Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 35

Ein Roman von Mira Steffan

Eilig grüßte Charlotte Günter Heinze, der ihr auf dem Flur entgegen kam. Doch Heinze zwang sie zum Stehen bleiben: „Guten Tag Frau Reimann. Wohin sind Sie gestern denn nach der Besprechung so schnell verschwunden? Eigentlich wollte Herr Schuster noch mit Ihnen über den Monatsbericht reden. Er war sehr enttäuscht, als er Sie nicht finden konnte.“
„Ich musste dringend nach Hause. Meine Tochter ist von ihrer Klassenfahrt zurück gekommen. Den Bericht besprechen wir gleich. Wir haben in einer Stunde einen Termin“, sagte Charlotte.
Heinze nickte gnädig: „Gut, aber bitte demnächst nicht wieder vorzeitig verschwinden.“
„Ich fasse es nicht. Da macht mich Heinze an, weil ich direkt nach der Besprechung gegangen bin“, entrüstet schlug Charlotte mit ihrer rechten Hand auf die Tischplatte.
Dorothea saß vor ihr gegenüber auf dem Besucherstuhl in ihrem Büro.
Sie winkte ab: „Letzte Woche habe ich mich mit Juristinnen aus anderen Unternehmen getroffen. Glaube mir, sie alle haben die gleichen Probleme soweit sie eine Familie haben. Das sollte dich beruhigen.“
Charlotte runzelte die Stirn: „Das beruhigt mich keineswegs. Das ist Scheiße! Nicht nur für Frauen.“
Auf dem Wandregal im Flur lag eine Einladung zu einer Vernissage. Charlotte hängte ihren Mantel und ihre Tasche in die Garderobe, kickte ihre Schuhe zur Seite und griff nach der Karte. Sie kannte den Namen der beiden Künstler nicht.
Mit der Einladung in der Hand betrat sie das Wohnzimmer, wo Justus zusammengekuschelt mit Emma auf dem Sofa saß und einen Trickfilm guckte.
Sie gab beiden einen Kuss.
„Ist das von dir?“, fragte sie und wedelte mit der Karte hin und her.

Justus nickte: „Mein Kollege hat uns eingeladen. Ich habe ihm erzählt, dass du dich für Kunst interessierst. Was meinst du? Hast du Zeit? Sollen wir hingehen?“
Charlotte schaute auf das Datum: „Es ist am kommenden Sonntag um 11 Uhr. Da haben wir doch noch nichts vor. Und wir können Emma mitnehmen.“
„Prima. Dann ist das gebongt.“
Neben Bildern eines Schweizer Künstlers präsentierten sich eindrucksvolle Skulpturen eines französischen Bildhauers. Charlotte konnte kaum ihre Augen von den abstrakten Arbeiten abwenden und hatte Schwierigkeiten, sich auf die Begrüßung der Galeristin und die Einführungsrede des Kunsthistorikers zu konzentrieren. Immer wieder richtete sie ihren Blick auf das spannungsgeladene Spiel aus Energie, Eleganz und Bewegung. Die Worte rauschten an ihr vorbei. Geistesabwesend drehte sie den Stiel ihres Sektglases hin und her. Sie blickte zur Seite auf Emma, die an einem Orangenglas nippte, und dann zu Justus, der ihr liebevoll zuzwinkerte. Da endlich ertönte der Applaus, der das Ende der Rede ankündigte. Unsichtbare Fäden zogen Charlotte zu den Skulpturen.
„Sie gefallen dir?“
Charlotte hatte gar nicht bemerkt, dass Justus und Emma ihr gefolgt waren.
Sie nickte: „Sind sie nicht wunderschön. Schau mal, wie sie Komplexität und Einfachheit gleichermaßen in sich vereinen.“
„Das stimmt. Aber hast du den Preis gesehen?“
Charlotte folgte Justus‘ Zeigefinger: „Schade, das ist dann wohl nichts für uns. Aber bewundern kostet ja nichts. Mir reicht es aber auch, wenn ich schöne Dinge betrachten kann.“
„Davon kann ich zwar nicht leben. Trotzdem vielen Dank für das Kompliment. Ich gebe es gerne an den Künstler weiter.“
Erschrocken schlug Charlotte ihre Hand vor den Mund. Neben ihr stand eine schlanke Frau in ihrem Alter mit schulterlangen, gewellten braunen Haaren, die ihr freundlich zuzwinkerte: „Sehr erfreut Sie kennenzulernen. Ich bin Lana Sass, die Galeristin.“
„Und ich heiße Charlotte Reimann und bin ganz fasziniert von Ihrer Ausstellung. Widmen Sie sich vor allem zeitgenössischen Künstlern?“
„In erster Linie möchte ich jungen, talentierten Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform bieten, ihre Arbeiten einer breiten Öffentlichkeit vorstellen. Ich stelle aber auch Künstler aus, die schon seit längerer Zeit ein internationales Renommee genießen.“
„Wie viele Künstler haben Sie unter Vertrag?“
„Rund 30. Das variiert allerdings.“
„Das ist ein interessanter Beruf. Sie sind bestimmt auch viel unterwegs?“
Lana Sass nickte: „Sicher, ich begleite meine Künstler zu Kunstmessen, wenn ich nicht gerade selbst mit einem Stand dabei bin. Ich besuche meine Künstler oft in ihren Ateliers, berate sie künstlerisch, organisiere Ausstellungen in meiner Galerie oder besuche andere Ausstellungen, und ich betreue die Sammler und Kunden.“
„Das ist sehr vielseitig.“
„Naja. Wissen Sie, als Galerist ist man eine Art Agent, jemand, der die Sachen an den Mann bringt, inhaltlich wie kommerziell. Wichtig dabei ist vor allem, dass man aus Überzeugung handelt.“
„So einen abwechslungsreichen Beruf hätte ich auch gerne.“
„Jetzt bin ich neugierig. Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Controllerin in einem Unternehmen, das Kunststoffverpackungen herstellt.“
Bewunderung lag in Lana Sass‘ Blick: „Eine Controllerin, die sich für Kunst interessiert und sich mit dem Umgang von Geld auskennt, könnte ich gut gebrauchen. Die Buchhaltung ist nämlich meine Schwachstelle. Außerdem haben Sie einen wirklich guten Blick für Qualität. Aber leider kann ich Sie mir wohl nicht leisten.“ Sie zuckte bedauernd mit den Schultern.

