Episode 1 – Das Labyrinth der Charlotte Reimann

Ein Roman von Mira Steffan

77 Kilo. Entsetzt starrte Charlotte auf die Waage. Kein Wunder, dass die Hosen nicht mehr passten. Für eine Größe von 1,65 Meter war das eindeutig zu viel. Missmutig schaute sie sich im Badezimmerspiegel an. Wer war diese blasse Frau mit den stumpfen, zotteligen, braunen Haaren und der Speckrolle in der Taille? Unwillig schloss sie die Augen. Wo war die Zeit geblieben, als sie in Kleidergröße 38 gepasst und sich auf den obersten Sprossen der Karriereleiter befunden hatte.
Ein Ruf im Feldwebel-Ton unterbrach ihre demontierenden Gedanken: „Maaaama.“
Die Klinke hüpfte auf und nieder. Charlotte seufzte tief und resigniert, wandte sich dann der Tür zu und öffnete sie schwungvoll.
„Guten Morgen Süße“, sagte sie liebevoll, ging in die Knie und umarmte ihre Tochter Emma.
„Ich muss mich jetzt für die Schule anziehen“, sagte die Kleine und schaute sie mit ihren großen blauen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, an, „bist du fertig?“
Sie nickte: „Soll ich dir helfen?“
Emma schüttelte den Kopf so ernsthaft, wie es Neunjährige eben tun, wenn sie etwas wirklich wollen. Charlotte nickte verständnisvoll. Diesen Schritt in mehr Selbstständigkeit sollte man unbedingt unterstützen. Laut sagte sie: „Ich mache dann schon mal Frühstück.“
Gähnend zog sie ihren Bademantel über und band den Gürtel zu, während sie die Treppe hinunterschlich. Wovon war sie eigentlich so müde? Vom Nichtstun, beantwortete sie sarkastisch ihre stumme Frage. In der Küche war es kalt und dunkel. Charlotte machte das Licht, das Radio und die Kaffeemaschine an und drehte die Heizung höher. Besser. Damit ließ sich ein kalter Januarmorgen aushalten. Als Emma mit ihrem Schulranzen in die Küche kam, war das Frühstück fertig und die Butterbrote und Äpfel lagen sorgfältig verpackt neben den jeweiligen Tellern.
„Ist Papa aufgestanden?“ fragte Charlotte ihre Tochter.

Emma biss in ihr Marmeladenbrot und nickte. Da hörte Charlotte das Wasser der Toilettenspülung durch die Leitung rauschen. Mit einer Tasse Kaffee und dem trockenen Laugenbrezel von gestern setzte sie sich zu Emma.
„Der Kevin hat mir gestern einen Zettel gegeben. Darauf stand: Willst du meine Freundin sein?“, sagte Emma beiläufig und Charlottes Kaffee landet in ihrer Luftröhre. Zwischen husten und einem unterdrücktem Lachen fragte sie atemlos: „Was hast du geantwortet?“
Emma zuckte mit den Schultern und sah ihre Mutter mit einem tadelnden Gesichtsausdruck an: „Nein, natürlich.“
Charlotte ermahnte sich zu einem ernsthaften Klang: „Nein?“
„Auf dem Zettel stand: ja, nein, vielleicht. Ich habe „nein“ angekreuzt“, sagte Emma in einem Tonfall, als wäre das Erklärung genug.
„Das verstehe ich nicht? Du magst ihn doch. Warum willst du denn nicht seine Freundin sein?“
„Weil er gestern nicht schön ausgesehen hat.“
Ein Kichern stieg wieder in ihr hoch. Mit einem herzhaften Biss in ihre Brezel ersticke sie den Impuls.
„Er war beim Friseur. Jetzt sieht er doof aus,“ erklärte Emma abfällig.
Doch bevor sie ihre Tochter über innere Werte und das Nachwachsen von Haaren aufklären konnte, kam ihr frischgeduschter und rasierter Ehemann in die Küche. Flüchtig streiften Justus Lippen ihre rechte Wange. Er sah gut aus in seinem grauen Anzug, dem dunkelblauen Hemd und der blauen Krawatte. Seit ihrer Hochzeit hatte er nicht zugenommen. Unzufrieden schaute Charlotte an sich herunter und haderte im Stillen wieder mit ihren Pfunden. Im Stehen schlang Justus sein Butterbrot hinunter, schüttete Kaffee hinterher, stopfte Brot und Apfel in seine Tasche und eilte zur Haustür.
„Ich muss los. In einer halben Stunden beginnt die Besprechung wegen des neuen Bauprojektes“, rief er in ihre Richtung.

Und rumms – fiel die Tür mit Getöse ins Schloss. Seufzend half Charlotte Emma beim Befestigen ihres Schulranzens auf dem Rücken. Kurz danach schlug die Tür zum zweiten Mal krachend zu. Angenervt verdrehte sie die Augen und schlurfte zurück in die Küche. Dort erwartete sie schmutziges Geschirr, Essensreste auf den Tellern und Kaffeeflecken auf dem Tischtuch.
Sie hätte damals auf dem Standesamt auch besser „nein“ angekreuzt, dachte sie. Müde und gereizt ließ sie sich auf den Küchenstuhl plumpsen. Eine weitere Tasse Kaffee wäre jetzt nicht schlecht. Mit beiden Händen strich sie sich durch ihr Gesicht.

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