Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 26

Ein Roman von Mira Steffan

„Frau Lah kann das direkt ausdrucken“, sagte Meier zu Charlotte. Gemeint waren damit die korrigierten Zahlen für die Budgetplanung, die sie gerade mit Meier besprochen hatte. Sie verließen sein Büro.
„Warten Sie hier. Ich bin gleich zurück“, Meier deutete auf einen Sessel in seinem Vorzimmer, und Charlotte nahm Platz.
„Frau Lah, bitte ein Mal einscannen und zwei Mal ausdrucken“, sagte er und übergab seiner Sekretärin einen Stoß Papier. Sie nickte und wandte sich hektisch dem großen Gerät rechts hinter ihrem Schreibtisch zu, während Meier das Vorzimmer Richtung Toilette verließ.
Das Gerät summte und blinkte. Als es damit fertig war, ging die Lah wieder zu ihrem Schreitisch an den Rechner, tippte und tippte und wurde sichtlich nervös. Leise murmelte sie vor sich hin: „Mist…verdammt….“, als Meier schrill pfeifend zurück kam.
„Fertig?“, fragte er.
„Ich habe die Blätter eingescannt und an meine E-Mail gesendet. Ich sehe aber keine Mail in meinem Postfach.“
Meier trat hinter seine Sekretärin, die von so viel Nähe sichtlich eingeschüchtert war. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her.
„Klicken Sie mal da oben auf senden/empfangen“, sagte Meier. Fahrig suchte sie den Bildschirm ab.
Angenervt und mit hochgezogenen Augenbrauen verdrehte Meier die Augen, worauf Heidi Lah noch nervöser wurde: „Da oben liiiinks.“
„Wo?“
„Wo ist denn bei Ihnen links“, sagte Meier süffisant und trommelte demonstrativ mit seinen Fingen auf der Schreibtischplatte herum. Charlotte beobachtete das Ganze voller Unbehagen. Lah schlug hektisch mit dem Zeigefinger auf die Computermaus. „Na endlich. Und jetzt mit dem Cursor auf Ordner „aktualisieren“ klicken.“
Der Drucker sprang an und Charlotte atmete erleichtert auf. Auch wenn sie Heidi Lah nicht besonders gut leiden konnte, so war ihr so ein Überlegenheits-Schauspiel zutiefst verhasst und unangenehm.

Müde rieb sich Charlotte die Stirn. „Ich schlafe zu wenig“, sagte sie, griff nach der Kanne und goss ihrer Schwester und sich Kaffee in die Becher. Es war Samstagmorgen und Pauline, die ihre Zwillinge zum Judotraining gebracht hatte, war spontan vorbeigekommen.
Pauline nickte: „Ja, ich auch.“
Na klar, dachte Charlotte, laut sagte sie: „Im Moment ist es im Büro sehr anstrengend. Es ist weniger die Arbeit, sondern vielmehr das Betriebsklima. Offenbar raubt mir das den Schlaf.“
„Mhm“, Pauline schüttete sich Milch in ihre Kaffeetasse, „du, ich brauche deine Hilfe“, sagte Pauline unvermittelt.
Irritiert schaute Charlotte ihre Schwester an: „Das nenn ich mal einen abrupten Themenwechsel.“
Pauline ging über den Einwand hinweg und redete unbeirrt weiter: „Übernächsten Samstag sind Sven und ich auf den 50. Geburtstag einer Kollegin eingeladen. Kannst du an dem Samstag zu uns kommen und ein Auge auf Marie und Liam haben? Unsere Nachbarin, die in so einem Fall immer bei den Zwillingen nach dem Rechten schaut, ist verreist.“
Alles in Charlotte sträubte sich dagegen. Sie brauchte Ruhe, um endlich mal etwas Schlaf zu finden: „Was ist mit Papa?“
„Den habe ich schon gefragt. Er ist unterwegs. Irgendwas mit der Politik“, sagte Pauline.
„Ach Mensch. Ich bin total fertig.“
„Da bitte ich dich mal um Hilfe und du jammerst nur rum“, mit gerunzelter Stirn schaute Pauline Charlotte an.
„Boah, Pauline. Verstehst du mich denn nicht?“
„Boah, Charlotte“, äffte Pauline sie nach, „verstehst DU MICH DENN NICHT?“ „Warum musst du immer alles verdrehen?“ Charlotte schoss die Worte wie Pfeile ab. „Du hast doch behauptet, dass ich faul bin und keine gute Mutter?“ „Häh“, Charlotte verdrehte die Augen, „habe ich nicht.“
„Doch!“
„Nein!“
Die Schwestern starrten sich böse an,
Charlotte holte tief Luft. Wie schnell sie wieder zu Kindern geworden waren: Wie damals: Du hast angefangen. Nein du. Nein du.
Laut sagte sie: „Okay, pass auf. Ich frage Justus, ob er zu Hause ist und auf Emma aufpassen kann. Wenn das klappt, übernehme ich die Aufsicht der Zwillinge.“

