Episode 5 – Das Labyrinth der Charlotte Reimann

Ein Roman von Mira Steffan

Charlotte und Justus hatten sich zum ersten Mal auf einer Erst-Semester-Party getroffen. Sie stand am Rand der Tanzfläche und ließ betont lässig ihren Blick über die Menge gleiten. Mit einer Größe von 1,94 Metern und seinen langen blonden, leicht gewellten Haaren war er ihr in dem Gedränge sofort aufgefallen. Entspannt lehnte er an der Theke zur Tanzfläche und unterhielt sich mit einem anderen Studenten. Susanne folgte Charlottes Blick und grinste: „Komm.“ Und ehe Charlotte Luft holen konnte, standen sie vor den beiden. „Hast du mal Feuer?“ fragte Susanne den anderen und wedelte mit ihrer Zigarette vor seinem Gesicht hin und her.

Er schaute Susanne an, wurde rot, stotterte und fummelte umständlich ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Als die Flamme aufloderte und Susanne ihre Zigarette daran hielt, sah Charlotte, dass auch ihr Gesicht eine zarte Röte überzog. Zwei Stunden später verließ sie mit Paul gemeinsam die Party. Vier Treffen und zwei Monate später waren sie ein Paar. Ein Jahr danach heirateten sie. Bei Justus und Charlotte dauerte es länger. Denn Justus war mit Brigitta, einer großen, blonden Medizinstudentin, zusammen, die zwei Minuten später, nachdem Susanne und Charlotte sich zu Paul und Justus gesellt hatten, neben ihm stand und ihre Arme besitzergreifend um seinen Hals schlang. Da Charlotte sich grundsätzlich nicht in Beziehungen drängte und sie sich ohne Susanne etwas fehl am Platze gefühlte, verließ sie die Party kurz nach Susanne und Paul. Hin und wieder sahen Justus und sie sich auf den Fluren und in dem Außengelände des Universitätsgebäudes und natürlich auch auf Susannes und Pauls Hochzeit. Jedes Mal nickten sie sich schüchtern zu und blickten sich lächelnd an.

Dann verloren sie sich aus den Augen. Von Paul hörte sie, dass er nach dem Abschluss seines Ingenieurstudiums wegen seiner Promotion zu einer anderen Universität gewechselt hatte. Doch drei Jahre später trafen sie sich unverhofft wieder. Charlotte war inzwischen Leiterin der Controlling-Abteilung in einem großen Industriekonzern, Justus Projektleiter. Dass er auch bei demselben Konzern arbeitete, wusste sie nicht, da sich ihre Abteilungen in unterschiedlichen Gebäuden befanden. Erst beim alljährlichen Betriebsfest trafen sie aufeinander. Charlotte stand mit einem Kollegen zusammen, ein Sektglas in der Hand, und diskutierte über die allgemeine wirtschaftliche Lage.

„Entschuldige, kennen wir uns nicht?“

Charlotte schaute in die Richtung des Fragestellers und in blaue Augen. Sie erkannte ihn sofort. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich und in ihrem Sprachzentrum herrschte Stille. Was sollte sie sagen? Wie reagieren? Auf einmal verwandelte sich die Stille in ihrem Kopf in eine unbändige Freude. Am liebsten hätte sie laut „Klar“ herausgebrüllt. Mit aller Kraft hielt sie sich zurück, mahnte sich zur Ruhe, holte tief Luft und nickte zögerlich. Trotzdem versagten ihre Stimmbänder. Mit der Piepsstimme einer Fünfjährigen hörte sie sich sagen: „Ich glaube. Vom Studium?“

Justus strahlte sie an: „Wusste ich es doch. Du bist Charlotte.“ Sie nickte, weil sie ihrer Stimme nicht mehr traute. Er hielt ihr seine rechte Hand hin: „Ich heiße Justus Reimann.“ „Ich weiß“, rutschte ihr heraus, und er lächelte erfreut.

