Zeitenwenden auf den Marmortreppen der Museumsportale

Text und Fotografie von Corinna Heumann

Zeitenwenden zeigen sich auch in den Versuchen einer Neuerfindung europäischer Identitäten und ihrer Standortbestimmung. Gefeierter Ausdruck des europäischen Anspruchs auf kulturelle Überlegenheit waren in den letzten 250 Jahren neben Politik, Wirtschaft und Militär auch die Tempel zur Anbetung der jeweiligen regionalen Kulturauffassungen. Ihre Betreiber unterlagen ebenfalls dem Wettbewerb um den ‚Platz an der Sonne‘. Sie sammelten in der Folge nicht nur die eigenen Artefakte, sondern katalogisierten alles, was global ‚entdeckt‘ wurde. Die eurozentrischen Perspektiven des alten Kontinents gehören glücklicherweise der Vergangenheit an. Dennoch müssen massive Transformationsprozesse bewältigt werden.

Wer sind wir?

Das kulturelle Erbe Europas und seine Verortung in der multipolaren Welt erfährt mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit. Bestandsaufnahmen werden gemacht. Sammlungsobjekte werden genau unter die Lupe genommen. Renommierte Sammlungen werden auf ihre kulturelle Relevanz hin neu definiert und geordnet oder verschwinden für unbestimmte Zeit in Depots. Provenienzforschung ist das Gebot der Stunde. In der Folge können diese Inventuren Bedeutungsverluste und finanzielle Einbußen nach sich ziehen. 

Die Kritik am europäischen Anspruch auf Universalität und Autonomie der Kunst ist im Mainstream angekommen. Die Symbolkraft der Kunstobjekte wird nun auch auf ihre Intention hin transparent erklärt. Manche Sammlungsgegenstände werden daraufhin in ihren ursprünglichen religiösen Kontext zurück übertragen. Das neue Selbstverständnis vieler Kulturen führt in allen Teilen der Weltgesellschaft zu einer Umorientierung. Bisher akzeptierte Wert- und Moralvorstellungen werden nicht nur in Europa, sondern auch in den jeweiligen Herkunftsländern bedeutender Objekte zur Disposition gestellt (z. B. Benin-Bronzen). Die Welt ordnet sich gerade neu. Museen gehen zuweilen mit beachteten internationalen Ausstellungen voran. Verantwortliches Handeln statt Polarisierung ist gefordert (vgl. documenta fifteen).

Divers und Diversifizierung

Bisher vorwiegend lineare Deutungsmuster unserer kulturellen und individuellen Vergangenheit vervielfältigen sich zu einem Multiversum unterschiedlichster Erklärungsversuche. Die Globalisierung fordert nicht nur traditionelle kulturelle Gewissheiten heraus, sondern auch progressive. Sehgewohnheiten und Erwartungshorizonte ändern sich ständig. Definitionen ästhetischer und repräsentativer Kriterien werden permanent um neue kulturkritische Begriffe erweitert oder sogar ersetzt.

Seitdem erste Museen und Sammlungen im ausgehenden 18. Jahrhundert auf der europäischen Bühne erschienen, hielt man trotz aller Umbrüche, Raubzüge und Ikonoklasmen am Bemühen um Objektivität und universelle Geltungskraft fest. Kriterienlisten für das Beste und Schönste einer Kultur wurden angefertigt. Damals wie heute sollte die Welt mit dem Verstand erfasst, dargestellt und idealerweise friedlicher und gerechter gemacht werden. Die Enzyklopädisten Diderot, d‘Alembert und Kolleg:innen schrieben das Wissen ihrer Zeit auf, um es allen Menschen als Grundlage progressiven Denkens und Handelns zugänglich zu machen. Es entstanden neue feste Strukturen von Wissensmanagement außerhalb klerikaler Institutionen. Der Grundstein virtueller Säulenhallen der Utopie einer als moralisch überlegen empfundenen Existenzform wurde gelegt. Sammlungen lassen sich unbegrenzt erweitern. Durch regelmäßige Neuerwerbungen faszinieren sie ihr Publikum bis heute. Dennoch erscheint uns heute dieses System auf mysteriöse Weise begrenzt. 

Verbindung von Wissen und Emotion

Das Wissen unserer Zeit wächst exponentiell in viele Richtungen. Aus Interdisziplinarität und Transkulturalität entstehen neue Formen von Bildung und Teilhabe. Das Bewusstsein der Verflechtung historischer und individueller Lebensumstände nimmt genauso zu wie die Frage nach ihrer emotionalen Einordnung. Neue Technologien können menschliche Gefühle berechnen und simulieren. Trotz ihrer weit verbreiteten Akzeptanz – sie machen unser Leben schließlich noch bequemer – wächst in Teilen der Bevölkerung Unbehagen, wenn nicht sogar Angst. Die Forderung, dieser kulturellen Dynamik Rechnung zu tragen, steht im Raum: Museen als historischer Showcase, pädagogisches Powerhouse, multimedialer Erlebnisraum mit Tendenz zum Overkill, Partyzone in edler Kulisse oder doch Ort der Betrachtung, Reflexion und stillen Lernens? 

