Ein Roman von Mira Steffan
Charlotte öffnete die Haustür. Stille empfing sie. Emma und Justus waren schwimmen. Sie hing ihren Mantel an der Garderobe auf, stellte die Schuhe dazu und schlenderte ins Wohnzimmer. Die cremeweiße Decke, in die sich im Winter immer gerne einkuschelte, lag faul über der Sessellehne. Nachdenklich ging Charlotte in die Küche, öffnete den Kühlschrank, griff nach der Martini-Flasche, nahm ein Cocktailglas aus dem Schrank und Eiswürfel aus dem Gefrierfach. Mit Bedacht, die Ruhe um sich herum genießend, goss sie die hellgoldene Flüssigkeit in das Glas. Als sie das leise Klirren und Knirschen der Eiswürfel hörte, als der Martini auf das gefrorene Wasser traf, entspannte sie sich. Mit geschlossenen Augen nippte sie an ihrem Lieblings-Getränk. Wenn Glück doch immer so einfach zu finden wäre, dachte Charlotte und ihre Gedanken flogen zu Justus. Sie sollte mit ihm reden. Bring endlich deine Ehe in Ordnung, forderte sie sich selbst auf. Und der kurze Moment der Zufriedenheit zerfiel zu Staub. Unbehagen kroch in ihr hoch. Ihr Vorsatz, mutig Veränderungen anzugehen, löste sich auf wie Nebel in der Morgensonne.
Die Harke schepperte gegen die Gießkanne, die Pauline in der rechten Hand trug. In der linken trug sie einen Korb mit Grabkerzen, Streichhölzern und eine Gartenschere. Charlotte lief neben ihr und umklammerte mit festem Griff eine Azalee und eine Palette mit Stiefmütterchen.
„Wenn Mama uns so einträchtig nebeneinander sehen könnte, würde sie sich freuen“, sagte Charlotte.
„Sie sieht uns.“ „Meinst du wirklich?“
Pauline nickte ernst: „Ich glaube fest daran. Es gibt auf dieser Welt weit mehr als wir mit unseren Augen erkennen können.“
„Ich weiß nicht. Vielleicht ist das Wunschdenken?“ Entschieden schüttelte Pauline den Kopf.
„Okay, wenn du meinst, dann lass es uns ausprobieren. Ich bitte um ein Zeichen in einer kniffeligen Angelegenheit.“
Neugierig blickte Pauline sie an.
Während Charlotte einen Fuß vor den andern setzte begann sie zu reden: „Ich glaube, ich habe eine gewaltige Sinnkrise. Ich weiß nicht, was ich will, außer, dass sich was ändern muss. Ich frage mich immer wieder: War es richtig wieder in meinen Beruf einzusteigen? Gut, er gibt mir Anerkennung. Ich stehe wieder mit beiden Beinen im Leben, bin finanziell unabhängig. Aber – er frisst so viel Lebenszeit. An manchen Tagen erstickt mich die Fremdbestimmung geradezu. Und dann diese Rivalitäten im Büro. Das erschöpft mich“, Charlotte blickte Pauline nun direkt in die Augen, „auf meinen Beruf verzichten will ich aber auch nicht. Da wäre ich unzufrieden. Was soll ich tun?“ Charlotte hob ihren Kopf in Richtung des blauen Himmels: „Was rätst du mir?“
Der Himmel blieb unverändert blau. Stattdessen räusperte sich Pauline: „Ich weiß, was du meinst.“
„Geht es dir auch so?“ wollte Charlotte wissen.
Pauline nickte: „Manchmal.“
„Wie hat unsere Mutter das nur gemacht?“
„Keine Ahnung. Und sie hatte bestimmt gegen noch mehr Vorurteile und Hindernisse anzukämpfen als wir. Schade, dass wir sie nicht mehr fragen können“, sagte Pauline.
Sie waren am Grab ihrer Mutter angekommen. „Ich habe unsere Mutter immer bewundert“, sagte Pauline nachdenklich, „je älter ich werde, umso mehr kann ich ihre Lebensleistung nachvollziehen. Wieviel Kraft sie gehabt hat. Sie hat Probleme angepackt und geregelt. Nie hat sie uns etwas vorgeworfen. Sie hat zugehört und nicht geurteilt. Ich wollte immer so sein wie sie: stark, zuverlässig, weise, tapfer, einfühlsam, verständnisvoll. Ist mir aber wohl nicht so gelungen“, Pauline lächelte schief.
„Naja, auf der Nase rumtanzen durften wir ihr aber auch nicht. Weißt du noch, als wir versucht haben, länger aufzubleiben oder als wir von Parties später nach Hause kamen als erlaubt?“, Charlotte kicherte leise.
