Den Umgang mit Krisen lernen: Was macht uns stark?

Text und Illustrationen Susanne Gold

Seelenheil als Forschungsgegenstand und Geschäftsmodell

Berufliche und private Rückschläge gehören zum Leben. Die Kunst ist es, psychisch damit umzugehen. Die seelische Widerstandsfähigkeit, die sogenannte “Resilienz”, wird von Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen erforscht. Der Begriff selbst erlebt derzeit eine nahezu inflationäre Nutzung und etabliert einen ganzen Markt.

Überall bieten Berater Resilienz-Trainings an, Ratgeberbücher, Podcasts oder Videoserien sind entstanden. Das klingt, als könne man sich Resilienz problemlos aneignen und als sei man danach für die Bewältigung jeder Krise ausgerüstet. Allein die Annahme, man könne sich gegen seelischen Schmerz und persönliche Krisen ausbilden lassen, erzeugt bei einigen Menschen Stress: Denn es impliziert die Annahme, dass man sich nur genug anstrengen müsste, um fortwährend fröhlich zu sein.

Lässt sich psychische Widerstandsfähigkeit erlernen?

Wer sich mit dem Thema beschäftigt, stößt unweigerlich auf die Fragen, ob es überhaupt einen „seelischen Normalzustand“ gibt und was “Resilienz” an sich bedeutet. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Materialforschung und beschreibt die Eigenschaft elastischen Materials, immer wieder in seine ursprüngliche Form zurückzufinden. Im übertragenen Sinne würde das bedeuten, ein resilienzfähiger Mensch solle nach einer Krise immer wieder zu dem werden, was er vorher war, seinen Normalzustand wieder erlangen.

Sind es nicht genau unsere Erfahrungen, an denen wir uns weiterentwickeln, die uns prägen und die uns schlussendlich zu dem werden lassen, was wir sind? Einen “seelischen Normalzustand” gibt es nicht – höchstens Phasen davon. Mit jeder Krise gelangen wir in eine neue Phase. In einer Hinsicht sind sich Forscher:Innen einig: Gerade die schwierigen Erfahrungen sind es, anhand derer wir unsere Widerstandsfähigkeit entwickeln. Das bedeutet, dass ein gewisses Maß an Stress und Belastung notwendig ist, um zu lernen, wie man mit den Niederlagen im Leben umgeht. Und zwar von Kindesbeinen an. Dieses Wissen könnte vor allem für Eltern heilsam sein, die verzweifelt jede Niederlage und Enttäuschung von ihren Kindern fernzuhalten versuchen.

 

Welches ist der „seelische Normalzustand“?

Trotz aller Bemühungen, Forschungen und Definitionen – für die seelische Widerstandskraft gibt es keine allgemein gültige Formel: Wie gut oder wie schlecht Individuen mit Krisen, Stress und Rückschlägen umgehen, hängt von ihrer jeweiligen Genetik, ihrer Sozialisation und den jeweiligen Lebensumständen ab.

Resilienz im Alltag

Widerstandsfähig im Berufsleben zu sein, bedeutet, jede Veränderung zunächst als Chance zu begreifen. Vielerorts werden heute Meditationsübungen, Atemtechniken und positive Selbstgespräche vermittelt. Aber hilft das auch? Können wir unsere Widerstandsfähigkeit durch Selbstoptimierung verbessern? Indem wir uns mit uns selbst beschäftigen, lernen wir unsere eigenen Bedürfnisse besser kennen. Und eben dieses Wissen ist mit Sicherheit die beste Navigation durch Krisen. Sie hilft, achtsam mit sich selbst umzugehen, Selbstvertrauen zu entwickeln, Probleme selbstsicherer anzugehen, Ziele zu formulieren und letztendlich das eigene Leben aktiv zu gestalten. So werden wir nicht Opfer unserer Krisen, sondern Gestalter unserer Zukunft.

Offenheit für neue Erfahrungen

Die generelle Bereitschaft, sich mit sich selbst zu beschäftigen, kann oft in der Krise entstehen. Folgt also unweigerlich irgendwann eine weitere Lebenskrise, kommen wir mit ihr immer besser zurecht. So die Annahme der Resilienzforscher. Es sind also gerade unsere Schwierigkeiten, die uns resistenter gegen die Widrigkeiten des Lebens machen. Sie lehren uns, uns auf neue Dinge einlassen – genau jene, die außerhalb unserer bisherigen Lebenswelt liegen. Und sie lehren uns, an neuen Herausforderungen zu wachsen.