Museen als Spiegel der Gesellschaft

Die Vermarktung der Vergangenheit beginnt in der Gegenwart. Herrschaftswissen wird aufgebrochen, neu definiert und angepasst. Differenziertere Sichtweisen und ihre Präsentation können alten Sammlungen und einzelnen Objekten herausragende Aktualität verleihen. Durch Umdeutung ehemals eng gefasster linearer Kunst- und Kulturbegriffe erstrahlen historische Objekte in neuem Glanz. Überraschende Thesen und Perspektiven bewirken häufig eine bedeutende Steigerung der Besucherzahlen.

Museen gehören als Produktionsstätten von Identifikation und historischen Zusammenhängen in die Mitte des sozialen Lebens. Dieses Konzept ist in der westlichen aufgeklärten Welt übrigens nicht neu. Schon immer ist es Aufgabe von Museen, eine Vielzahl unterschiedlicher Lebenswelten zu verbinden und zu versöhnen. Im Gegensatz zu royalen Kunst-Exklusivclubs, banalem Bling-Bling, reaktionärer Architektur und pompösen Blockbusterausstellungen wertschätzen die meisten Menschen Kunst und Kultur immer schon als hohes Gut und Bestandteil ihres Alltagslebens. Sie scheuen meist keine Mühe beim Ausüben, bewundern und fördern herausragende Talente aus ihrer Mitte. 

Elfenbeinturm oder Turmbau 

Museumsautoritäten sind heute verpflichtet, über das Bewahren der Sammlungen und Besucherzahlen hinaus die zukünftigen Generationen aus allen Teilen der Gesellschaft proaktiv einzubeziehen. Kontroverse Aktionen von Aktivisten könnten sie mit einer transparenten, lebendigen und friedfertigen Debattenkultur in die Zukunft tragen, frei nach der Idee der Sozialen Plastik von Joseph Beuys. Vorausgesetzt sie setzen sich mit den Lebenswirklichkeiten, Erfahrungen, Utopien und Ausdruckformen junger Menschen ernsthaft auseinander.

Die progressive Kulturwirtschaft bietet bereits eine Vielzahl individueller und gesellschaftlicher Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Nicht nur Designobjekte, sondern legendäre Clubs, Hotels und Freizeitparks werden von Künstlern und Künstlerinnen gestaltet. Sprayer sind nicht mehr nur für die Produktion von Ausstellungsgegenständen zuständig, sondern selbstverständlicher Teil von Projekt-Entwicklungsteams ganzer Stadtviertel. 

Nur Menschen schaffen Sinn und Bedeutung

Museen werden erst mit ihrem Publikum lebendig. Museen sind Orte der Identifikation, Offenheit und auch Vergewisserung. Dort tauscht man sich über Thesen und Themen aus und bearbeitet sie inklusiv, kritisch und weltoffen. Zeitgeist, handwerkliches Können, neue Technologien bilden im lokalen und im weltweiten Kontext einen vielstimmigen Klangkörper. Nicht nur Objekte werden gezeigt und diskutiert, sondern auch konservatorische Arbeitsprozesse, indem man beispielsweise Restaurierungswerkstätten öffnet. Mit maschinellem Lernen werden über weltweite Datenbanken der Archive zerstörte oder vergessene Kunst, handwerkliche Techniken und regionale Lebensweisen rekonstruiert. Kunstschaffende gestalten Räume zu freier Reflexion und zum Dialog auf allen Ebenen der Gesellschaft. Es bleibt attraktiv, anhand ausgewählter Objekte die Welt besser zu verstehen.

Das zeitgemäße Museum ist kein Sarkophag, sondern ein lebendiger Ort der Vernetzung und Versöhnung, der Inspiration und Stimulation. Als eine Art zweckfreies ‚Labor’ lädt ein Museum zum ‚Selber-Denken‘ und ‚Selber-Machen’ ein. Das ursprünglich humanistische Bildungsideal entwickelt sich in eine spannende Zukunft! 

Anmerkung: Das Foto entstand im Centre Pompidou, Malaga. Dieser Text wurde inspiriert durch einen Workshop zur Neukonzeption des Bonner Stadtmuseums und ein Symposion zur Zukunft der Museen im Wallraff-Richartz Museum in Köln sowie durch lustvoll anregende und nachdenkliche Museumsbesuche im Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen, im Amsterdamer Rijksmuseum und im Stedelijk, auf der Biennale und im Dogenpalast (Anselm Kiefer) in Venedig, im Deutschen Museum München, in den Jüdischen Museen Münchens und Berlins sowie im dortigen Humboldt Forum, besonders auch in der Ausstellung ‚Susanna’ im Kölner Wallraf-Richartz-Museum und in vielen weiteren großen und kleinen Museen Europas und der Welt.

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