen genannt, um ihn nicht in die Enge zu treiben. Denn, auch wenn einer seiner Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter den Fehler gemacht hatte, hätte es ihm bei der Überprüfung auffallen müssen. Mit kalter, undurchdringlicher, ernster Miene musterte er die Blätter mit ihren Aufstellungen. Unruhig rutschte Charlotte auf meinem Stuhl hin und her. Mit Mühe unterdrückte sie den Impuls, aus dem Zimmer zu rennen. Nach einer Weile schaute er hoch.
„Ich kläre das und melde mich“, sagte er in einem scharfen Ton, der keinen Wiederspruch duldete und ihr das Gefühl vermittelte, etwas Schlimmes getan zu haben. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete er sie.
Mit großem Unbehagen verließ sie sein Büro, vorbei an seiner Sekretärin Heidi Lah, die mit dünnen Lippen wichtig in den Telefonhörer tuschelte: „Nein, das kann ich auch nicht nachvollziehen….Ja, da sind wir ganz auf einer Wellenlinie….Du siehst das auch schwierig?…Das ist eine Faustformel im Marketing….Hier macht doch jeder, was er will, aber ich habe den Fokus auf mir.“
Charlotte konnte nicht anders. Die Anspannung machte sich Luft und gegen ihren Willen stieg ein amüsierter Ausdruck in ihr Gesicht und hob ihre Mundwinkel. Meiers Sekretärin quittierte das mit einem sehr bösen Blick. Schnell drehte sich Charlotte zur Seite, lief auf den Flur und ließ dem Lachen, das in ihrer Kehle hochblubberte, freien Lauf.
Immer noch kichernd betrat sie ihr Büro. Kaum hatte sie an ihrem Schreibtisch Platz genommen, flog die Tür auf. Heinze polterte hinein, fläzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und ihre Heiterkeit nahm Reißaus.
„Wie ist es gelaufen?“ fragte er, beugte sich vor und stützte sich mit seinem Unterarm auf ihrer Schreibtischplatte ab.
Unwillkürlich drückte sie sich gegen die Stuhllehne und rollte mit ihrem Stuhl ein paar Zentimeter weg vom Tisch.
„Er will es überprüfen.“
„Gut, gut“, Heinze strich sich nachdenklich über sein Kinn, „dann schauen wir mal.“
Abrupt stand er auf und zog seine Hose hoch. Mit der Hand auf der Türklinke drehte er sich noch mal zu ihr um: „Ich bin übrigens gleich weg. Meine Frau und ich haben eine Einladung zu einer Ausstellungseröffnung.“ Es folgte ein Monolog über den Künstler, dessen Werke man unbedingt gesehen haben müsse. Charlottes Aufmerksamkeit erlahmte. Unbestimmt nickte sie hin und wieder und hoffte, dass sie das an den richtigen Stellen tat. Doch Heinze schien nichts zu merken. Nach einer Weile hielt er inne, schaute auf seine Armbanduhr: „So spät schon! Tut mir leid, dass ich unser Gespräch unterbrechen muss. Meine Frau wartet.“
Und ehe Charlotte etwas erwidern konnte, verließ er wieselschnell ihr Büro.