Nähe und gemeinsame Aktivitäten helfen in Krisen.

Kein Groll – keine Reue

Sich selbst und anderen verzeihen zu können, spielt in Sachen Resilienz eine wichtige Rolle.  Schuldzuweisungen bringen uns auf Dauer nicht weiter. Wer es schafft, trotz leidvoller Erfahrungen die Schönheit der Welt wahrzunehmen, gilt als widerstandsfähiger. Solche Menschen begreifen Probleme als eine weitere Herausforderung in einer Welt voller Möglichkeiten. Sie bemitleiden sich nicht, sondern haben einen Blick für die schönen, leichten und bereichernden Dinge im Leben, die immer zeitgleich vorhanden sind. Menschen sollten sich also darin üben, auch im Schmerz einen Blick für das Schöne zu bewahren.

Kein Heilmittel gegen Schmerz!

Unsere Widerstandsfähigkeit hängt stark mit unserer Sozialisation und unseren zwischenmenschlichen Erfahrungen in unserer Kindheit zusammen. Die elterliche Fürsorge, unsere emotionale Bindungsfähigkeit, unsere sozialen Beziehungen, unserer Intelligenz, unserer Fähigkeit, Probleme zu lösen und das Talent, unsere Affekte zu regulieren spielen hier meisterlich zusammen. Es geht um Selbstvertrauen und Vertrauen in andere und auch um Offenheit für Rat und Hilfe. Letztlich geht es um Offenheit für die Welt an sich.

Auch ein spirituell-religiöses Vertrauen, dass alles einen Sinn hat, gilt unter Forschern als hilfreich für den Umgang mit Krisen. Der Glaube an ein spirituelles höheres Wesen – wobei ein Gott hier als Leerstelle für Spiritualität begriffen werden darf – gibt uns das Gefühl von Sinn. Wir brauchen Sinn. Wer einen Sinn im Leben sieht, bewältigt auch Krisen leichter.

 

Unsere Krisen – die unendliche Geschichte unserer Leben?
Das Modell der Forscherin Carlotta Perez

Kein Leben ohne Schmerz, keine Existenz ohne Krise!

Das Modell der Evolutionsökonomin Carlotta Pérez gehört zur Resilienzforschung und wird seiner Form wegen auch “Lazy Eight” genannt.  Ihre Theorie nimmt jenes Muster ins Visier, in welchen Krisen immer wieder auftauchen und darüber hinaus, was Krisen auslösen. Die liegende Acht, das wissen wir, steht für die Unendlichkeit.

Die Theorie des zyklischen „Great Surges of Development“, behauptet, dass Krisen und damit alle mit ihr verbundenen zentralen Phasen, unendlich wiederkehren. In meiner Illustration oben rechts finden wir das chinesische Schriftzeichen für Krise. Dieses setzt sich zusammen aus den beiden Zeichen für ‘Gefahr’ einerseits und dem für ‘Möglichkeit’ andererseits. Genau das sind Krisen – ein Wendepunkt, welcher meist als problematisch empfunden wird und uns eine Entscheidung abverlangt. Das bringt Stress mit sich und unser bisheriges Dasein in Gefahr – es offeriert aber gleichzeitig eine Welt voller neuer Möglichkeiten. Wir können eingreifen und etwas ändern oder warten, bis andere oder das Schicksal für uns entscheiden. Gut möglich, dass es gerade unsere Krisen sind, die die Geschichte unseres Lebens schreiben. Krisen sind die negative Variante von Glück – oft finden wir erst durch sie unser Glück.

Auch in unseren Märchen suchen die ProtagonistInnen immer nach Lösungen, um aus ihren Krisen herauszufinden und meist winkt ihnen am Ende ihr Glück. Das illustrierte Modell von Perez zeigt, wer oder was aus der Krise oder nach der Krise eine Lösung findet, gelangt in die Phase der Innovation. Gemäß dem Motto:  Während der Krise wurde viel gelernt, danach beschreiten wir neue Pfade!

Going my way: Neue Wege nach der Krise

Nach einer Krise beginnt eine Phase neuer Wege und Techniken. Zu dieser Zeit wird das menschliche Mindset wahrlich bedeutend. Diejenigen beispielweise, die sich während der COVID Pandemie auf die digital Welt einlassen konnten, sind besser durch die Krise gekommen, als diejenigen, die digitalen Technologien gegenüber verschlossen geblieben sind. Im Optimalfall erhöht eine Krise die Resilienz eines Systems und eröffnet uns neue Möglichkeiten.

