Ein Roman von Mira Steffan
Heinzes ungläubiger Gesichtsausdruck sagte alles. Er glotzt wie ein betäubter Goldfisch, dachte Charlotte ketzerisch und musste fast auflachen, unterdrückt den Impuls aber sofort. Dann räusperte sich Heinze: „Mhm.“ Charlotte schaute ihn gebannt an. Nichts. Dann hörte sie ein „tja“. Dann wieder ein Räuspern. Ein nervöses Kichern blubberte in Charlotte hoch. Doch da fing Heinze an zu reden: „Ich wollte Sie zu meiner Nachfolgerin vorschlagen.“
Freude schoss durch Charlottes Körper, die genauso schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war. Denn jetzt wurde Heinze laut: „Das können Sie vergessen. Das funktioniert nicht. Wie stellen Sie sich das vor? Wie wollen Sie eine Abteilung leiten, wenn Sie ein oder gar zwei Tage zu Hause arbeiten und für niemanden ansprechbar sind. Nein, entweder Sie sind voll da, oder….“
Die drohende Kündigung schwebte im Raum. Das hatte Charlotte nicht kommen sehen: „Aber…ich wäre doch telefonisch erreichbar“, sagte sie kleinlaut.
Heinze begann im Büro auf und ab zu laufen: „Nein, das geht nicht. Sie müssen vor Ort sein, Sie müssen verfügbar sein. Bei Führungskräften wird davon ausgegangen, dass sie sich überdurchschnittlich für ihren Betrieb engagieren und bereit sind, längere Arbeitszeiten zu leisten. Wenn Sie das nicht hinbekommen, wird Schneider Abteilungsleiter. Wollen Sie das wirklich?“
Heinze stoppte seinen Gang durch sein Büro und sah sie mit so ernster Miene an, dass ihr angst und bange wurde.
„Ich…weiß nicht. Nein…, will ich nicht“, sagte Charlotte stotternd.
„Na also. Dann reden Sie heute Abend mit Ihrem Mann. Und nächste Woche machen wir Ihre Beförderung offiziell“, sagte Heinze nun jovial und ließ sich zufrieden auf seinen Schreibtischstuhl fallen.
Betäubt nickte Charlotte, stand auf und verließ wortlos Heinzes Büro.
Frohlockend schaute Heinze ihr hinterher und beglückwünschte sich zu seinem schlauen Schachzug. Eigentlich hatte er Schneider befördern wollen. Er war zwar nicht besser als die Reimann, aber dafür ein Mann. Da war man auf einer Wellenlänge. Doch unvorhergesehene Situationen erforderten ungewöhnliche Maßnahmen. Schließlich brauchte er Reimanns Wissen und ihren Fleiß und ihre Kooperation. Schon allein deswegen wäre ein Telearbeitsplatz nicht akzeptabel gewesen. Ein Controller musste immer vor Ort sein. Da gab es keine Diskussion. Ihm war aber völlig klar gewesen, hätte er ihr den Telearbeitsplatz verweigert und ihr Schneider vor die Nase gesetzt, wäre er sie los gewesen. Außerdem, so beruhigte er sich, würde dieses Argument Schuster freuen. Der Reimann musste man nicht so viel zahlen wie ihrem männlichen Kollegen.
Ungeordnet und wirr tobten Charlottes Gedanken. Einer jagte den anderen. Wild kreisten sie durch ihren Kopf als Endlosschleife: Da war sie doch glatt auf die Gesellschaftslüge von der Vereinbarkeit von Beruf-, Privat- und Familienleben hereingefallen. Denn vereinbar war hier gar nichts. Warum hatte sie überhaupt wieder angefangen zu arbeiten? Jetzt hatte sie den Salat. Was sollte sie nun machen? Auf die Beförderung verzichten? Dann würde Schneider ihr Chef. Nein, das ging gar nicht. Das konnte sie nicht zulassen. Dann also weiterhin Vollzeit? Und auf das Malen verzichten? Wäre das die Lösung? Alles in ihr sagte nein. Aber malen und eine Abteilung leiten und Familienleben? Nein, das würde nicht funktionieren. Sie liebte Justus und Emma und wollte ihr neues Glück genießen. Ihr Leben war nicht endlos. Und ihre Liebe zu ihnen, das war ihr vollkommen klar, war das Wichtigste in ihrem Leben. Sie konnte und wollte ihre kleine Familie nicht opfern. Also doch Schneider ertragen und die Arbeitszeit auf eine halbe Stelle reduzieren? Oder kündigen?
Nachdenklich lief Charlotte am Ende des Arbeitstages durch den Firmenflur und die Treppe zur Tiefgarage hinunter. Immer noch drehten sich ihre Gedanken wie ein Kreisel im Kopf herum. Sie startete ihr Auto und fuhr gedankenschwer die bekannte Strecke nach Hause. Sie ermahnte sich, alle Optionen noch mal in Ruhe durchzugehen. Kündigen? Nein. Familienleben. Ja. Malen? Nun, das war das Einzige, das sie opfern konnte. War das die Lösung? Malen konnte sie ja auch noch, wenn sie in den Ruhestand ging.