Viel verändert hatte er sich nicht. Er war noch genauso schlank wie damals auf der Party, etwas muskulöser, aber mit kurzen Haaren. Er sah verdammt gut aus in seinem Anzug und dem weißen Hemd, das am Hals offen stand. Charlotte lächelte zaghaft und stellte ihn ihrem Kollegen vor, den er aber in der folgenden Unterhaltung ignoriert, und der dann auch schnell verschwand. Justus grinste seinem Rücken hinterher: „Ich glaube, er hat sich gelangweilt.“ Charlotte grinste zurück: „Sieht so aus.“ Prostend hob sie ihr Sektglas und ihre Gläser stießen klirrend aneinander: „Wie geht es Brigitta?“ Die Frage war ihrem Mund entwichen, ehe sie sie stoppen konnte. Justus schaute sie mit gerunzelter Stirn verwirrt an. „Deine Freundin…die Medizinstudentin“, fügte Charlotte erklärend hinzu und gab sich eine imaginäre Ohrfeige. Das hätte sie wirklich subtiler angehen müssen. Aber manchmal war ihr Mund schneller als ihr Kopf.

„Ach so“, Justus Stirn glättete sich, „sie arbeitet als Ärztin an der Uniklinik. Zumindest war das vor drei Jahren so, als wir uns getrennt haben.“ Charlotte nickte ihrem Sektglas zu und holte tief Luft. Jetzt ist es auch egal, dachte sie und fragte laut: „Gibt es eine neue Brigitta in deinem Leben?“ Als sie hochschaute, begegnete sie seinem amüsierten Blick: „Nein, im Moment bin ich Single.“ Wieder nickte Charlotte ihrem Sektglas zu. „Und du?“ hörte sie ihn fragen. „Ich bin auch solo“, murmelte sie in ihr Sektglas. Daraufhin wechselte Justus das Thema, als hätten sie gerade über das Wetter gesprochen: „Wie gefällt dir dein Job hier?“ „Er ist okay.“ Unkonzentriert und nervös nagte Charlotte an ihrer Unterlippe.

Worüber sie sich sonst noch unterhielten, konnte sich Charlotte nicht mehr erinnern. Ihre Fantasie schlug erotische Kapriolen und das Gespräch rauschte an ihr vorbei wie Wellen aus Buchstaben. Gegen 23 Uhr verließen sie gemeinsam das Fest.

Sie hatte ihn umgehauen, damals auf der Erst-Semester-Party, mit ihren braunen Locken und den hellbraunen Augen mit den grünen Punkten darin, die ihn anschauten, als wisse sie, wie er wirklich war. Ihre schmale Taille, ihr ebenmäßiges ovales Gesicht, ihre helle Haut, der volle Mund, ihre ernsthafte Art, ihre angenehm tiefe Stimme – er wusste es sofort: Sie war das, was er wollte. Die Beziehung zu seiner damaligen Freundin Brigitta war eher angenehm-freundschaftlich und verlief nach seinem Uniwechsel dramenfrei im Sande.

Immer, wenn er Charlotte sah, schoss eine Flamme durch seinen Körper. Doch sie machte einen abweisenden Eindruck, und er traute sich nicht, sie anzusprechen. Ein Mal, nämlich auf Susanne und Pauls Hochzeit, war er allerdings kurz davor, sie um eine Verabredung zu bitten. Als er sich jedoch genug Mut angetrunken hatte, war sie verschwunden. Dann kam das Betriebsfest. Und er ergriff seine Chance. Als sie mit ihm das Fest verließ, konnte er sein Glück kaum fassen. Mit ihr fühlte er sich so lebendig wie nie zuvor. Mit ihr konnte er alles erreichen, mit ihr verloren seine Ängste an Macht. Sie harmonierten miteinander in jeder Beziehung. Als er ihr einen Heiratsantrag machte und sie „Ja“ sagte, katapultierte ihn das in einen Zustand der Glückseligkeit. Auch wenn das kitschig klang, aber genau so war es.

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