Ein Roman von Mira Steffan
Pauline nickte in Charlottes Richtung und schwadronierte seit zehn Minuten unverdrossen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Grabeinfassungen. Sie saßen sich am Esstisch ihrer Eltern gegenüber. Ungeduldig wippte Charlotte mit den Füßen, schaute betont gelangweilt aus dem Fenster, und als Pauline immer noch nicht reagierte, schlug sie entnervt mit der flachen Hand auf den Tisch: „Ich habe es dir doch gerade erklärt. Papa und ich wollen eine Einfassung aus Granitstein.“
„Warum habt ihr mich vorher nicht gefragt? Oder noch besser: Warum habt ihr mich nicht mit zu dem Termin mit dem Steinmetz genommen?“ Paulines anklagende Stimme hatte sich in die Höhe geschraubt.
„Weil du keine Zeit hattest“, Charlotte funkelte ihre Schwester erbost an. „Wer sagt das?“, fragte Pauline mit schriller Stimme.
„Du.“
„Habe ich nicht.“
Charlotte schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Naja, ist ja auch egal.“
„Nichts ist egal“, jetzt schrie Pauline fast, „ihr wolltet mich nur nicht dabei haben. Du warst sowieso immer Mama und Papas Liebling.“
„Das ist Blödsinn. Und das weißt du auch.“
„Ach, meinst du“, Pauline fuchtelte mit ihren Händen in der Luft herum, „dann pass mal gut auf: Unsere Eltern haben immer nur lobend von dir geredet. Charlotte ist so fleißig, Charlotte arbeitet so viel, Charlotte ist so hübsch, Charlotte hat so einen tollen Mann, Charlotte ist eine wunderbare Mutter…Charlotte hier, Charlotte da“, äffte sie die Stimmen nach. „Ich habe die Nase gestrichen voll.“ Mit der flachen rechten Hand machte Pauline eine Schnittbewegung unterhalb ihres Kinns.
Charlotte schaute ihre Schwester betroffen an.
„Da fällt dir nichts Schlaues mehr ein, was!?“ Triumpf lag in Paulines Stimme. „Ich bin baff. Das haben unsere Eltern wirklich gesagt?“
„Willst du andeuten, dass ich lüge?“
„Mein Gott, sei doch nicht gleich wieder so aggressiv“, Charlotte schüttelte angenervt den Kopf, „ich bin nur verwirrt. Das alles haben sie mir nämlich auch über dich gesagt.“
Verdutzt schauten die Schwestern sich an. „Wirklich?“
Charlotte nickte: „Sie haben dich für deinen Fleiß bewundert, haben dich gelobt und waren stolz auf deine Erfolge.“
Pauline schaute sie forschend an und kam anscheinend zu dem Ergebnis, dass ihre Schwester die Wahrheit sagte. Denn sie sackte zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht: „Oh Mann.“
Charlotte nickte weiter vor sich hin wie ein Wackeldackel auf der Hutablage eines Autos.
Lange blieb es still. Beide schauten auf den Boden und schüttelten dann und wann den Kopf.
„Ich war all die Jahre eifersüchtig auf dich“, sagte Pauline leise.
„Wenn ich darüber nachdenke“, Charlotte machte eine unbestimmte Geste, „ich wohl auch. Dabei waren unsere Eltern stolz auf uns und haben uns geliebt.“
Pauline nickte gedankenvoll: „Wenn ich darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass sie mir oft gesagt haben, dass sie stolz auf mich sind. Aber ich habe wohl nur ihr Lob über dich gehört.“
Jetzt nickten beide wie ein Wackeldackel stumm vor sich hin und hingen ihren Gedanken und Erinnerungen nach.
Irgendwann hob Pauline den Kopf, lächelte Charlotte an: „Ich bin froh, dass du meine Schwester bist.“
Mit Erleichterung erwiderte Charlotte das Lächeln, worauf Pauline aufstand und ihre Schwester spontan umarmte und drückte. Charlotte rutschte auf ihrem Stuhl zur Seite. Die Schwestern hielten sich fest umschlungen. Die Wärme, das Verständnis, die liebevollen Worte berührten etwas in Charlotte, legten sich sanft über das Eis tief in ihr und der Schmerz brach sich Bahn und verwandelte sich in Tränen. Beruhigend klopfte ihr Pauline auf den Rücken. Doch auch bei ihr flossen die Tränen. Endlich konnten sie gemeinsam um den Verlust ihrer Mutter trauern. Nach einer großen Weile reichte Pauline ihrer Schwester Papiertaschentücher. Geräuschvoll putzten sie sich die Nasen.
„Warum haben wir nicht früher miteinander geredet? Wir hätten uns so vieles ersparen können.“
„Ganz ehrlich – ich hatte Angst vor deiner Reaktion“, sagte Pauline und langte nach einem weiteren Taschentuch.