„Sowas habe ich mir schon gedacht. Auch mein Chef hat das Heim-Büro rundweg abgelehnt. Elterliche Berufstätigkeit ist wohl nicht erwünscht“, sagte Justus frustriert, als Charlotte ihm nach dem Abendessen und nachdem sie Emma gemeinsam ins Bett gebracht hatten, von dem Gespräch mit Heinze berichtete.
„Aber“, fuhr Justus fort, „ich habe darauf bestanden, dass die Wochenenden ab jetzt ausschließlich meiner Familie gehören.“
„Und?“, fragte Charlotte.
„Darauf hat er sich eingelassen. Wohl auch deswegen, weil seine Frau sich vor kurzem beschwert hat, dass er zu wenig zu Hause bei ihr und den Kindern ist.“
„Woher weißt du das?“
„Von seiner Sekretärin“, Justus wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.
„Wenigstens etwas“, nachdenklich schaute Charlotte in ihr Weinglas, nahm einen Schluck, betrachtete die Kräuselung auf der Oberfläche und fuhr dann achselzuckend fort: „Ich arbeite natürlich weiter. Die Beförderung will ich mir nicht entgehen lassen. Aber das Malen werden ich erst einmal sein lassen. Trotzdem habe ich für euch nicht mehr Zeit. Das ist doch frustrierend.“
„Ja, aber heute werden wir keine Lösung mehr finden“, sagte Justus und zog Charlotte vom Sofa hoch, „lass uns nach oben gehen und deine Beförderung feiern“, verschwörerisch zwinkerte er ihr zu, und auf Charlottes Haut fing es an zu prickeln.
Als Charlotte am nächsten Morgen an Schneiders offenen Bürotür vorbeikam, wunderte sie sich über die vielen Akten, die in seinem Büro ungeordnet herumlagen. Sie hielt inne. Fragend schaute Schneider von seinem Schreibtisch auf.
Charlotte deutete auf das Chaos: „Was haben Sie denn vor?“
„Wonach sieht das denn aus?“, fragte Schneider zickig. Die tiefen Falten zwischen seinen Augenbrauen, die seinen unwilligen Gesichtsausdruck begleiteten, gaben ihm das Aussehen einer englischen Bulldogge. „Sie müssen nicht gleich scharf schießen, nur weil ich nett sein wollte“, sagte Charlotte und ging weiter in Richtung ihres Büros. Innerlich schlug sie sich auf die Schulter. Hatte sie es endlich mal geschafft, schlagfertig zu reagieren.
„Und – was hat der Familienrat beschlossen?“, fragte Heinze und fläzte sich auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch.
„Ich nehme die Beförderung an und freue mich auf die neue Herausforderung“, sagte Charlotte und lächelte, obwohl ihr nicht nach lächeln zumute war.
Heinze rieb sich die Hände: „Schön, schön. Dann werde ich das morgen in unserer morgendlichen Runde verkünden.“
Heinze wartete mit der Ankündigung bis zum Ende der Besprechung. Nervös rutschte Charlotte auf ihrem Stuhl hin und her. Warum sie hibbelig war, verstand sie selbst nicht. Denn schließlich war schon alles beschlossen. Aber eben noch nicht unterschrieben. Genau. Das war es. Erst wenn sie diese Sicherheit hatte, würde sie sich entspannen.
„…Frau Reimann zum Ersten des nächsten Monats die Abteilungsleitung. In den nächsten Tagen erhalten Sie die schriftliche Benachrichtigung von unserer Geschäftsleitung. Ich freue mich, dass Frau Reimann unser Angebot angenommen hat. Herzlichen Glückwunsch.“
Charlotte war so tief in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie beinahe Heinzes Ansprache überhört hätte. Erst als Heinze ihren Namen nannte, aufstand und umständlich den Besprechungstisch umrundete, wurde sie wieder aufmerksam. Mit der ausgesteckten rechten Hand kam Heinze auf sie zu, ergriff ihre und schüttelte sie kräftig. Das erste, was sie bemerkte, war Schneiders fassungslosen Gesichtsausdruck, während die anderen Herren sie gleichmütig musterten. Doch dann hoben sie langsam, fast widerwillig, ihre Hände und klatschten.
„Haben Sie den Vertrag nicht gelesen? Da steht, dass wir zwei Wochen Zeit haben, den Betrag zu bezahlen“, Meier nahm langsam die Farbe eines Feuermelders an. „Nein, da steht nichts dergleichen“, sagte Charlotte. Sie saß Meier in seinem Büro gegenüber, erhob sich jetzt jedoch und stellte sich breitbeinig vor seinen Schreibtisch auf.
Jetzt erhob sich auch Meier aus seinem Schreibtischstuhl: „Natürlich.“
„Nein“, sagte Charlotte knapp. Fehlt nur noch, dass wir die Pistolen ziehen, dachte sie, laut aber sagte sie: „Wir überprüfen das Ganze noch mal und reden morgen darüber.“
Ohne auf eine Antwort zu warten verließ Charlotte Meiers Büro. Als sie die Tür schloss begegnete sie dem Blick seiner eiskalten blauen Augen, die sie scharf ansahen.
