Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 31

Ein Roman von Mira Steffan

Charlotte blätterte im Aktenordner vor und zurück, vor und zurück. Wieso hatte der Abteilungsleiter den alten Wartungsvertrag für die Spritzgießmaschinen gekündigt? Irgendwie erschienen ihr die Kosten für den neuen Vertrag zu hoch. Vielleicht war der Vorgang im Rechner abgespeichert worden. Sie fand nichts. Nachdenklich erhob sie sich von ihrem Schreibtisch und ging in das Vorzimmer: „Frau Grüntal, wo wurden die Verträge der Abteilung 05 aus den letzten Jahren abgespeichert?“
Charlotte hatte nicht nur Heinzes Büro übernommen, sie hatte auch seine Sekretärin geerbt. Bärbel Grüntal war klein, höchstens 1,58 Meter, pummelig, diensteifrig mit einer Tendenz zur Geschwätzigkeit, hatte sehr schmale Lippen und hängende Mundwinkel, was ihr einen unzufriedenen, verbitterten und mürrischen Gesichtsausdruck verlieh. Ihre blond gesträhnten Haare, hatte sie zu einem praktischen Kurzhaarschnitt schneiden lassen.
Gelangweilt hob Bärbel Grüntal den Blick und zuckte mit den Schultern: „Ich glaube, Sie finden sie auf Laufwerk P unter dem Namen der Abteilung.“
„Mhm“, Charlotte runzelte die Stirn und ging zurück an ihren Rechner. Sie klickte sich durch verschiedene Dateien. Endlich – drei Unterdateien später fand sie den alten Vertrag.
„Da hat sich jemand viel Mühe gegeben, ihn zu verstecken“, murmelte Charlotte, in der sich ein diffuses, unbehagliches Gefühl breit machte.
Mit einem Doppelklick öffnete sie das Dokument. Schnell überflog sie es. Ihr Blick suchte die wichtigsten Zahlen. Da stand es. Der vorherige Wartungsvertrag war um einiges günstiger gewesen. Seltsam, dachte sie, da stimmt etwas ganz und gar nicht.
Sie griff zum Telefon und tippte die Nummer des Abteilungsleiters ein und verabredete für übermorgen ein Gespräch mit ihm. Über den Inhalt verriet Charlotte nichts. Sie wollte sehen wie er reagierte, wenn sie ihn nach dem neuen Vertrag und den gestiegenen Kosten fragte. In der Zwischenzeit würde sie mit seinen Mitarbeitern reden. Je mehr sie bis zu dem Termin sprechen konnte, umso besser konnte sie sich ein Bild machen. Charlotte hatte nämlich im Laufe ihres Lebens gelernt, dass verschiedene Sichtweisen zur Wahrheit führen.