„Ja, da konnte sie ganz schön wütend werden. Und dann hat sie so getan, als wolle sie uns mit dem Kochlöffel verhauen.“
„Und weißt du noch, wie sauer sie war, als ich mein gesamtes Taschengeld für eine Marken-Jeans ausgeben hatte?“
Wehmütig blickten sie beide auf das Grab, bis Pauline Charlotte einen sanften Klaps auf den Oberarm gab: „Komm, lass uns die Blumen einpflanzen.“
Charlotte öffnete mühsam die Augen. Tageslicht lugte durch die Ritzen der Schlafzimmerrolladen. Verschlafen blickte sie auf den Wecker. 8 Uhr. Etwas in ihr schlug Alarm. Doch noch bevor ihr bewusst wurde, dass das ihr innerer Wecker war, der sie zur Arbeit rief, meldeten ihre Synapsen die Worte „Wochenende und Samstag“. Sofort entspannte sich Charlotte, schloss die Augen und ließ ihre Gedanken treiben. Doch mit einem Mal sickerte etwas anderes in ihr Bewusstsein: Heute war ihr zwölfter Hochzeitstag. Und sie hatte ihn vergessen. Charlottes Magen vollführte einen Dreifach-Salto und blieb mitten in der Luft hängen. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf nach links. Justus‘ Bettseite war leer. Wo war er? Sie horchte. Sie hörte ein Klappern an der Haustür und Emmas aufgeregtes Flüstern. Kurz danach roch sie den Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. Da wurde es ihr klar. Justus bereitete ein Frühstück für sie vor. Schnell schwang sie ihre Beine aus dem Bett. Wenn sie schon kein Geschenk hatte, wollte sie wenigstens frisch riechen. Katzenwäsche musste aber reichen. Barfuß und vorsichtig öffnete sie die Tür, schlüpfte lautlos über den Flur ins Bad, putzte die Zähne, wusch sich das Gesicht und schlich wieder zurück. Kaum hatte sie es sich in ihrem Bett bequem gemacht, öffnete sich langsam die Schlafzimmertür.
„Sie ist wach“, hörte sie Emma aufgeregt flüstern.
Charlotte blickte in die Richtung und sah Justus mit einem Tablett, auf dem ein Frühstück aufgebaut war. Neben ihm stand Emma mit einer Sektflasche und zwei Gläsern.
„Herzlichen Glückwunsch zum Hochzeitstag“, krähte Emma, während Justus das Tablett vor ihr abstellte. Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und murmelte: „Für dich. Ich liebe dich.“
Diese unerwartete Liebeserklärung schoss Blitze durch ihren Körper. Justus schaffte es immer noch, sie zu elektrisieren. Neugierig blickte sie auf das Tablett. Auf dem Frühstücksteller lag ein weißer Briefumschlag mit einer rosa Schleife.
„Ich hoffe, mein Geschenk gefällt dir. Denn eigentlich ist es auch ein bisschen für mich oder besser gesagt: für uns.“
Charlotte griff nach dem Umschlag, legte die Schleife zur Seite und öffnete ihn. Als sie das Blatt langsam herauszog, las sie als erstes das Wort „Gutschein“. Sie faltete es auseinander. Auf edlem Büttenpapier war das Logo eines Hotels gedruckt. Und dann erkannte sie: Sie hielt einen viertägigen Wellness-Urlaub in der Hand.
„Wow“, sagte sie überwältigt, „das ist ja toll.“
Doch dann fiel ihr Blick auf das Datum und ihre Begeisterung verpuffte auf der Stelle. „Justus, das ist das Wochenende, an dem ich zur Weiterbildung in München bin.“ „Ehrlich? Scheiße! Kannst du das Seminar nicht absagen?“
„Was? Natürlich nicht. Warum hast du mich vorher nicht mal gefragt, bevor du gebucht hast.“ Entrüstet blickte Charlotte Justus an, als Emma sich bemerkbar machte: „Freust du dich denn nicht, Mama?“
Charlotte hielt inne, mahnte sich zur Ruhe und sagte: „Natürlich Emma. Ich war nur so überrascht.“
Emma nickte ernst und fragte dann: „Was schenkst du Papa?“
Beschämt sah Charlotte Justus an. An seinem wissenden Blick erkannte sie, dass er wusste, dass sie den Tag vergessen hatte.
„Ein Essen bei Anton“, stotterte Charlotte, stellte entschlossen das Tablett zur Seite und stand auf: „Ich gehe duschen. Frühstücken können wir danach zusammen. Okay?“
Justus zog die Augenbrauen hoch und Emma nickte.