Charlotte zog erstaunt ihre Augenbraune nach oben: „Wieso benötigt eine Galerie eine Controllerin?“
„Weil wir auch Verkäufer sind. Lassen Sie mich das auf einen Nenner bringen: Ihre Firma verkauft Kunststoffverpackungen, meine Kunst. Da sehe ich keinen großen Unterschied.“
Charlotte verzog ihre Mundwinkel nach unten und zuckte mit der rechten Schulter: „Naja, so gesehen haben Sie Recht.“
„Sehen Sie!“ Lara Sass machte mit ihrer rechten Hand eine ausladende Geste, „überlegen Sie es sich.“
„Meinen Sie das ernst?“
„Aber sicher. Wenn Sie mit einem kleinen Gehalt einverstanden wären“, sagte Lara, schaute nach links und rechts und zog Charlotte in eine ruhige Ecke, die von den Ausstellungsräumlichkeiten aus nicht eingesehen werden konnte: „Ich kann Ihnen für vier Tage in der Woche brutto 2.500 Euro im Monat zahlen.“ Und als sie Charlottes überraschten und verwirrten Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: „Ich habe ja gesagt, dass ich Ihnen nicht viel zahlen kann. Ach, vergessen Sie es.“
„Nein, nein, da haben Sie etwas falsch verstanden. Ich war nur überrascht, Es passiert nun mal nicht alle Tage, dass man aus heiterem Himmel einen Job angeboten bekommt.“
„Also nehmen Sie an?“, fragte Lara Sass listig.
Charlotte lachte auf: „So schnell geht das auch nicht. Ich muss darüber nachdenken und mit meiner Familie reden.“
„Es ist Ihnen zu wenig Geld?!“, insistierte Lara.
„Nein und ja.“ Es ist ein Viertel von dem, was ich im Moment verdiene. Es wäre ein großer finanzieller Verlust. Aber wie gesagt – ich muss gründlich darüber nachdenken. Hinzu kommt, dass ich bisher nie über so eine Tätigkeit nachgedacht habe. Ich habe die Kunst nie als Produkt gesehen, das ich verkaufen will, sondern als kreative Kraft.“

Lara nickte und lächelte nachdenklich „Ach so ist das. Nun – überlegen Sie es sich. Ich lasse Ihnen auch vier Wochen Zeit.“ Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Ich würde Sie am Umsatz beteiligen. Zusätzlich zu dem kleinen Gehalt“, sie lächelte Charlotte zu und ging zurück zu ihren Gästen.

Im Auto schlief Emma auf der Rückbank sofort ein. Und Charlotte erzählte von Laras Angebot. Ruhig hörte sich Justus alles an.
„Was hältst du davon?“, fragte Charlotte am Ende ihres Berichtes. „Schwierig. Mieses Gehalt, aber weniger Arbeitszeit und somit mehr Freizeit.“ „Das Geld würde uns fehlen.“
„Naja. Wir sind vorher ja auch mit nur einem Gehalt gut zurecht gekommen. Außerdem wärst du nah an deiner geliebten Kunst, ohne deinen Beruf aufgeben zu müssen.“
„Sicher“, Charlotte schaute blicklos auf ihre Hände, „ich bin aber doch gerade erst befördert worden. Außerdem haben wir uns an das Geld gewöhnt. Und, ganz ehrlich …die Kunst als Ware…Ich weiß nicht…“
„Überlege es dir in Ruhe. Das können wir heute nicht entscheiden. Aber – ich trage alles mit.“
Spontan beugte sich Charlotte rüber zum Fahrersitz und gab ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange: „Danke.“

 

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