Das Floß der Medusa – Gibt es überhaupt noch Utopien? 

Text und Bild von Corinna Heumann

Antworten auf diese Frage geben junge Menschen auf Theaterbrettern mit großer Selbstverständlichkeit, zur Zeit auf dem Floß der Medusa in der Bonner Werkstattbühne. Nach einem Schiffsuntergang entwerfen sie mit der ihnen eigenen Energie und Tiefe, Beobachtungsgabe und Musikalität auf dem rettenden Theater-Floß neue Welten. Ihre Entwürfe geben einerseits Antworten auf die großen Fragen der Gegenwart, andrerseits inspirieren sie zu Überlegungen in neuartigen Sinnzusammenhängen. Man sollte ihnen genau zuhören, denn ohne Utopie gibt es weder Kunst, noch Kultur, noch Fortschritt.

Gemeinhin gelten Schiffsreisen als romantisches Symbol für die Reise des Lebens, die mit dem Einlaufen in den friedlichen Hafen im endlichen Schein der Abendsonne ihre Erfüllung findet. Stattdessen kommt es zur Katastrophe: Überlebensstrategien, Solidarität, Sinn und Sehnsucht, Verantwortung und Führung werden von 10 jungen Menschen intensiv verhandelt. 

Zivilisationsbruch

Historischer Ausgangspunkt ist eine beispiellose Katastrophe aus dem Jahr 1816. Sie ist der Beginn einer langen Reihe künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten zu individuellen und kollektiven Überlebensfragen. Nur 15 von 150 Schiffbrüchigen überlebten damals auf einem Floß den Untergang eines Schiffs der französischen Marine, der Medusa. Sie war mit 400 Personen an Bord in Frankreich in See gestochen. Sie lief vor der Küste Afrikas auf Grund. 150 Menschen wurden auf einem Floß ausgesetzt und durch das Kappen der Leinen ihrem Schicksal überlassen, während sich die anderen in der zu geringen Anzahl von Rettungsbooten davon machten. Hilflos trieb das Floß 13 Tage ohne Lebensmittel mit einigen Fässern Wein an Bord auf dem Meer. Kannibalismus folgte. Anschließende Untersuchungen der französischen Regierung ergaben, dass Korruption und Vetternwirtschaft die Ursachen für die Unfähigkeit des Kapitäns und damit für die Katastrophe waren. Deren Aufarbeitung führte den Zeitgenossen das strukturelle Ausmaß des Skandals vor Augen. Der Marineminister wurde gestürzt. Es kam zu Massenentlassungen in den Ministerien.

Théodore Géricault (1791 – 1824)

Nach weiteren umfangreichen Recherchen zur Schiffskatastrophe, unzähligen Skizzen zur Beobachtung von Himmel und Meer, Studien von Leichen und den Gesichtern Sterbender, nach Gesprächen mit Überlebenden sowie einem dafür hergestellten, detaillierten, verkleinerten Modell des Floßes, begann der junge Maler Théodore Géricault (1791 – 1824) das ca. 5 x 7 m große Gemälde in Öl auf Leinwand mit dem Titel Szene eines Schiffsbruchs. 1819 stellte er seine monumentale Darstellung dieses schrecklichen Überlebenskampfes im Pariser Salon aus. Betrachtern war sofort klar, dass es sich um ein reales Ereignis handelt, Das Floß der Medusa, Le Radeau de la Méduse. Die schonungslos realistische Bildsprache erhob das Floß zum Symbol eines Zivilisationsbruchs, des Skandals, der wenige Jahre zuvor die französische Regierung erschüttert hatte. Heute ist das Werk von Théodore Géricault im Louvre zu sehen und gilt neben der Mona Lisa als eines der wichtigsten Gemälde des französischen Kulturerbes.

Menschen als Opfer von Korruption und Vetternwirtschaft

Zum ersten Mal in der bisher bekannten Kunstgeschichte wurden verzweifelte Menschen detailgetreu als Opfer nachgewiesener Korruption und Vetternwirtschaft, als Opfer von Verrat, Gewalt und Hunger in ihrer Ausweglosigkeit, lebens- und todesnah, individuell und monumental dargestellt. Ich fand 15 Menschen auf diesem Floß. Diese Unglücklichen hatten sich von Menschenfleisch ernährt, und die Seile, die den Mast hielten, waren bedeckt mit Stücken dieses Fleisches, die sie zum Trocknen aufgehängt hatten. So berichtete es der Kapitän des rettenden Schiffes. Bis dahin waren derartig außergewöhnliche Formate den heroischen und idealisierten Darstellungen der Mächtigen und Einflussreichen reserviert. 

Ausdruck des Entsetzens über die Ereignisse

Auch in der Gegenwart wird in den vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen an diese Katastrophe angeknüpft. Ihre Gemeinsamkeit ist der Ausdruck des Entsetzens über die Ereignisse mit der Frage nach deren ästhetisch wirkungsvollster Umsetzung. Kunstschaffende etablierten bereits im 19. Jahrhundert den Schiffbruch der Medusa als Symbol für den Schiffbruch der Menschheit, die sich zunehmend von ihren eigenen zivilisatorischen Errungenschaften und Erkenntnissen entfernt, wobei sie zuerst ihre eigenen Lebensgrundlagen, anschließend sich selbst zerstört.

Die City of Benares

Im 2. Weltkrieg nimmt der Dramatiker, Georg Kaiser, erneut das Thema des Gemäldes für sein gleichnamiges Schauspiel auf. Aktueller Anlass war eine Zeitungsmeldung über die Versenkung eines britischen Schiffs, der City of Benares, mit ca. 200 Personen an Bord durch ein deutsches U-Boot am 17. September 1940. Unter den Schiffbrüchigen befanden sich viele Kinder auf ihrer Flucht nach Kanada. Deren Geschichte inspirierte wiederum Jugendliche im Jahr 2023 zu ihrer gesellschaftspolitisch differenzierten und aufwühlenden Version, Das Floß der Medusa.

Urknall 

Was für eine Welt, die jeden Tag ein Stück zerfällt

In der kein Platz für morgen ist und die letzten Reste 

meiner Würde  frisst

Was, wenn Du gehst, in eine neue Realität

Frei von Reue, Schmerz und Blut

Meine Wunden würden heilen so gut

Du schaust aus dem Fenster

Wolken, die sich verändern

Du weißt nicht, ob es ein Unfall ist oder der Himmel sich

noch vor dem Abend bricht.

Eine Welt voller Ängste, das Wort mit ‚A‘ kennste

Ich wollt nie studieren Waffen und Kampf

Apokalypse, ich kann sie fühlen, sie kommt

Wir müssen kämpfen, komm gib mir die Hand

Ein letzter Kuss mit dir am Straßenrand

–  Linda Belinda Podszus, Werkstattbühne Bonn

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