Nachdenklich schaute Charlotte auf ihre Hände im Schoß: „Deswegen hast du auch immer so belangloses Zeug geredet?!“
Pauline zuckte mit den Schultern: „War auf jeden Fall besser, als sich zu streiten.“
„Ist es nicht traurig, wieviel Einschränkungen man sich auferlegt, nur weil man den vermeintlichen Zorn des anderen fürchtet?“
„Gefühle zulassen zu können – egal ob traurige oder glückliche – ist ein Geschenk.“
Mit diesem Satz im Kopf, den sie heute Morgen in einer Zeitschrift gelesen hatte, fuhr Charlotte zur Arbeit. Seit der Aussprache mit Pauline ging es Charlotte sehr viel besser. Die Schwestern waren sich so nah, wie nie zuvor. Und noch etwas war geschehen. Charlotte ruhte wieder in sich. Sie dachte an ihre Mutter: Einen geliebten Menschen zu verlieren war unsagbar schmerzhaft. Diese Wunde heilte nie, egal was es da für gute Ratschläge und Sprüche gab. Doch sie hatte erfahren, dass die Wucht des Schmerzes nachließ, wenn man ihn zuließ. Sie schöpfte wieder Atem. War es nicht so, dass tiefe Krisen und Schicksalsschläge zum Menschenleben dazu gehören? Sie hatte erlebt wie unklug es gewesen war, vor seelischen Schmerzen davonzulaufen. Das hatte sie gefühllos gemacht. Ihr Leben in seiner ganzen Tiefe und Vielfalt war an ihr vorbeigezogen. Doch damit war jetzt Schluss. Das dunkle, alle-Gefühle-fressende-Monster war endlich verschwunden. Charlotte atmete tief ein und aus. Lebensfreude strömte wieder durch sie hindurch. Vielleicht umso intensiver, weil sie um den Verlust wusste. Sie fasste den Vorsatz, mutig ihr Leben in ihre Handzu nehmen und vor Veränderungen keine Angst mehr zu haben. Und das betraf auch ihre Ehe.
Als Charlotte den Konferenzraum betrat, saßen Heinze und Schneider schon an dem ovalen großen Besprechungstisch, schlürften Kaffee, stopften Kekse in einem Tempo in sich hinein wie das Krümelmonster und tauschten zotige Witze aus. Charlotte grüßte, legte ihre Unterlagen auf ihren Platz und kramte den Monatsbericht für die Geschäftsführung, den jeder Teilnehmer als Kopie vor sich liegen hatte, hervor, als auch Peer Schuster dazu kam. Kumpelhaft schlugen die Männer sich auf die Schultern und redeten über das gestrige Freundschaftsspiel der Fußball- Nationalmannschaft. Charlotte, die von den Männern nicht beachtet wurde, fühlte sich zunehmend unwohl. Und je länger die Verbrüderung dauerte, umso unangenehmer und unhöflicher empfand Charlotte die Situation. Sie wollte gerne glauben, dass das alles ein Zufall war. Doch sie wusste es inzwischen besser. Hier handelte es sich um die üblichen Machtspiele der Männer, die ihr Territorium absteckten. Höflich räusperte sie sich. Keine Reaktion.
Also gut, dachte Charlotte, atmete tief ein und aus, breitete ihre Unterlagen großzügig auf dem Konferenztisch aus, stellte sich aufrecht und breitbeinig hin: „Meine Herren“, sagte sie so laut, dass Heinze, Schuster und Schneider zusammenzuckten und augenblicklich aufhörten zu reden, „vor Ihnen liegt eine Kopie meines Monatsberichtes“, sprach Charlotte mit fester Stimme weiter und, ehe ihre Kollegen Zeit zur Erwiderung hatten, begann sie mit der Analyse der Personal- und Materialkosten. Am Ende ihres Vortrages nickte Schuster zustimmend. Schneider versuchte zwar, sie mit Fragen zum Umsatz zu verunsichern, doch Schuster unterbrach ihn ungeduldig in einem bornierten Ton und sagte mit Blick auf Peer Schuster: „Diese Punkte klären wir später auf der Vorstandsebene“, und an Charlotte gewandt fuhr er fort: „vielen Dank Frau Reimann. Gut gemacht.“ Erfreut lächelte Charlotte. Doch als sie zu Schneider schaute, der sie mit einem bösen Lächeln fixierte, verflog die Freude über das Lob so schnell wie eine Windböe.
In ihrem Büro angekommen, setzte sich Charlotte nachdenklich an ihren Schreibtisch. Was war da eben passiert? Sie legte ihre Unterarme auf die Tischplatte und ihr Kinn auf die rechte Handfläche. War es das alles wert? Manchmal waren das Leben und die Menschen schwer zu ertragen. Sie dachte an das Gespräch mit Susanne. Letztendlich lief doch alles auf eine Frage hinaus, die so einfach wie schwierig war: Was machte sie glücklich?