Ein Roman von Mira Steffan
„Falsch. Als du mit der Familienplanung angefangen und dem Vorstandsvorsitzenden erzählt hast, dass du für einen Vorstandsposten nicht zur Verfügung stehst, weil du schwanger werden möchtest.“
„Das war doch nur fair.“
„Darf ich dich daran erinnern, dass es vier Jahre gedauert hat, bis du schwanger geworden bist. Vier Jahre“, Susanne reckte ihr anklagend vier Finger ihrer rechten Hand entgegen, „in der Zeit hättest du eine Menge erreichen können.“ Unvermittelt breitete sich ein grauer Schleier in Charlotte aus. Sie versuchte sich auf Susannes Finger zu konzentrieren, um im Strudel der Trauer nicht unterzugehen. Sie hatte nie mit jemanden über ihre beiden Fehlgeburten in der Zeit gesprochen. Auch mit Susanne nicht. Sie konnte es nicht. Stattdessen sagte sie: „Ich wollte unbedingt Mutter werden. Ich wollte eine Familie. Das war mein größter Wunsch.“
„Meiner auch. Doch dafür musstest du doch nicht alles hinschmeißen. Du kennst doch den Spruch: „Die richtige Wahl führt zum passenden Leben. Falsche Entscheidungen rächen sich gnadenlos.“
Charlotte zuckte zusammen. Dieses Motto erschien ihr falsch. Doch sie konnte ihre Gefühle nicht in Worte fassen. Stattdessen sagte sie: „Damals dachte ich eben, dass das absolut richtig ist. Und ganz ehrlich: Wohlgefühlt habe ich mich als einzige Frau in der Abteilung nicht. Aber inzwischen…“, nachdenklich zerkrümele sie den Keks, „aber hey, ich muss ja auch nicht arbeiten.“ Susanne schaute sie fassungslos an: „Dazu fällt mir jetzt echt nichts ein.“
„Naja, selbstbestimmt statt fremdbestimmt zu leben und keinem Chef gehorchen zu müssen, ist doch gar nicht so schlecht.“ Charlottes Stimme klang aufsässig. Susanne verdrehte die Augen und nippte an ihrer Tasse, räusperte sich und sagte: „Ich weiß, was du versuchst. Lass es.“ Sie holte tief Atem: „Ich habe da was gelesen und sofort an dich gedacht.“ Sie griff nach ihrer Handtasche und zog mehrere Zeitungsseiten heraus: „Schau mal, die und die und die suchen eine Controllerin.“ Sie tippt mit ihrem Zeigefinger auf verschiedene Stellenanzeigen.
Vor Erstaunen riss Charlotte die Augen auf: „Ich bin seit mehr als acht Jahren weg vom Fenster. Ich habe doch längst alles vergessen.“
„Papperlapapp. Du machst ein Auffrischungsseminar. Dann bist du wieder fit. Hier“, Susanne hielt ihr einen Flyer mit dem Titel „Betriebswirtschaftslehre – Zurück in den Beruf“ unter die Nase, „melde dich an.“
Unschlüssig schob Charlotte die Zeitungsseiten zwei Tage später auf dem Küchentisch hin und her. Wieder als Controllerin zu arbeiten, würde sie schon reizen. Doch – war sie dem Ganzen gewachsen? Es gab Jüngere. Meine Güte, sie hatte acht Jahre ausgesetzt. Eine Ewigkeit in der Arbeitswelt. Wie soll man da einen Wiedereinstieg hinbekommen? Als das Telefon klingelt, raffte Charlotte die Seiten erleichtert zusammen.
Es war ihre Mutter: „Wollte nur mal hören, wie es dir geht?“
Ihre Stimme klang kraftvoll und gleichzeitig plüschtierweich. Charlotte hörte ihr Lächeln. Soweit sie zurückdenken konnte, hatte die Anwesenheit ihrer Mutter ihre Welt immer etwas heller und freundlicher gemacht. Charlotte dachte an ihre jüngere Schwester Pauline und die liebevolle Fürsorge ihrer Mutter für sie beide. Ging es ihnen schlecht oder hatten sie Kummer – ihre Mutter hörte zu und fand die richtigen, tröstenden, aufmunternden Worte. Sie unterstützte sie und ihre Schwester Pauline, ohne sie einzuengen oder mit Vorwürfen zu manipulieren. Ihre Mutter packte das Leben beim Schopf. Mit ihr war alles einfach und voller Möglichkeiten. Charlotte seufzte: Wie gerne hätte sie diese Gabe geerbt. Doch sie war ein Feigling, der sich lieber in der Küche vor der anstrengenden Welt versteckte.
