Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 32

Ein Roman von Mira Steffan

„Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, wie blass Papa ist?“
Charlotte hielt mit dem Harken inne und richtete sich auf: „Jetzt, wo du das sagst. Stimmt.“ Nachdenklich strich sie sich über die Stirn: „Ich glaube, Papa hat auch an Gewicht verloren.“
Pauline nickte und reichte ihr die gefüllte Gießkanne, mit der Charlotte die gerade gepflanzten Stiefmütterchen auf dem Grab ihrer Mutter goss. Sie war so mit sich, ihren Sorgen, der Familie und ihrem Beruf beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht darüber nachgedacht hatte. Wahrgenommen hatte sie die Blässe schon.
„Er vermisst sie sehr“, sagte Pauline.
Charlotte nickte und schaute gedankenverloren auf den Grabstein: „Was können wir tun?“
Pauline zuckte mit den Schultern: „Ich habe mit Sven gesprochen. Wir wollen ihn fragen, ob er mit uns in den Urlaub fährt. Ein Klimawechsel wird ihm bestimmt gut tun. Bevor wir aber Papa fragen, wollte ich das mit dir besprechen, weil ihr dann eine Betreuung für Emma braucht.“
„Die Idee gefällt mir. Das bekommen wir schon hin. Wann fahrt ihr?“
„In den ersten drei Wochen der Sommerferien. Wir haben ein Haus auf Rügen gebucht“, Pauline schaute sie nachdenklich an: „Warum kommt ihr nicht auch mit? Das Haus hat Schlafzimmer für acht Personen.“
„Wir haben uns noch keine Gedanken über die Sommerferien gemacht.“ „Dann habt ihr auch noch nicht gebucht“, stellte Pauline zufrieden fest.
Charlotte lächelte: „Dein Angebot ist sehr verlockend“, und nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Wir sind dabei, soweit Justus nichts dagegen hat.“
„Hat er bestimmt nicht“, sagte Pauline und hob ihre rechte Hand, um mit Charlotte abzuklatschen. Und tatsächlich. Justus hatte nicht nur nichts dagegen, sondern war geradezu hellauf begeistert: „Endlich wieder gemeinsame Ferien.“
Er strahlte Charlotte an, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie ausgiebig.
Es war traumhaft. Das Haus hatte einen eigenen beheizten Swimmingpool und auch noch einen Whirlpool. Genussvoll streckte sich Charlotte darin aus und beobachtete die blubbernden Luftblasen, die sanft ihren Körper massierten.

Der Urlaub war ein voller Erfolg. Liam und Marie nahmen Emma auf ihren Strandspaziergängen mit, bauten mit ihr Burgen, gingen mit ihr auf der Promenade spazieren. Und Emma betete sie an, kopierte Maries Blicke und Gang und Liams ironische Sprüche. Ihr Vater erholte sich zusehends, bekam Farbe und wirkte zum ersten Mal seit dem Tode seiner Frau entspannt. Sven und Justus hatten sich schon immer gut verstanden. Und Charlotte und Pauline waren sich so nah, wie nie zuvor. Familien, dachte Charlotte, sind ambivalente Gebilde. Es gab Missverständnisse, Streitereien, Rivalitäten und Bündnisse. Jeder hatte seine Probleme, Komplexe, Meinungen und Ansichten. Doch wenn die Basis aus Loyalität und Liebe stimmte, hielt man zusammen. So wie ihre Familie. Dieses Wissen wärmte Charlotte und gab ihr Zuversicht. Sie genoss die heiteren gemeinsamen Grillabende, die langen Abendspaziergänge am Strand, die Besuche von Kunstgalerien – Charlotte wünschte sich, dass dieser Urlaub nie aufhören würde. Ihre Gedanken sprangen zu den Kunstgalerien. Dort zu arbeiten musste interessant und anregend sein. Warum hatte sie eigentlich nicht Kunstgeschichte studiert? Das wäre bestimmt ihr Ding gewesen. Sie dachte zurück an all ihre Museumsbesuche und die vielen Kataloge und Bildbände, die sie gekauft hatte und an ihre Sammlung von Postkarten und Postern mit Werken von van Gogh, Toulouse-Lautrec, Liebermann, Caspar David Friedrich oder Goya. Ihr war als junge Frau gar nicht in den Sinn gekommen, aus ihrer Leidenschaft einen Beruf zu machen. Kunsthistorikerin oder Malerin? Ob es dafür zu spät war? Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber wie wäre es, wenn sie versuchen würde, das Malen irgendwie umzusetzen? Dann dachte sie an ihren übervollen Tagesablauf und fluchte leise vor sich hin.

