Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 33

Ein Roman von Mira Steffan

Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, noch bevor sie den Hörer abnahm.
„Frau Reimann, Emma hat sich beim Sportunterricht verletzt. Sie hat wohl eine Gehirnerschütterung. Der Rettungswagen hat sie ins Krankenhaus gefahren. Ihre Klassenlehrerin ist bei ihr. Ihrer Tochter geht es aber gut. Ich habe schon mehrfach versucht Sie zu erreichen.“ Die Schulleiterin redete in einem hektischen Tonfall, der Charlotte ganz benommen machte.
„Stopp“, Charlotte schrie fast in die Sprechmuschel.
Der Redefluss hörte unvermittelt auf.
„In welches Krankenhaus ist meine Tochter gebracht worden?“ Die Schulleiterin nannte den Namen.
„Ich bin schon unterwegs. Danke für Ihren Anruf“, hastig legte Charlotte auf, griff nach ihrer Tasche und ihrem Mantel. Im Hinauseilen rief sie ihrer Sekretärin zu, dass sie alle heutigen Besprechungen streichen solle. Im Auto konzentrierte sie sich auf das Fahren. Einen Schritt nach dem anderen, ermahnte sie sich. Hatte die Schulleiterin nicht gesagt, dass sie sie zunächst nicht erreicht habe, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Wieso hatte sie nicht Justus oder ihren Vater angerufen? Die Telefonnummern hatte die Schule schließlich. Sie schüttelte den Kopf und fuhr auf den Krankenhausparkplatz. Sie stellte ihr Auto ab, hielt kurz inne, um sich zu sammeln und rief beide an. Justus machte sich sofort auf den Weg. Ihren Vater bat sie, sich keine Sorgen zu machen und versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten. Zu ihrer Erleichterung reagierte er umsichtig und ruhig. Charlotte betrat das Foyer des Krankenhauses. An der Information schickte man sie in die Ambulanz. Eine Krankenschwester führte sie in das Untersuchungszimmer. Dort lag Emma und winkte ihr von der Liege aus zu: „Hallo Mama.“
Erleichtert atmete Charlotte tief ein und wieder aus. So schlimm konnte es nicht sein.
Der behandelnde Arzt, der an Emmas Bett stand und sie untersuchte, drehte sich um und nickte ihr freundlich zu. Auch das wertete Charlotte als gutes Zeichen.
„Außer einer großen Beule an der Stirn, geht es Ihrer Tochter gut. Ich möchte sie aber trotzdem über Nacht zur Überwachung hier behalten.“ „Kann ich bei ihr bleiben?“
„Wenn Sie das wünschen. Frau Lugh zeigt Ihnen alles“, sagte der Arzt und deutete auf die Krankenschwester, die sie in den Raum begleitet hatte.
Charlotte nickte Frau Lugh zu und sah jetzt erst, dass Emmas Klassenlehrerin, die auch die Sportlehrerin war, an Emmas Fußende auf einem Schemel saß. Ihre Gesichtsfarbe konkurrierte mit dem Weiß der Wand.
Charlotte ging zu ihr: „Hallo Frau Schulz. Da hat Emma uns aber einen riesigen Schreck eingejagt. Wie ist das denn passiert?“
„Es tut mir so leid Frau Reimann“, Frau Schulz‘ Kopf pendelte haltlos zwischen ihren Schultern in und her, wie bei einer Marionette, bei der die Fäden gerissen waren: „Wir haben Bockspringen geübt und Emma ist vom Sprungbrett abgerutscht und gegen den Kasten gefallen.“
„Gab es denn keine Hilfestellung von Ihrer Seite?“
„Schon. Aber Emma wollte keine. Sie wollte unbedingt den beidbeinigen Absprung alleine schaffen.“
„Dann hätte ich eine eins bekommen“, hörte Charlotte Emmas Stimmchen von der Liege.
In Charlotte stiegen Erinnerungen an ihren eigenen Schulsport hoch. Wie sie den gehasst hat. Die Ausgrenzungen durch die anderen Kinder, wenn man nicht gut genug für das Fortkommen einer Mannschaft war und die Benotungen durch die Lehrerinnen und Lehrer. Das waren eine nicht enden wollende Abfolge von Demütigungen. Sie hatte fast 40 werden müssen, um dieses Trauma zu überwinden und ihren eigenen Zugang zum Sport zu finden. Charlotte konnte es bis heute nicht verstehen, warum körperliche Ertüchtigung in der Schule bewertet werden musste. Keine Frage – Sport war ein prima Ausgleich zur Schulbank. Aber Bewertungen gehörten ihrer Ansicht nach in den Leistungssport, der freiwillig gewählt wurde.
Charlotte strich Emma liebevoll über die Haare: „Ach Emma.“
Was sollte sie ihrer Tochter sagen? Das ihr Sportnoten herzlich egal waren? Das sie Schulsport nicht ausstehen konnte. Wohl kaum. Sie wollte Emma nicht demotivieren. Also sagte sie: „Beim nächsten Mal holst du dir Unterstützung, okay?“

