Ein Roman von Mira Steffan
„Hast du dich angemeldet?“, mit einem strengen Gesichtsausdruck wedelte Susanne mit ihrem Zeigefinger hin und her. Es war mal wieder ein Samstagmorgen. Auf dem Bistrotisch standen rote und gelbe Tulpen in einer weißen Vase, Kaffeedampf stieg aus den Porzellanbechern, waberte vor Charlottes und Susannes Augen hin und her wie Nebelschwaden und ließ die anderen Caféhaus-Gäste unwirklich erscheinen. Im ersten Moment wusste Charlotte nicht, was Susanne meinte, doch dann fiel es ihr ein: „Ja.“ Unbehaglich schaute sie auf die weiße Tischdecke und spielte mit einem losen Faden an einem Zipfel. „Stimmt nicht“, sagte Susanne und seufzte frustriert.
„Naja, ich werde es aber machen“, sagte Charlotte kleinlaut. Susanne nickte so, als glaube sie ihr nicht, ließ das Thema aber fallen: „Wie geht es Emma?“ Als Charlotte zwei Stunden später zu Hause ihre Jacke an die Garderobe hängte, schaute Justus sie gehetzt an: „Ich habe gerade einen Anruf vom Chef bekommen und muss noch mal ins Büro.“
„Es ist Samstag“, sagte sie ruhiger als ihr zumute war. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, mit dem Fuß aufgestampft und diesem Chef mal so richtig in den Hintern getreten. „Ich weiß“, sagte Justus und zuckte entschuldigend mit den Schultern, „ich beeil mich.“ Er gab ihr einen schnellen Kuss, klaubte seinen Mantel eilig vom Garderobenhaken und schon fiel die Haustür hinter ihm zu. Charlotte schaute ungläubig auf die Tür und konnte es nicht fassen. Was für ein doofer Mist. Schon wieder allein. Ob es wirklich sein Chef war, der angerufen hatte? Wütend drehte sie sich um, verpasse der Wand im Flur einen Tritt und ging mit schweren, lauten Schritten in die Küche. „Es reicht! Ich habe es satt, satt, satt“, fluchend riss sie die Schublade mit den Rezepten auf und wühlte darin herum.
Da waren sie, die Blätter mit den Stellenanzeigen und der Flyer mit der Werbung für das Auffrischungsseminar. Entschlossen schickte sie ihre Versagensängste zum Teufel, warf die Papiere auf den Esstisch, griff nach dem Flyer, stampfte ins Arbeitszimmer und fuhr den Rechner hoch. Dass das Hochfahren immer so lange dauern musste. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum, während sie den Bildschirm wütend anstarrte. Leider ließ er sich davon nicht beeindrucken. Vier Stunden später, okay eigentlich war es eine halbe Minute, war er wach und einsatzbereit. Charlotte rief die Homepage des Institutes auf. Und ohne weiter darüber nachzudenken, meldete sie sich für das Seminar an. Kurze Zeit später erhielt sie eine Bestätigung per E-Mail. Jawoll! Sie reckte ihre rechte Faust in die Höhe. Jetzt zeige ich euch, wo der Hammer hängt! Zufrieden blickte sie auf die Mail. Da fuhr ihr der Schreck durch alle Glieder. Das Seminar fand in den Osterferien statt. Was sollte sie tun? Wieder abmelden? Charlotte stierte auf die Schreibtischplatte. Nein, auf keinen Fall. Sie wollte dieses Seminar machen. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr wollte sie das. Kein Vor-sich-hindümpeln mehr.
Justus Nerven lagen blank. Dieses rund-um-die-Uhr-zur-Verfügung-stehen trieb seinen Blutdruck in die Höhe. Er hatte sich auf ein entspanntes Wochenende mit seiner Familie gefreut. Als er im Eilschritt den Flur zu dem Büro des Vorstandsvorsitzenden betrat, sah er ihn durch die geöffnete Tür über Aktenordner brüten. „Wir müssen noch mal die Aufstellungen durchgehen. Hier stimmt was nicht“, sagte er statt einer Begrüßung und tippte auf ein Blatt. Justus zog seinen Mantel aus und schüttelte seine Überlegungen ab, verdrängte sein schlechtes Gewissen und seine strapazierten Nerven und konzentrierte sich auf die Arbeit. „Der Urlaub ist gebucht“, fassungslos sah Justus über sein Frühstücksbrötchen hinweg Charlotte an.