Expansion – wenn wir etwas Neues gelernt haben, setzen wir es gerne und oft ein

Die nach einer Krise erlernten Fähigkeiten und gewonnenen Einsichten sorgen nicht nur für eine neue, individuelle Orientierung – sie können sich auch, so sie sich bewährt haben, innerhalb der Gesellschaft schnell verbreiten. Dies gilt besonders für Erfindungen und den Einsatz von neuen Technologien. Ein Beispiel dafür ist die künstliche Intelligenz. Sie hilft uns aus der Konfusion der kaum zu bewältigenden Datenflut unserer Zeit und bildet die Geschäftsgrundlage vieler junger Unternehmen und Start-Ups. Allerdings, die weite und schnelle Verbreitung neuer Innovationen macht die Welt erneut unübersichtlich und komplex. Hatten wir zunächst keinen Überblick mehr über die Daten, die wir mit dem Internet produzieren, haben wir nun oft den Überblick über die Anwendungen der künstlichen Intelligenzen verloren, die wir mit diesen Daten trainieren.

Digital, komplex, global und nur schwer zu begreifen

Komplexität können wir Menschen nur schwer ertragen. Wir besitzen schlicht nicht die Fähigkeit, komplex zu denken, glaubt man dem Kognitionsforscher Daniel Kahnemann. Komplexität setzt uns unter Stress und wir versuchen, diesem Stress mit sehr einfachen Erklärungen oder sogar Schuldzuweisungen zu entkommen. Kahnemann nennt die Erschöpfung, die wir angesichts von Komplexität erfahren, „Ego-Depletion“, also “Selbsterschöpfung“.

Beispielsweise haben nationalistische und rechtsradikale Parteien und Parolen heute – vor dem Hintergrund der Globalisierung – vielfach Zulauf bekommen, da sie oft einfache Lösungen und Antworten auf komplexe globale Herausforderungen anbieten. Sie mindern jene Konfusion, die mit Komplexität einhergeht. Die Phase der Konfusion (oben links in der Illustration) ist geprägt von Zorn, Verwirrung, Kopflosigkeit, Chaos und Panik. Diese Phase – wen wundert das – mündet erneut in einer Krise, die ihrerseits wieder einen Neustart erzwingt. Und schon wird das Krisenmodell unendlich. Laut der Forscherin und Erfinderin dieses Modells gilt dies nicht nur für Menschen, sondern für jedes existierende System unserer Welt.

Und nun? Resilienz Training – ja oder nein?

Ein gewisser und erlernbarer Optimismus hilft ganz sicher bei der Bewältigung von Krisen. Doch – die Kontrolle über unsere Resilienz, die haben wir nicht. Selbst ausgeprägte innere Stärke schützt uns nicht vor seelischem Schmerz! Schon die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus gingen davon aus, dass Schmerz zum Leben gehört. Krisen sind also keine Erscheinung unserer Zeit. Möglicherweise können wir erlernen, dem Schmerz, den wir in Krisen erfahren, anders zu begegnen, doch wir können diesen nicht vermeiden.

Unsere Verletzlichkeit ist unsere Grundbedingung. Sie macht uns emphatisch. Nur wer Schmerz kennt, wird ihn bei anderen mitfühlen. Miteinander Mitfühlen – darum dreht sich unser ganzes soziales Dasein – es diktiert, wie wir leben, wer und was wir sind. In jeder Krise und in jedem Schmerz verbirgt sich folglich auch die Möglichkeit, uns selbst und anderen Menschen näher zu kommen.

Die Krisen unseres Lebens sind Gefahr und Möglichkeit zugleich: Sie stärken oder vernichten uns!

Kommentare

3 comments on “Den Umgang mit Krisen lernen: Was macht uns stark?”
  1. Liebe Susanne Gold,
    das ist ein sehr überzeugender und aktueller Post. Komplexität, Resilienz… Krise interessiert mich sehr – schicken Sie mir bitte Ihren Artikel als PDF und gerne weitere Literatur.
    Impfung und Corona sind auch komplex – ich rege an, nutzen Sie das mal als ein Beispiel für Ihre Thematik, die Sie sehr überzeugend argumentieren.

    1. Susanne Gold sagt:

      Lieber Herr Ganten, vielen Dank für Ihren freundlichen Kommentar. Gerne schicke ich Ihnen den Artikel. Viele Grüße, Susanne

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