„Okay, Mami“, sagte sie leise.
Unerwartet heftig wurde die Tür aufgerissen. Vor ihnen stand ein ernst dreinblickender Justus: „Wie geht es Emma?“
„Hey Papi“, piepste Emma.
Charlotte lächelte ihren Mann beruhigend an: „Sie hat eine Beule am Kopf. Das ist beim Bockspringen im Schulsport passiert. Emma bleibt zur Beobachtung heute im Krankenhaus. Ich darf bei ihr bleiben. Frau Lugh“, Charlotte deutete auf die Krankenschwester, „wollte uns gerade unser Zimmer zeigen.“
„Ich komme mit“, sagte Justus knapp, stutzte dann kurz, als er Emmas Lehrerin erkannte.
„Herr Reimann. Entschuldigen Sie bitte, ich hätte besser aufpassen müssen.“ „Schon gut, Emma hat sich ja nicht ernsthaft verletzt.“
Erleichterung machte sich auf dem Gesicht der Lehrerin breit: „Dann lasse ich Sie jetzt am besten allein. Oder kann ich noch etwas für Sie tun?“
Justus und Charlotte schüttelten gleichzeitig den Kopf und verabschiedeten sie.
Das Krankenzimmer war klein, aber dafür hatten es Emma und Charlotte für sich allein.
„Soll ich bei euch bleiben?“, fragte Justus besorgt.
Charlotte lächelte ihn an: „Ich denke, einer von uns reicht. Und ich glaube auch nicht, dass es noch eine zweite Liege gibt. Du kannst uns aber einen Gefallen tun und unsere Schlafanzüge, Zahnbürsten, Unterwäsche und meine Schminksachen bringen.“
„Klar. Mache ich. Ich bin gleich wieder zurück.“
„Warte mal. Ich schreibe dir lieber einen Zettel mit den Sachen, die wir brauchen. Dann vergisst du auch nichts.“ Charlotte kramte nach dem Miniblock und Kuli in ihrer Handtasche, schrieb alles auf einen Zettel, malte am Ende der Liste ein kleines Herz, riss den Zettel ab und reichte ihn Justus, der ihr erfreut zuzwinkerte.
Als er fort war, rief Charlotte ihren Vater an und anschließend ihre Sekretärin, um sich für die morgige Sitzung entschuldigen zu lassen.

„Schuster war gar nicht davon begeistert, dass Sie bei der letzten Sitzung gefehlt haben“, schadenfroh grinste Leo Schneider Charlotte an.
Nur nicht rechtfertigen. Mund halten, dachte Charlotte und grinste zurück. Laut sagte sie: „Ach, gut das ich Sie treffe, Herr Schneider. Ist die Analyse zur Anschaffung neuer Gummiverarbeitungs-Maschinen fertig?“
Das Grinsen war mit einem Mal wie weggewischt. „Noch nicht. Aber nächste Woche“, sagte Schneider und verließ sie fluchtartig, ehe sie etwas darauf erwidern konnte.
Charlotte ging weiter den Flur entlang und betrat das Vorzimmer zu ihrem Büro. „Guten Morgen Frau Grüntal.“
Bärbel Grüntal, die gerade konzentriert tippte, sah kurz hoch. „Guten Morgen Frau Reimann“, sagte sie und tippte weiter.
„Haben Sie mich gestern bei Herrn Schuster entschuldigt.“
Grüntal nickte: „Er ließ durch seine Sekretärin ausrichten, dass Sie sich bei ihm melden sollen, sobald Sie wieder im Büro sind.“
„Danke“, Charlotte ging in ihr Büro, fuhr ihren Rechner hoch und griff zum Telefonhörer.
„Es freut mich, dass Sie wieder arbeiten“, sagte Schuster nach der Begrüßung.
Irgendwie klingt sein Ton süffisant, dachte Charlotte und sagte, trotz fehlender Nachfrage: „Meine Tochter ist gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ihr geht es jetzt wieder gut.“
„Schön, schön“, sagte Schuster und schwenkte direkt über zu dienstlichen Themen.
Als sie den Hörer wieder auflegte, schloss sie für einen kurzen Moment ihre brennenden und übermüdeten Augen. Der Arbeitstag würde heute lange dauern. Sie rief ihren Vater an und sagte ihm Bescheid.
„Ich kümmere mich um Emma. Mach dir keine Sorgen. Ich hole sie gleich von der Schule ab, mache ihr was zu essen, beaufsichtige ihre Hausarbeiten und fahre sie später zum Klavierunterricht. Ich habe alles im Griff.“ „Ach Papa, was würden wir nur ohne dich machen?“
„Keine Ahnung“, sagte ihr Vater fröhlich, und Charlotte hörte ihn leise lachen. „Es macht mir Freude, mich um Emma zu kümmern. Soll ich sie nach dem Klavierunterricht zu euch nach Hause bringen?“
„Das wäre prima. Justus ist gegen 19 Uhr zu Hause. Dann kann er übernehmen.“
„Alles klar. Mach dir keine Sorgen. Wir bekommen das schon hin.“
Gut gelaunt verabschiedete sich ihr Vater. Doch in Charlotte breitete sich das schlechte Gewissen aus wie ein Geschwür. Wie schafften das all die anderen Frauen? Vor allem diejenigen, die mehr als ein Kind hatten und keine helfenden Großeltern. Deswegen gab es wohl so viele Frauen, die halbtags arbeiteten und in ihrem Beruf nicht weiterkamen. Und wie bewerkstelligten das eigentlich Alleinerziehende?

 

 

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