„Sie haben sich bei meinen Mitarbeitern hinter meinem Rücken über den neuen Wartungsvertrag für unsere Spritzgießmaschine erkundigt?“, sagte Horst Alt laut und in einem aggressiven Tonfall.
Ohne sich von dem Verhalten aus der Ruhe bringen zu lassen, schaute Charlotte ihm in die Augen und nickte. Interessanterweise ruhte sie wirklich in sich. Sie horchte in sich hinein. Keine Nervosität, keine Unsicherheit. Sie war ganz bei sich. Die Spiegeltherapie, wie sie ihre Liebeserklärungen an sich nannte, trug Früchte.
Nach den Gesprächen mit seinen Kollegen, hatte Charlotte mit einem krawalligen Verhalten gerechnet. Zusammen mit Dorothea hatte sie sich gestern in der Mittagspause eine Strategie zurechtgelegt. Und die hieß: Gelassen bleiben und nur zubeißen, wenn es notwendig wurde.
Wütend schnellte Alt von seinem Schreibtischstuhl hoch, stützte sich mit flachen Händen auf der Tischplatte ab und beugte sich mit einem bedrohlichen Gesichtsausdruck nach vorn. Seine Augen lagen unter dichten schwarzen, langen, ungepflegten Augenbrauen und starrten sie an. „Das verbitte ich mir.“ Sein Tonfall hatte sich in Brüllen verwandelt.
Ob man daraus kleine Zöpfe flechten kann, fragte sich Charlotte, während sie schaudernd ihren Blick von Alts wuchernden Augenbrauen löste. Ernst schaute Charlotte den fauchenden Kerl an, hob ihre Stimme, achtete aber darauf, in einer tiefen Stimmlage zu bleiben: „Ich verbitte mir diesen Ton, Herr Alt. Ich habe lediglich meine Arbeit gemacht. Und jetzt sagen Sie mir doch bitte mal, warum Sie mit der Wartung zu einer teureren Firma gewechselt sind?“
Alt stutzte, holte Luft und sagte mit einer gepressten Stimme: „Diese Firma hat sehr gut ausgebildete Techniker, ist rund um die Uhr zu erreichen und ortsansässig. Bei akuten Problemen am Wochenenden oder Feiertagen war die vorherige Firma nicht zu erreichen. Außerdem kam noch ein hohes Kilometergeld hinzu, weil sie ihren Sitz in Düsseldorf hat. Und jetzt sage ich es Ihnen noch mal“, er hob den rechten Zeigefinger: „Alles in allem ist der alte Vertrag nur scheinbar günstiger. Charlotte nickte in sich hinein. Jetzt kam das also, der schulmeisterliche, herabsetzende Ton, der einschüchtern sollte. Sie blieb sachlich: „Und das hat nichts damit zu tun, dass die Firma Ihrem alten Schulfreund und Patenonkel Ihrer Tochter gehört?“
Alt wurde rot wie ein Radieschen und runzelte die Stirn, was dazu führte, dass die sehr langen Augenbrauen-Haare wie ein löchriger Vorhang über seine braunen Augen fielen. Charlotte verkniff sich ihre Belustigung und konzentrierte sich auf einen neutralen Gesichtsausdruck.
„Nein“, sagte er, sichtlich um Fassung bemüht.
Wortlos wandte er sich seinem Rechner zu, tippte etwas ein und der Drucker neben seinem Schreibtisch begann zu rattern. Alt nahm die ausgedruckten Papiere und reichte sie Charlotte: „Hier steht alles schwarz auf weiß. Sie können es nachrechnen und kontrollieren.“
„Das werde ich“, sagte Charlotte, nahm den Stapel an sich, stand auf, verabschiedete sich von Alt mit einem Nicken und verließ das Büro.
Auf dem Weg zurück in ihr Büro, atmete Charlotte tief durch. Nein, diese Schreierei und dieses Anbrüllen waren ganz und gar nicht ihr Ding. Diese Szene würde sie noch lange beschäftigen. Doch viel Zeit zum Erholen oder Nachdenken blieb ihr nicht. Denn im Vorzimmer, auf dem Stuhl gegenüber von Bärbel Grüntals Schreibtisch, wartete Leo Schneider auf sie. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand, hielt er ein Schwätzchen. Das schien ihrer Sekretärin zu gefallen, denn ihr mürrischer Gesichtsausdruck war völlig verschwunden. Stattdessen lächelte sie Schneider entzückt an.
„Frau Grüntal, würden Sie mir bitte auch einen Kaffee bringen“, sagte Charlotte und winkte Schneider in ihr Büro.
Sie deutete auf den Besprechungstisch: „Nehmen Sie Platz Herr Schneider.“
Charlotte legte den Stapel Blätter auf ihren Schreibtisch und setzte sich dann Schneider gegenüber, der ihr den Monatsbericht für die Geschäftsführung vorlegen sollte, eine Aufgabe, die er von ihr, nach ihrer Beförderung, übernommen hatte. „Wo ist der Bericht?“, fragte Charlotte irritiert, weil Schneider außer der Tasse Kaffee nichts in der Hand oder auf den Tisch abgelegt hatte. „Es war so viel los. Das habe ich zeitlich nicht geschafft“, sagte Schneider kaltschnäuzig. Und wenn sie sich nicht täuschte, grinste er auch noch dabei.
Es ging also weiter, das Machtspiel. Wie anstrengend und nervig und überflüssig. Am liebsten hätte sie ihre Tasche gepackt und wäre gegangen. Oder noch besser: ihm um die Ohren gehauen. Doch wenn sie jetzt keine Grenzen aufzeigte, das wusste sie, würde dieses Spielchen ewig weitergehen. Sie seufzte lautlos in sich hinein. Sah auf, und da erblickte sie es. Er grinste tatsächlich. Sehr selbstgefällig und sehr zufrieden. Und mit einem Mal stieg eine unkontrollierte und heiße Wut in ihr hoch, die sie kaum noch beherrschen konnte. Sie wusste nicht woher das kam, aber am liebsten hätte sie in Schneiders dämlich Visage getreten. Stattdessen holte sie Luft und die Worte purzelten laut, böse und sehr aggressiv aus ihr heraus. Was sie genau sagte, daran konnte sich Charlotte auch später nicht mehr erinnern. Aber es wirkte. Schneider verschwand so schnell aus ihrem Büro, dass er beinahe einen Kondensstreifen hinterließ. Am nächsten Morgen lag der Bericht auf ihrem Schreibtisch.

Der Volksmund sagt, jemand sieht rot, wenn er wütend ist. Doch Charlotte sah vor ihrem inneren Auge immer weiß, wenn sie zornig war. Ob das was zu bedeuten hatte?
„Keine Ahnung“, sagte Dorothea mit der sie ihre Mittagspause verbrachte, „Hauptsache, du hast dir Respekt verschafft.“
„Das heißt also im Umkehrschluss, dass man bisher keinen Respekt und keine Achtung vor mir gehabt hat.“
„Bestimmte Kollegen wohl nicht“, Dorothea zuckte mit ihren Schultern. „Was stimmt denn nicht mit mir, dass man mich nicht respektieren kann?“
„Mit dir stimmt alles. Du hast bisher nur nicht auf ihrer Wellenlänge gefunkt. Sie haben dich nicht verstanden, beziehungsweise deine Freundlichkeit als Schwäche interpretiert.“ „Mhm“, sagte Charlotte und kaute auf ihrer Unterlippe herum, „dann sind wir wieder bei der unterschiedlichen Sprache von Männern und Frauen gelandet?“
Dorothea zuckte mit den Schultern: „Ja, so sehe ich das. Freu dich. Du hast dein Ziel erreicht. Du hast dich durchgesetzt.“
Charlotte nickte nachdenklich. Auch wenn sie die unsichtbaren Regeln und Verhaltensweisen immer besser begriff und auch umsetzte, wohl fühlte sie sich bei deren Anwendung nicht. Immer auf der Hut zu sein und mit Angriffen rechnen und seine Position verteidigen zu müssen, machte ihre Welt grau und freudlos. Aber vielleicht war das auch nur eine Frage der Routine und Gewöhnung oder des Charakters.
„Vielleicht wäre die Welt besser, wenn sie weiblicher wäre“, sagte Charlotte gedankenverloren und nippte an ihrem Kaffee.
Dorothea schüttelte entschieden den Kopf: „Das glaube ich nicht. Das wäre wieder zu einseitig. Ich denke, dass das Beste für alle eine fifty-fifty Mischung wäre. Jedes Geschlecht hat seine Stärken und Schwächen. Wenn wir aufgeschlossen wären und voneinander lernen würden, dann, davon bin ich überzeugt, ging es unserer Welt besser.“

 

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