Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 29

Ein Roman von Mira Steffan

Sie stellte ihr Auto auf dem Wanderparkplatz ab und stieg aus. Wieder atmete sie tief ein. Es roch angenehm nach feuchter Erde, Laub und Gras. Ohne weiter auf ihre Umgebung zu achten, lief sie einen Waldweg entlang und versuchte ihre unzusammenhängenden Gedanken zu ordnen. Was war ihr wichtig? Was wollte sie wirklich? Ihre kleine Familie fuhr es ihr sofort durch den Kopf. Das kam ganz klar an erster Stelle. Egal, welche Probleme sie gerade hatten. Ihre Arbeit kam erst danach. Sie gab ihr das Gefühl von finanzieller Unabhängigkeit. Und dadurch erwuchs auch ein größeres Selbstbewusstsein. Doch befriedigte sie ihre Arbeit? Sie wiegte den Kopf hin und her. Irgendetwas fehlte ihr. Etwas, bei dem sie sich lebendig fühlte. Vielleicht wäre die Kunst oder das Malen ein schöner Ausgleich? Sie blieb vor einer großen Eiche stehen. Wie alt dieser Baum wohl war? Wie hatte er es geschafft, so groß und stark zu werden und allen Widrigkeiten des Wetters zu trotzen? Sie legte ihre Hand auf seinen Stamm und hatte das Gefühl, als würde seine Kraft auf sie übergehen. Zunächst musste sie mit Justus reden. Stell dich den Problemen. Sprich mit ihm. Sei ehrlich, redete sie sich zu oder war es der Baum, der mit ihr redete. Das ganze Chaos war nicht Justus‘ Schuld. Ihr Vater hatte Recht. Sie sollte versuchen, seine Sicht der Dinge zu verstehen. Sie nickte sich aufmunternd zu und blickte zum ersten Mal seit dem Streit mit Justus auf ihre Armbanduhr und erschrak. So spät schon. Kurz entschlossen griff sie zu ihrem Smartphone und tippte eine Nachricht an Justus und sendete sie. Dann machte sie entschlossen kehrt und fuhr direkt nach Hause.

„Da bist du ja“, Justus stand scheinbar entspannt vor dem Herd in der Küche und rührte in einem Topf. Nur seine fest zusammengepressten Lippen ließen seine innere Unruhe erahnen.
„Wir müssen reden. Wo ist Emma?“, sagte Charlotte leise. Sie wollte ihm unbedingt alles mitteilen, was sie bei den Grübeleien über sich und ihre Ehe herausgefunden hatte.
Justus winkte mit dem Holzlöffel in der Hand unbestimmt in den Garten: „Sie spielt draußen.“ Er schaute sie aufmerksam an und sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Er legte den Löffel zur Seite und setzte sich auf den Küchenstuhl.

„Es tut mir leid“, sagte er mit einem mulmigen Gefühl im Magen, ermahnte sich dann aber, sie reden zu lassen und zuzuhören.
„Ich will so nicht weitermachen. Du warst immer mein bester Freund. Und auf einmal war er verschwunden. Ich habe gedacht, dass du dich nicht mehr für mich und meine Bedürfnisse interessierst.“
Als Justus sich räusperte und Luft holte, hob sie abwehrend die Hand und redete hastig weiter. Die Worte brachen aus ihr hervor wie Lava aus einem explodierenden Vulkan: „Ich weiß, dass das so nicht stimmt. Aber unser liebevolles Miteinander war nicht mehr da. Irgendwann ist es weg gewesen. Wir haben uns verloren. Und dann habe ich mich verloren. Oder vielleicht war es auch umgekehrt. Wie auch immer. Der Alltag kann manchmal so anstrengend sein, dass man glatt vergisst, wer man ist und was man will. Unbewusst habe ich dir für all das die Schuld gegeben. Ich habe gedacht, dass sich etwas ändert, wenn ich wieder arbeiten gehe. Aber dadurch ist wohl alles noch mehr aus dem Ruder gelaufen. Nicht, dass du mich falsch verstehst: Meinen Beruf will ich nicht aufgeben, und ich fühle mich auch nicht überfordert. Andererseits will ich etwas machen, was mich begeistert, dem meine Leidenschaft gehört. Und das ist das Malen und die Kunst. Außerdem ist mir klar geworden, dass ich mein Leben weiter mit dir teilen will. Solange du es auch willst“, atemlos hielt sie inne und schaute ihn fragend und mit klopfendem Herzen an. Und als Justus nickte und ihr einen Kuss gab, fuhr sie mit ruhigerer und fester Stimme fort: „Ich kann vielleicht unseren Alltag nicht ändern, aber meine Einstellung. Und mir ist eben auf dem Rückweg eine Idee gekommen: Was hältst du davon, wenn wir beide unsere Arbeitszeit anders aufteilen. Durch Heimarbeit. Ich werde mit meinen Vorgesetzten reden. Freitags könnte ich demnächst zu Hause bleiben. Wenn es gut funktioniert, nehme ich einen weiteren Tag dazu.“
Justus beugte sich vor und gab Charlotte einen Kuss: „Du glaubst ja nicht, wie erleichtert ich bin, dass du mit mir redest. Die letzten zwei Jahre waren furchtbar. Mir ist aber klar geworden, dass ich dich vernachlässigt habe. Und das nicht erst seit du wieder angefangen hast zu arbeiten.“
Justus machte eine kurze Pause und fuhr dann zögernd fort: „Ich habe allerdings noch von keinem Controller gehört, der einen Telearbeitsplatz zu Hause hat. Und ob mein Chef von der Idee begeistert ist, wage ich zu bezweifeln. Aber nachfragen kann ich. Ich würde gerne mehr Zeit mit euch verbringen. Das kannst du mir glauben.“
Charlotte zuckte zustimmend mit den Schultern: „Ich weiß, dass es schwierig ist.“
Justus nahm Charlotte in den Arm, und sie spürte, wie seine Wärme in sie hineinfloss: „Der Alltag hat uns blind füreinander werden lassen. Schon vor unserem Streit habe ich mir geschworen, dir besser zuzuhören und mehr Zeit mit dir allein zu verbringen. Deswegen auch die Idee mit dem Wellness-Urlaub. Aber da bin ich wohl wieder in einen alten Fehler gerutscht. Ich habe dich vorher nicht nach deiner Zeit gefragt. Aber ich gelobe Besserung. Und solange wir miteinander wieder reden können, habe ich Hoffnung. Und weil ich nun weiß, dass auch du mich liebst.“

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