Das Telefon klingelte. Mechanisch schaute Charlotte auf das Display. Frau Sonemann von der Zulieferer-Firma. Schwungvoll nahm Charlotte den Hörer ab und meldete sich. Doch was Frau Sonemann sagte, verstand sie nicht mehr, denn Heinze riss ihre Bürotür auf, polterte in den Raum und ließ die Tür offen stehen, so dass die Geräusche vom Flur zusammen mit seiner dröhnenden Stimme ihr Büro erfüllten. Was genau er sagte oder was genau Frau Sonemann sagte, kam als Geräuschbrei in ihren Ohren an. Abwehrend zog Charlotte ihre Schultern hoch, drehte sich zur Seite, hielt ihr rechtes Ohr zu und versuchte Heinzes lärmendes Verhalten auszublenden.
„Entschuldigen Sie Frau Sonemann. Ich konnte Sie gerade nicht verstehen. Was haben Sie gesagt?“
Aus den Augenwinkeln sah sie Heinze von einem Fuß auf den anderen hüpfen. Das machte sie so nervös, dass sie sich kaum auf das Gespräch konzentrieren konnte. „Ja, mhm“, sagte Charlotte. Anscheinend war das aber nicht die richtige Antwort. Denn Frau Sonemann blieb auf einmal stumm.
„Entschuldigen Sie. Ich war abgelenkt“, sagte Charlotte und sah, dass Heinze schließlich aufgab und ihr Büro verließ. Sie atmete auf. Endlich war ihr Kopf frei für das Telefonat.
Charlotte schaute auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch eine Stunde, um sich frisch zu machen, das Make-up zu erneuern und sich umzuziehen. Bis gerade hatten sie und Justus zusammrn mit Emma Blumenzwiebeln im Garten gepflanzt. Jetzt freute sie sich auf das samstägliche Treffen mit Susanne. Charlotte holte ihre Jeans und einen weißen Pullover aus dem Schrank. Wieder Größe 38 zu haben, machte sie sehr zufrieden. Mit ihren Sachen auf dem Arm ging sie ins Badezimmer. Sie legte sie auf die schmale Bank aus Rattan ab, wandte sich dem Spiegel zu und stützte sich mit ihren Händen auf dem Waschtisch ab. Es war ein seltsames Gefühl, sich direkt in die Augen zu blicken. So, als würde sich hinter den schwarzen Pupillen und den blauen Iriden ein fremdes Wesen befinden, das einen fragend und abwartend anschaut.
„Ich liebe dich“, sagte Charlotte leise und zu ihrem Erstaunen füllten sich ihre Augen dieses Mal mit Tränen. „Ich liebe dich“, wiederholte sie und völlig unerwartet stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
„Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung.“ Charlotte und Susanne saßen in ihrem üblichen Café und prosteten sich zu. Denn statt des üblichen Latte Macchiatos oder Kaffees hatte Charlotte zur Feier des Tages für sich und Susanne Champagner bestellt.
„Siehst du, ich habe es doch gewusst. Du kannst es.“
„Ja, ich weiß“, sagte Charlotte und lächelte Susanne an, „allerdings frage ich mich, warum sie mich genommen haben.“
„Weil du gut bist?“
„Das glaube ich nicht. Irgendetwas stimmt da nicht. Und ehe du mich rügst: Nein, es hat nichts mit Selbstzweifeln zu tun.“
„Sondern?“
„Keine Ahnung. Schneider und ich haben von unseren Uni-Abschlüssen her die gleichen Voraussetzungen. Aber Schneider hat keine acht Jahre wegen Familiengründung ausgesetzt. Also – warum hat man nicht ihn genommen?“„Hast du mir nicht erzählt, dass du ihn bei diesem Seminar kennengelernt hast.
„Ja, aber er war da, weil seine Firma in die Insolvenz gegangen ist. Er hat nur ein halbes Jahr nicht gearbeitet.“
„Wenn das so ist, gibt es nur eine Erklärung“, sagte Susanne grimmig. „Die wäre?“
„Sie zahlen dir weniger Geld.“
„Meinst du? Und wenn es so ist, kann ich was dagegen tun?“
Susanne lachte unfroh: „Nun ja, wenn dein Unternehmen mehr als 200 Mitarbeiter beschäftigt, kannst du die Offenlegung der Gehälter beantragen. Allerdings müssen sechs Mitarbeiter ein vergleichbares Gehalt bekommen.“
„Dann vergiss es“, Charlotte winkte ab, „ich komme nur auf einen, nämlich auf Heinze selbst.“ Sie schaute gedankenverloren in ihr Sektglas, „zu glauben, dass es gerecht und fair in der Welt zugeht, ist naiv. Die Herausforderung des Lebens ist wohl, damit klarzukommen.“
„Genau“, sagte Susanne, zwinkerte ihr zu und hob das Glas, „auf das Leben.“