„Charlotte, bist du dran? Wie geht es dir?“
„Entschuldige, Mama. Ja, ich bin da. Mir geht es gut“, sagte Charlotte, nahm die Stellenanzeigen, legte sie in ihre Rezepte-Schublade und schloss sie mit einem gezielten Hüftschwung. Entscheidung vertagt.
Im Hintergrund hörte Charlotte ihren Vater eine Seite der Tageszeitung umblättern.
Ihre Eltern führten eine gute Ehe. Oft dachte Charlotte, dass sie das einzige Paar aus ihrem Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis waren, das sich aufrichtig liebte. Sie und Pauline waren in einer Atmosphäre von Liebe, Loyalität, Wertschätzung und Respekt groß geworden. Das hatte sich Charlotte auch immer für sich gewünscht. Doch sie hatte versagt.
„Hast du Lust vorbeizukommen? Papa hat Bienenstich vom Bäcker mitgebracht. Und weil Gebäck im Angebot war, haben wir viel zu viel“, ihre Mutter kichert belustig in sich hinein.
Nur zu gerne ließ Charlotte sich von ihren trüben Gedanken ablenken: „Prima Idee. In einer Viertelstunde bin ich da“, schwungvoll legte sie den Telefonhörer auf und schaute an sich herunter. Ihr Schwung ließ nach. Jogginghose und Schlabbershirt – so konnte sie nicht zu ihren Eltern fahren. Sie ging ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank. Da gab es eine Menge schicker Pullis, Hosen, Kostüme und Hosenanzüge aus ihrer Zeit als Controllerin. Doch nichts davon passte mehr. Frustriert griff sie nach der Bluejeans in Größe 44, die sie letzte Woche gekauft hatte und nach einer weiten, weißen Bluse. Sie schaute in den Spiegel: Pummelig, sehr pummelig, aber ordentlich. Nein, wohl fühlte sie sich nicht in ihrer Haut. Ihrem Spiegelbild schnitt sie eine Grimasse: Nur weg von dir.
Ihre Eltern wohnten rund 15 Kilometer von ihrem Haus entfernt, in einer Doppelhaushälfte in Siegburg. Von weitem wirkte das Haus aber eher wie eine große, weiße Villa. Erst beim Näherkommen erkannte man, dass es sich um zwei Wohneinheiten handelte. Der Vorgarten bestand aus großen Stauden. Obwohl es erst Mitte Februar war, erkannte Charlotte die großen, weißen Blüten der Christrosen. Im Gegensatz zu ihr, gärtnerte ihre Mutter mit Leidenschaft. Das kam auch dem Garten hinter dem Haus zugute, in dem nicht nur der Rasen selbst im Hochsommer saftig grün war, der Flieder im Frühjahr üppig blühte, die Rosen sich prächtig entwickelten, sondern auch ein kleiner Nutzgarten Gemüse und Obst abwarf. Oft mehr, als ihre Eltern, die Familie ihrer Schwester und ihre eigene essen und verarbeiten konnten. Doch dankbare Abnehmer fanden sich immer in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis. Charlotte bewunderte das Talent und die Arbeit ihrer Mutter. Doch sie selbst konnte sich für die Gartenarbeit nicht begeistern. Ein Rasen, auf dem Emma toben konnte und eine Hecke, die Sichtschutz bot – das reichte ihr völlig. Ansonsten durfte die Natur in ihrem Garten machen, was sie wollte. Charlotte gefiel das Freie und Wilde.
Ihre Eltern wohnten auf 150 Quadratmeter, die auf drei Etagen verteilt waren. Die ehemaligen Kinderzimmer waren unverändert und dienten jetzt den Enkelkindern als Spiel- und Übernachtungsmöglichkeit. Emma hatte sich in Charlottes früherem Zimmer eingerichtet, Paulines Zwillinge Marie und Liam im Zimmer ihrer Mutter.
Als Charlotte vorfuhr, sah sie ihre Mutter am Küchenfenster stehen. Sie winkte ihr lächelnd zu.
Bevor sie die Stufen zur Haustür erklommen konnte, riss ihre Mutter sie auf: „Der Kaffee läuft durch. Hach, schön, dass du da bist.“ Ihre Mutter umarmte sie, trat einen Schritt zurück, streichelte ihr über die Wange und strahlte sie an: „Komm“, sagte sie und schob sie durch den kleinen Flur ins Esszimmer. Auf dem Tisch standen drei Gedecke, in der Mitte eine Kerze. „Setz dich“, sanft drückte ihre Mutter sie auf einen Stuhl.