Zwei Wochen später saß Charlotte gähnend auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer Schwester. Kaum konnte sie ihre Augen aufhalten. Sie liebte die Zwillinge, seit ihr Pauline damals von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte. Einfach deswegen, weil sie an ihrer Schwester hing. Doch heute war ihre Zuneigung von ihrer Müdigkeit überlagert. Oben hörte sie Marie und Liam streiten. Sollte sie hochgehen? Aber irgendwie fehlte ihr die Energie. Als die Stimmen lauter wurden, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte schließlich die Aufsicht. Sie beschloss sicherheitshalber doch mal nachzuschauen. Als sie Maries Zimmer betrat, flog eine Bürste haarscharf an Charlottes Kopf vorbei und prallte an dem Türrahmen ab. Erschrockene Stille trat ein, die aber nach drei Sekunden schlagartig in einem Stimmen-Gewirr verschwand. Charlotte verstand nichts.
„Ruhe“, brüllte sie. Und tatsächlich hörte die Streithähne auf sie: „Was ist hier los?“ „Liam will mir mein Handy nicht zurückgeben?“
Charlotte wandte sich an ihren Neffen: „Stimmt das?“
„Die lästert in Whats App über mich.“
„Stimmt das?“ Diesmal wandte sich Charlotte an ihre Nichte. „Dazu sage ich nichts“, trotzig reckte Marie ihr Kinn nach vorne. Charlotte streckte ihre Hand aus: „Her damit.“ „Aber wieso denn. Das ist mein Handy.“
„Gib es mir“, sagte Charlotte und fügte versöhnlich hinzu: „Ich verspreche auch, dass ich nicht reinschaue.“
Finster dreinblickend übergab Marie ihr Handy.
„Ich will jetzt nichts mehr hören. Jeder geht in sein Zimmer. Wer will, kann auch gerne mit mir unten Fernsehen gucken.“
„Nö, ich muss noch Hausaufgaben machen“, sagte Liam und trollte sich. „Marie?“
„Sei mir nicht böse Tante Charlotte, aber ich lese lieber.“
Charlotte grinste in sich hinein. Eine charmante Absage.
„Wann bekomme ich mein Handy zurück?“ „Wenn du aufhörst, deinen Bruder zu ärgern.“
Marie blickte sie unsicher an: „Er hat das falsch verstanden. Ich gebe zu, dass ich mit Johanna über ihn geschrieben habe. Wir haben aber nicht gelästert.“
„Sondern?“
„Naja“, sagte Marie zögernd, „Johanna ist in ihn verliebt und hat mir Fragen gestellt.“ „So, so?“
„Ja echt“, sagte sie und redete eifrig weiter: „Sie hat mich gefragt, ob er schon eine Freundin hat, was er gerne isst, ob er sie schon mal erwähnt hätte. Solche Sachen eben.“
Nun konnte Charlotte das Lächeln nicht mehr zurückhalten: „Okay, wenn das so ist. Hier hast du dein Handy zurück. Lass dich aber nicht wieder von deinem Bruder erwischen. Verstanden?“ Marie nickte und Charlotte machte es sich wieder im Wohnzimmer bequem. Von den Zwillingen war nichts mehr zu hören. Und es blieb ruhig bis Pauline und Sven um 3 Uhr endlich wieder zu Hause waren.

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