Ein Roman von Mira Steffan
Justus nahm das Zuschlagen der Haustür nicht mehr wahr. Seine Gedanken zuckten wie Irrlichter in alle Richtungen: Power-Point -Präsentation checken, Laptop einpacken, Exposés nicht vergessen. Er stieg in sein Auto und reihte sich in den Berufsverkehr ein. Ob er im Büro wohl noch Zeit für eine weitere Tasse Kaffee hatte? Er schüttelte den Kopf. Keine gute Idee. Während des Vortrages zur Toilette zu rennen, wäre nicht gut. Er ging noch einmal die Berechnungen durch, sah die Tabellen und Zahlen vor seinem geistigen Auge, als rote Lichter aufflammten. Der Audi vor ihm hatte abrupt gestoppt. Erschreckt haute er mit dem Fuß auf die Bremse und kam knapp vor der Stoßstange des Vordermanns zu Stehen. Unsanft, aber effektiv war er in der Gegenwart gelandet. Für den Rest der Fahrt sorgte dieser Adrenalinstoß für seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Und die brauchte er. Denn das trübe Januarwetter mit der tief hängenden grauen Wolkendecke verhinderte jede Chance auf gute Sicht.
„Merkst du eigentlich nicht, wie unzufrieden du bist?“ Ernst schaute Susanne ihrer besten Freundin in die Augen. Susanne war vor einigen Wochen, kurz nach Charlotte, 40 geworden, war schlank und blond, trug Boyfriend-Jeans, einen asymmetrisch geschnittenen schwarzen Pulli und schwarze Stiefeletten. Kurzum, sie sah umwerfend aus. Kennengelernt hatten sie sich im ersten Semester ihres Studiums. Vor Hörsaal D. Die zirka 1,78 Meter große, blonde, magere junge Frau, die vor der Tür nervös auf und ab ging, sah ebenso verschüchtert und unsicher aus, wie Charlotte sich fühlte. Sofort spürte Charlotte eine große Sympathie. Endlich jemand, der nicht blasiert und arrogant im Hosenanzug und mit Aktentasche wichtig durch die Gänge schritt, wie viele der anderen Kommilitonen, die sich schon als Vorstandsvorsitzende sahen, nur weil sie gerade angefangen hatten, Betriebswirtschaft an einer renommierten Universität zu studieren.
„Suchst du auch den Raum, in dem die Vorlesung über Rechnungswesen stattfindet?“ fragte Charlotte. Susanne nickte und kaute unsicher an ihrem Daumennagel: „Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich hier richtig bin. Die Vorlesung hat schon angefangen, und ich traue mich da nicht rein.“
Das weckte Charlottes Beschützerinstinkt und vertrieb ihre eigene Ängstlichkeit. Entschlossen packte sie Susanne am Arm und betrat den Hörsaal. Es war die richtige Vorlesung. Der Professor unterbrach seinen gerade begonnen Vortrag und begrüßte beide ausdrücklich. Verlegen erwiderten sie die Begrüßung, sahen betreten zu Boden und suchten, mit Ohren so rot wie Ketchup, verschämt einen Sitzplatz. Von diesem Tag an waren Charlotte und Susanne unzertrennlich, lernten und feierten zusammen, ertranken ihren Liebeskummer in Schokoladenorgien, tanzten auf ihren Hochzeiten und blieben auch befreundet, als sich ihre Karrieren und Leben unterschiedlich entwickelten.
Samstagsmorgens trafen sie sich, seit sie beide Mutter geworden waren, immer zu einem Kaffeeplausch in ihrem Lieblingscafé in der Bonner Innenstadt, während ihre Männer sich um die Kinder kümmerten. Charlotte blickte durch das große Panoramafenster auf die Fußgängerzone, die sich langsam mit Menschen füllte. Soso, Susanne dachte also sie sei unzufrieden. Charlotte löste ihren Blick von der Betriebsamkeit in den Gassen und schaute Susanne mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenen Brauen an. „Das funktioniert nicht, Charlotte. Mit dem Blick kannst du mich nicht einschüchtern“, sagte sie und zeigte ganz viele und weiße Zähne. „Schade“, grummelnd schlürfte Charlotte ihren Tee.
Im Gegensatz zu Charlotte hatte Susanne, trotz ihrer zwei Kinder, nie aufgehört zu arbeiten. Gemeinsam mit ihrem Mann Paul, unterstützt von ihrer Mutter und wechselnden Kindermädchen, hatte sie es vor zwei Jahren in die Chefetage eines großen Autokonzerns geschafft.
„Okay, zugegeben.“ Widerwillig gab Charlotte ihr Recht: „Ich bin gelangweilt“, blicklos stierte sie auf den Keks neben ihrer Tasse, „und fühle mich wertlos, fett und unattraktiv. Und Justus ist mit seiner Arbeit verheiratet. An welcher Kreuzung bin ich eigentlich falsch abgebogen?“ fragend blickte sie Susanne an und murmelte die Antwort in sich hinein: „Als ich schwanger geworden bin.“