„Ich weiß“, sagte sie und nickte unbehaglich, „aber dieses Auffrischungs-Seminar ist wichtig für mich. Ich will wieder arbeiten“, zaghaft legte sie ihre rechte Hand über seine linke, die neben seinem Teller lag. Er zuckte nicht zurück, was sie als positives Zeichen werte: „Emma ist fast den ganzen Tag in der Schule oder bei ihrer Freundin, so wie heute, oder bei meinen Eltern. Ich brauche eine neue Aufgabe. In meinem Beruf habe ich immer gerne gearbeitet.“ Und außerdem fühle ich mich klein und mickrig und nutzlos, ich habe nichts Eigenes, bin abhängig von dem Geld meines Mannes, ich bin die Frau im Genitiv. Ohne meinen Mann bin ich ein Nichts. Doch das sprach sie nicht laut aus. Stattdessen sagte sie: „Fahr doch mit Emma allein. Sie sieht dich so selten. Das wird euch beiden gut tun.“
„Die Idee ist bescheuert.“ Justus schob seinen Stuhl so abrupt nach hinten, dass er polternd zu Boden fiel: „Ich will, dass du mitkommst.“ Seine gerunzelte Stirn und sein starrer Blick verfehlten nicht ihre Wirkung auf Charlotte. Sie kam sich vor wie ein gescholtenes Kind, das sich für sein schlechtes Benehmen schämen sollte.
Als Charlotte das klar wurde, brandete Wut durch ihren Körper: „Jahrelang habe ich meine Bedürfnisse zurückgestellt. Für dich ist es selbstverständlich, das zu machen, was du willst. Ich war mal richtig gut in meinem Beruf. Ich habe sogar mehr verdient als du“, mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger stieß sie unsanft auf seine Brust. „Ob es dir passt oder nicht, ich mache das Seminar.“ Aufgebracht verließ Charlotte die Küche, stampfte die Treppe hoch ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu. Na prima. Und jetzt. Völlig entnervt ließ sie sich auf die Bettkante nieder und fuhr mit beiden Händen durch ihre Haare. Unten hörte sie die Haustür zuschlagen. Sie musste etwas tun. Zu ihrer Wut und ihrem Frust gesellte sich jetzt auch noch das schlechte Gewissen. Entschlossen wandte sie sich demSchrank zu, holte ihre Sportsachen heraus. Vor der Haustür atmete sie tief ein und setzte sich energisch in Bewegung. Mit gesenktem Kopf nahm sie grimmig den Asphalt ins Visier. Doch je länger sie lief, umso mehr entspannte sie sich, und je mehr sie sich entspannte, umso mehr nahm sie ihre Umgebung wahr. Die schmutzig- graue Wolkenmasse entsprach ihrer Verfassung. Langweiliges Wetter, langweiliges Leben, dachte sie melancholisch. Ein Zurück kam jetzt nicht mehr in Frage.
„Singin’ in the rain, I am just singin’ in the rain“. – Dieses Lied von Gene Kelly dudelte als Endlosschleife durch ihren Kopf. Doch von guter Laune und Fröhlichkeit war Charlotte weiter entfernt als der Jupiter vom Mond. Warum war sie eigentlich nicht mit dem Auto zu dem Institut gefahren, in dem das Seminar stattfand? Warum musste immer alles so anstrengend sein? Trübsinnig umrundete sie eine Pfütze. Warum, verdammt noch mal, latschte sie allein und einsam durch den tropfnassen Abend. So wie die Dunkelheit im Regen ertrank, versank Charlotte in Selbstmitleid über ihr tristes Dasein.
Ein Licht erhellte die Straße vor ihr. Geblendet schloss sie die Augen. Jetzt zog auch noch ein Gewitter auf! Konnte es noch schlimmer kommen? Da machte es platsch und Feuchtigkeit zog durch ihre Schuhsohlen. Charlotte stand in einer Pfütze. Und dann sah sie weiß. Eine Farbe, die immer vor ihrem inneren Auge auftauchte, wenn sie so wütend war, dass selbst Hulk im Aggressionsrausch gegen sie wie ein Chorknabe wirkte. Doch völlig unerwartet drang eine tiefe Stimme an ihr Ohr: „Guten Abend“, sagte diese Stimme und ihre Wut löste sich so schnell auf wie Zucker im Tee. Waaas…? Verdutzt schaute sie hoch.