„Dann bis gleich in der Küche“, sagte sie und verschwand im Badezimmer.
Unter der Dusche wallte ihr Ärger über Justus‘ eigenmächtige Urlaubsbuchung wieder hoch. War sie ein kleines Kind? Konnte er sie nicht fragen? Was dachte er sich dabei? Energisch seifte sie ihren Körper ein und ließ dann die warmen Wasserstrahlen über ihren Körper fließen. Doch beruhigen konnte sie das nicht. Der Ärger brodelte in ihr, auch noch nach dem Frühstück. Nachdem Emma von einer Freundin zum Spielen abgeholt worden war, wandte sich Charlotte an Justus: „Ich kann dein Geschenk nicht annehmen.“
Sofort wurde Justus‘ Ton aggressiv: „Warum nicht? Was ist daran so schlimm, die Weiterbildung zu stornieren?“
„Alles“, Charlotte schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch, „hör mit der Bevormundung auf und setz dich mit mir auseinander. Nimm mich ernst.“ Sie erschrak über ihre eigene Heftigkeit. Doch der jahrelange Frust hatte gegen ihren Willen seinen Weg gefunden. Sie hatte lange genug geleugnet und geschluckt.
Eine Weile schauten sie sich wütend in die Augen, bis Justus die Wortlosigkeit unterbrach: „Warum bist du so angespannt? Ist es wegen deines Jobs?“
„Das meinst du jetzt nicht ernst?“
„Naja, Druck im Job kann heftige Auswirkungen haben.“
„Hör auf damit. Setz mich nicht herab, indem du sagst, dass ich meinem Job nicht gewachsen bin.“
„Das will ich doch gar nicht. Charlotte, ich liebe dich. Aber du musst uns eine Chance geben. So geht das nicht weiter.“
„Immer entscheidest du über mich hinweg. Ich habe davon die Nase voll.“ Energisch drehte Charlotte sich um, lief in die Diele, zog ihre Schuhe an, schnappte sich ihren Mantel und ihre Tasche und ließ die Haustür scheppernd hinter sich zufallen.
Sie ließ ihn sprachlos in der Küche stehen.
Sie wusste nicht wie sie dorthin gelangt war. Nach der Auseinandersetzung mit Justus hatte sie nur weggewollt. Flüchten oder kämpfen – das tun Lebewesen eben in Stresssituationen, dachte Charlotte und wunderte sich über diesen klaren Gedanken in ihrem Kopf, während alle anderen wild herumtobten.
Karl, der sich gerade an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, als es an der Haustür klingelte, stand ächzend auf, ging in den Flur und spähte durch das kleine Fenster nach draußen. Er sah eine sehr blasse Charlotte vor dem Haus stehen.
Er riss die Tür auf: „Charlotte – Kind – was ist los? Warum hast du nicht deinen Schlüssel benutzt? Ist was passiert?“, besorgt schaute er ihr ins Gesicht, „Charlotte?“
Erst jetzt registrierte Charlotte, dass sie vor ihrem Elternhaus stand und wohl die Klingel gedrückt hatte. Sie fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn und das Haar: „Ich weiß nicht“, fragend blickte Charlotte ihren Vater an und ergänzte: „Justus und ich haben uns heftig gestritten.“
Ohne ein weiteres Wort zog Karl sie ins Haus, schloss die Tür, legte seinen Arm leicht um ihre Schultern und führte sie ins Wohnzimmer. Er deutete auf das Sofa: „Setz dich.“ Dann drehte er sich zum Wandschrank, griff nach einer Whiskeyflasche und goss die hellbraune Flüssigkeit in zwei Gläser. Eines davon reichte er seiner Tochter: „Trink. Und dann erzähl.“
Charlotte nahm einen großen Schluck. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle und wärmte zunächst ihren Bauch, dann den restlichen Körper.
„Unsere Ehe hat sich verändert. Und das ist schlimmer geworden, seit ich arbeite“, sagte sie, „Justus trifft Entscheidungen über meinen Kopf hinweg, ist sauer, wenn ich nicht so reagiere, wie er das will.“ Charlotte zögerte und fuhr dann zaghaft fort, „wir streiten viel oder schweigen uns an.“
„Entschuldige, wenn ich direkt frage“, Kurt machte eine kurze Pause und holte Luft: „Geht er fremd?“
Charlotte neigte ihren Kopf zur rechten Seite, zog die Augenbrauen hoch und presste ihre Lippen aufeinander: „Dachte ich auch erst. Aber nein, das ist es nicht“, vehement schüttelte sie den Kopf. Trotz ihrer Verwirrtheit und trotz des Kummers hörte sie ihren
Vater erleichtert aufatmen. „Es ist eher so“, fuhr sie fort, „dass ich mich eingeengt fühle und fremdbestimmt und…mir fehlt die Luft zum Atmen. Wir können nicht mehr miteinander reden. Wir leben aneinander vorbei. Es hat sich irgendwann eingeschlichen. Und jetzt sind wir beide unglücklich. Wir sprechen nur noch über Alltagsdinge“, Charlotte schaute blicklos auf ihre Hände in ihrem Schoß.
