Ein Roman von Mira Steffan
Die Urlaubsbräune und Erholung waren schnell verflogen. Als Charlotte auf die letzten sechs Wochen zurückblickte, stellte sie fest, dass sie an vier Wochenenden die Zeit zu dritt verbracht hatten, nämlich im Kino, beim Shoppen und Eis essen, im Geschichtsmuseum, in einem Großaquarium und beim Spazierengehen. An den anderen beiden Wochenenden hatte Justus gearbeitet, und Charlotte war mit Emma zu ihrem Vater gefahren. Justus und Charlotte gaben sich Mühe viel zusammen zu unternehmen. Auch wenn das ein ständiges Jonglieren war, das Charlotte oft stresste. Doch für ihre Beziehung, ihr Seelenleben und ihre kleine Familie war das genau richtig. Charlotte fühlte sich mit Justus und Emma rundum glücklich. Anteil daran hatte sicherlich auch ihre tägliche Spiegeltherapie. Sie gab ihr jeden Tag aufs Neue ein gutes Gefühl und Sicherheit. Ihre Arbeit jedoch weckten nach wie vor zwiespältige Gefühle in ihr. Es erfüllte sie, wieder gefordert zu sein. Doch das familien- und frauenfeindliche Arbeitsklima behagten ihr nicht. Und auf der Strecke geblieben war das Malen und die Beschäftigung mit der Kunst. Dabei war das ihr Herzenswunsch. Sie schaute in ihren Garten. Die Blätter begannen sich zu färben, herbstliche Vorboten. Nicht mehr lange und das Wintersemester würde beginnen. Sie schüttelte ihren Kopf. Wir war sie darauf gekommen? Die Studentenzeiten waren eine Ewigkeit her. Doch mit einem Mal erkannte sie, was ihr Unterbewusstsein ihr mitteilen wollte. Nicht nur das Unisemester startete wieder, sondern auch die Volkshochschulkurse begannen. Entschlossen fuhr sie ihren Rechner hoch und klickte das neue Programm an. Mal- und Zeichenkurse gab es reichlich. Kurzerhand meldete sie sich bei einem Kurs an, der acht Mal in Folge immer samstags stattfand. Doch dann hielt sie erschrocken inne. War das die richtige Entscheidung für ihre Familie? Doch als sie mit Justus später darüber sprach, redete er ihr zu, den Kurs zu besuchen.
„Acht Samstage ohne dich, werden wir schon verkraften. Wenn Karl Zeit hat, können Emma und ich vielleicht etwas mit ihm unternehmen.“
„Es macht dir wirklich nichts aus?“
„Nein, probiere es. Ich denke, dass das wichtig für dich ist. Und ich habe versprochen, dich zu unterstützen.“
„Du bist ein Schatz“, Charlotte umarmte Justus so stürmisch, dass sie zusammen zu Boden gingen.
Sie rangelten miteinander, und Justus kitzelte sie. Dabei wälzte er sich lachend auf Charlotte, sah ihr tief in die Augen und begann sie leidenschaftlich zu küssen. Die Welt um sie herum wurde undeutlich und verschwand dann ganz.
Sie bekam den Strich einfach nicht hin. Frustriert warf Charlotte den Stift zur Seite. So würde das nie etwas. Gerade Linien waren einfach nicht ihr Ding.
„Übung macht den Meister. Ich weiß, das ist eine Plattitüde. Aber eine bessere Aufmunterung fällt mir leider nicht ein, weil es die Wahrheit ist“, sagte der Zeichenlehrer lächelnd, als er Charlottes frustrierte Miene sah, „am besten machen Sie zur Übung jetzt ausschließlich 40 grade Linien. Und das jeden Tag“, und fügte erklärend hinzu: „runde Linien sind einfacher, da das natürliche Bewegungen sind.“
Charlotte riss sich zusammen und folgte der Aufforderung. Nach einer kurzen Pause ging es weiter mit dem Schraffieren.
Gewissenhaft befolgte Charlotte den Rat ihres Zeichenlehrers. Ob bei Konferenzen, am Schreibtisch im Büro oder zu Hause – Charlotte übte und übte grade Linien zu zeichnen und versuchte sich an einfachen Motiven. Doch zufrieden war sie nicht. Ihre Tassen oder Äpfel sahen nicht wie die Originale aus. Irgendwie krumm und immer ein bisschen schief. Ihr Lehrer meinte, sie erwarte für den Anfang zu viel. Sicher, die meisten Kursteilnehmer zeichneten nicht besser, bis auf eine Ausnahme. Julia, 17 Jahre, Gymnasiastin mit großen, seelenvollen Augen und kurzen blonden Haaren, die sie immer kunstvoll verstrubbelt trug. Mühelos glitt ihr Stift über das Papier. Sie setzte ihn an und der Gegenstand schien förmlich aus ihrer Hand zu fließen. Ihre Zeichnungen sahen aus wie Schwarz-Weiß-Fotografien. Charlotte war begeistert von ihrem Talent.
„Weißt du schon, was du nach der Schule machen willst?“, fragte Charlotte sie, als sie an einem Samstag neben einander saßen und eine Gabel, die vor ihnen lag, abzeichneten. Oder besser gesagt: Charlotte versuchte es, während Julia ein perfektes Abbild kreierte.
„Ich würde gerne in Berlin bildende Kunst studieren und danach als Künstlerin arbeiten“, sagte Julia ernsthaft.
Charlotte nickte bewundernd: „Talent hast du auf jeden Fall. Ich bin sehr beeindruckt von deinem Können.“
„Danke“, sagte Julia und errötete vor Freude. Während sie weiter Strich für Strich den Hintergrund zeichnete, redete sie weiter: „Ich liebe das Malen. Das war schon immer so. Das ist meine Leidenschaft und Berufung. Ich will später als Künstlerin leben und arbeiten. Aber vorher will ich das Handwerk und die Regeln lernen. Und mit dem Ergebnis meine Bewerbungsmappe bestücken.“
Charlotte wurde nachdenklich. Im Kunstunterricht in der Schule hatte es ihr auch immer Spaß gemacht, mit Farben zu experimentieren und kreativ zu sein. Sie musste sich allerdings eingestehen, dass sie nie so dafür gebrannt hatte wie Julia. Hätte sie sonst Betriebswirtschaftslehre studiert? Warum hatte sie sich nicht bei einer Kunsthochschule beworben? Hätten ihre Eltern das verboten? Wohl kaum, wenn sie es wirklich gewollt hätte. Trotzdem – die bildende Kunst hatte sie, soweit sie zurückdenken konnte, immer fasziniert. Seufzend griff sie zum Bleistift.