Charlotte schob den linken Ärmel ihres dunkelblauen Pullis hoch und blickte zum wiederholten Mal auf ihre Armbanduhr. Sie wartete auf Dorothea, mit der sie sich zur Mittagspause in einem Café verabredet hatte, das zu dieser Stunde sehr voll war. Deswegen freute sich Charlotte, dass sie einen Tisch in einer Nische bekommen hatte, deren Holzwände sie vor den Blicken der anderen Gäste abschirmte. Ihr Handy bimmelte. Eine Nachricht von Dorothea. Sie würde sich um zehn Minuten verspäten. Charlotte bestellte einen Milchkaffee bei der Kellnerin, um die Zeit zu überbrücken und daddelte an ihrem Handy, als sie zwei laut schwatzende Frauen vernahm, die sich wohl am Nebentisch niedergelassen hatten. Die Stimmen kamen ihr bekannt vor. Und je länger sie redeten, umso sicherer wurde Charlotte, dass das Kolleginnen aus der Rechtsabteilung waren.
„Hast du das Stellenangebot für die Neubesetzung in der Buchhaltung gelesen?“ fragte eine sehr schrille Frauenstimme.
„Ja, dazu kann ich dir aber nichts sagen“, antwortete die andere Stimme abweisend.
Doch davon ließ sich ihre Gesprächspartnerin nicht beeindrucken: „Hast du dir die Beschreibung der Stelle durchgelesen?“
„Ja“, lautete die einsilbige Antwort.
„Findest du es nicht komisch, dass keine Qualifizierung gefordert wird? Offenbar benötigt man nur einen Schulabschluss. Gabi meinte, dass das Einstiegsgehalt bei 3.000 Euro brutto liegt.“
Pause. Dann wieder die schrille Stimme: „Fühlst du dich da nicht ungerecht behandelt?“
„Nein, ich bin mit meinem Gehalt zufrieden.“
„Hm, ja. Ich bin ja auch zufrieden. Trotzdem ist das ungerecht. Insgesamt so, meine ich.“
„Mir ist das egal. Soll der oder die andere doch gut verdienen.“
Obwohl die Schrille nichts erreicht hatte, gab sie nicht auf und stichelte weiter: „Willst du dich nicht beschweren?“ „Nee, warum sollte ich?“
„Ich meine ja nur….“
Das war das Letzte, was Charlotte hörte, denn Dorothea trat an den Tisch und ließ sich aufstöhnend auf den Stuhl ihr gegenüber plumpsen: „Boah, ich dachte schon, die kommen nie zu einem Ende, diese aufgeblasenen Egos.“
Charlotte legte ihren Zeigefinger auf den Mund und deutete mit ihrem Kopf in Richtung der Kolleginnen. Dorothea stutzte, blickte sich um und verdrehte die Augen. Leise sagte sie: „Pff, noch nicht mal in der Pause ist man vor denen sicher.“
„Die eine ist eine elende Tratsche und Unruhestifterin“, sagte Charlotte leise, ohne ihre Geringschätzung zu verbergen.
Dorothea zwinkerte verschwörerisch, erhob sich leise und blickte vorsichtig über die Holzwand. Schnell ließ sie sich wieder zurückfallen.
„Da hast du leider recht.“ Dorothea griff nach der Speisekarte und sagte lauter: „Was essen wir denn heute?“
Sie bestellten jeweils einen Flammkuchen.
„Du siehst fantastisch aus. Der Urlaub ist dir anscheinend sehr gut bekommen.“
„Ja, es war traumhaft. Wir haben uns alle richtig gut erholt“, sagte Charlotte und begann zu erzählen.

Feierabend. Charlotte hatte es eilig. Sie war mit Justus und Emma in ihrer Lieblingseisdiele verabredet. Sie hastete an Menschengruppen und Schaufenstern vorbei. Doch mitten im Eilschritt blieb sie abrupt stehen. In zwei Schaufenstern waren großformatige Bilder ausgestellt. Die Zeit wurde unwichtig. Magisch fühlte sie sich von den Gemälden angezogen. Mit dem Gesicht nah an der Scheibe, bewunderte sie die Frauenbildnisse. Das musste Elvira Bach gemalt haben, dachte sie. Und tatsächlich. Die Signatur verriet es. Fasziniert betrachtete Charlotte die Frau, die mit überdimensional großen Händen ein Herz umklammert. So ein Bild würde sie sich nie leisten können. Wenn sie allerdings in einer Galerie arbeiten würde, könnte sie diese und andere Bilder täglich sehen und bewundern. Oder sie könnte selbst Bilder malen. Charlotte schüttelte den Kopf. Woher kamen diese Gedanken schon wieder? Entschlossen riss sie sich von der Betrachtung los. Ihre beiden Lieben warteten auf sie.

 

 

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