„Mhm“, machte Karl und dachte voller Sehnsucht an seine Frau, die in solchen Situationen immer gewusst hatte, wie man mit Problemen damit umgeht. Er schickte ein Stoßgebet in den Himmel, oder wo auch immer seine Frau jetzt war, und bat um Hilfe.
„Vielleicht ist es auch der Job, und alles wird gut, wenn ich kündige. Er arbeitet viel, und ich arbeite viel. Vielleicht ist das insgesamt zu viel.“
„Weißt du“, begann Karl sich langsam vorzutasten, „es ist völlig aus der Mode gekommen Kompromisse zu machen, durchzuhalten und der Liebe zuzugestehen, dass sie sich verändert.“
Charlotte zuckte mit den Schultern: „Schon möglich.“
„Aber – was ist Liebe? Vielleicht ist das, was uns zusammenhält, nur Gewohnheit und Bequemlichkeit. Oder Angst vor dem Alleinsein. Oder Angst vor dem Leben. Oder die Angst verlassen zu werden.“
„Naja, manchmal versteckt sich die Liebe und das Glück unter einem Berg von Alltagsunrat und muss wieder ausgegraben werden.“
„Ich weiß nicht. Vielleicht“, Charlotte knetete geistesabwesend ihre Finger und fuhr nach einer kurzen Weile fort, „wenn ich an all die alltäglichen Anforderungen denke, dann könntest du Recht haben“, Charlotte winkte mit einer matten Geste ab und strich mit der rechten Hand ratlos über die Sofalehne.
Nachdenklich ging Karl auf seine Tochter zu, legte seine Hände auf ihre Schultern: „Hör auf, dir Gedanken zu machen. Wer denkt, kann nicht lieben. Wichtig ist, dass du das Bedürfnis hast, Justus so anzunehmen wie er ist. Interpretiere nichts in euch und die Beziehung. Sei einfach nur bei ihm, genieße seine Nähe, versuche ihn zu verstehen und nicht zu verändern. Das reicht.“
„Wenn das mal so einfach wäre.“
„Da irrst du dich gewaltig, meine liebe Tochter. Einfach ist das nicht. Jemanden wirklich spüren zu wollen und ihn zu lieben, setzt voraus, dass du dich selbst annehmen kannst. Und das ist alles andere als einfach. Denn schließlich sind wir eher bereit uns zu kritisieren, als uns in die Augen zu schauen und zu sagen ‚Ich liebe dich‘.“
Charlotte musste unwillkürlich lächeln: „Wie bitteschön soll ich mir selbst in die Augen schauen können?“
Ihr Vater verdrehte grinsend die Augen: „Im Spiegel natürlich. Probiere es mal aus, wenn du dir morgenfrüh die Zähne putzt.“
„Ach Papa“, spontan stand Charlotte auf, ging zu ihrem Vater und umarmte ihn, „du bist so lieb.“
Seine Rührung verbarg Karl hinter einem Hüsteln. Unbeholfen klopfte er Charlotte auf den Rücken: „Das wird schon wieder.“
„Danke“, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange, „ich fahre dann mal wieder. Du hast mir sehr geholfen.“
Als Charlotte vor ihrem Auto stand, atmete sie die laue Abendluft tief ein, setzte sich ins Auto, winkte ihrem Vater, der in der Haustür stand, zu und fuhr los.
Sie musste über so vieles nachdenken, dass sie kurz entschlossen zum Kottenforst fuhr. Sich selbst lieben, die Worte ihres Vaters hallten wie ein Echo in ihrem Kopf nach. Als sie an einer Ampel anhalten musste, schaute sie sich probeweise im Rückspiegel in die Augen. Die blickten sie ernst und fragend an.
„Ich mag dich“, sagte sie laut zu sich selbst.
Ein Wirrwarr an Gefühlen stieg in ihr hoch. Sie schob sie beiseite und versuchte es noch einmal: „Ich liebe dich.“
Obwohl der Impuls, den Blick abzuwenden übermächtig wurde, hielt sie ihm Stand.