Die Stimme des Moderators zerrte an ihren Nerven. Die Welt war so laut. Überall wurde geredet, getratscht, gestritten. Die Menschen erschöpften sie. Charlotte machte das Autoradio aus. Endlich trat Ruhe ein. Sie atmete auf. Blicklos schaute sie auf die Straße vor sich. Sie war auf dem Weg ins Büro. Gerade hatte sie Emma an der Schule abgesetzt. In Gedanken ging sie ihren Tagesplan durch. Zwei Besprechungen, den Monatsbericht für die Geschäftsführung fertig machen, Zahnarzt wegen eines Termins für Emma anrufen, bei der Gynäkologin den halbjährlichen Kontrolltermin vereinbaren, nach Büro-Ende Lebensmittel einkaufen. Erschreckt hielt sie inne. Hatte sie ihren Einkaufskorb mit dem Leergut mitgenommen? Ja, doch, dachte Charlotte, als es in der nächsten Kurve im Kofferraum rumpelte. Ob ihre Mutter auch immer so ein- und angespannt gewesen war? Ihre Mutter! Sie vermisste sie, das wusste sie. Doch sie fühlte es nicht.
Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Nicht schon wieder. Wenn Meier ihr ständig falsche Zahlen gab, konnte sie mit der Budgetierung nicht weitermachen. Kurzerhand schnappte sich Charlotte die Papiere und ging zu Meiers Büro, vorbei an seiner schwatzhaften Sekretärin, die mit einem bedeutungsvollen Gesicht wieder einmal am Telefon hing. Charlotte nickte ihr zu und ging mit schnellen Schritten auf Meiers Bürotür zu, klopfte kurz an und betrat den Raum. Meier gegenüber saß Leo Schneider. Anscheinend hatten sie sich gerade etwas Witziges erzählt, denn sie drehten sich ihr mit einem Grinsen zu.
„Herr Meier, kann ich Sie bitte sprechen?“
Meier lächelte Charlotte jovial zu: „Was gibt es? Kommen Sie schon wieder nicht mit den Zahlen klar?“
Charlotte war von dem Ton und der Unterstellung so fassungslos, dass ihr mal wieder keine schlagfertige Antwort einfiel. Aber wahrscheinlich würde das auch nie passieren, erkannte sie, denn ihre Erziehung, andere Menschen mit Respekt zu behandeln, war tief in ihr verankert.
Schneider allerdings schien Meiers Art zu gefallen. Denn er grinste ihr schadenfroh ins Gesicht. Und das ließ in Charlotte eine Sicherung durchbrennen. Laut und betont distanziert sagte sie: „Ich habe wieder einmal einen Rechenfehler gefunden. Oder soll ich besser sagen: einen Denkfehler. Ich lasse Ihnen die Mappe da. Die unklaren Stellen habe ich rot markiert.“
Und ohne weiter auf Meier oder Schneider zu achten, verließ Charlotte das Zimmer.
Kaffeeduft stieg in Charlottes Nase. Sonntag. Wohlig streckte und dehnte sie sich, schwang sich gut gelaunt aus dem Bett, putzte sich schnell die Zähne und lief im Nachthemd nach unten. Justus hatte den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt und saß dort mit der aufgeschlagenen Tageszeitung. Als sie durch die Terrassentür trat, senkte er die Blätter und grinste: „Da ist ja unsere Schlafmütze.“
Beschwingt ging sie auf ihn zu und gab ihm einen herzhaften Kuss. „Guten Morgen“, sagte sie, setzte sich ohne weiter darüber nachzudenken auf seinen Schoß und langte nach seiner Kaffeetasse.
„Hey, nimm dir deinen eigenen Kaffee“, spielerisch stupste er sie in die Taille.
Charlotte nippte an seiner Tasse und zog eine Grimasse: „Bäh, schwarz.“ Hastig stellte sie sie zurück, ging zu ihrem Gedeck, mischte Kaffee mit Milch und trank mit geschlossenen Augen. Von Weitem hörte sie Emmas Stimme und die des Nachbarsjungen. Das Leben konnte so herrlich sein.
„Gerade hat Karl angerufen und gefragt, ob wir Lust haben, mit ihm zum Stadtfest zu gehen.“
„Och nö. Ich hatte mich auf einen ruhigen Sonntag gefreut. Außerdem wollten wir doch grillen.“
„Ja, aber Emma war von der Idee ganz begeistert, und grillen können wir auch am frühen Abend.“
Schlagartig war Charlottes Fröhlichkeit dahin. „Mhm“, brummte sie und trank stumm ihren Kaffee.
Als Justus ihre abweisende Miene sah, machte er einen Vorschlag, der Charlotte gefiel: „Was meinst du? Ich gehe mit Emma und Karl zum Stadtfest. Dann kannst du dich entspannen. Und wenn wir zurück sind, grillen wir hier zusammen.“
Charlotte strahlte ihn an: „Perfekt.“
Die Sonne warf butterblumengelbe Strahlen auf den Asphalt. Mit Emma an der Hand und Karl neben sich auf der anderen Seite, schlenderte Justus an den Ständen und Fahrgeschäften vorbei. Emma leckte konzentriert an ihrem Eis, während Karl eine frisch gebackene Waffel aß. Die laue Luft, der herrliche Geruch nach Backwaren, die Heiterkeit um sie herum entspannten Justus. Erst recht, als er an Charlotte dachte und wie sie sich heute Morgen vertraulich auf seinen Schoß gesetzt hatte. Er begehrte sie. Seit er sie kennengelernt hatte, wollte er keine andere. Er sehnte sich nach ihr, nach ihren Berührungen und nach ihrer Zuwendung.
Schlaff lag Charlotte auf der Sonnenliege. Die drei waren weg. Sie griff nach ihrem Buch. Die Geschichte war spannend. Doch irgendwie gelang es Charlotte nicht, sich darauf zu konzentrieren. Stattdessen wich die Entspannung. Etwas Zähes und Dunkles legte sich unvermittelt über sie. Die Sonnenstrahlen wärmten sie nicht mehr. In ihrem Inneren öffnete sich ein schwarzes Loch. Mit aller Macht stemmte sich Charlotte dagegen. Das Buch fiel ihr aus der Hand. Ein Ruck ging durch ihren Körper und das Loch verschwand so schnell wie es gekommen war. Was blieb, war ein zähes, waberndes, schmieriges, dunkles Etwas. Hastig setzte sich Charlotte auf, schaute in den Garten. Und da spürte sie wieder die Wärme der Sonne. Erleichtert atmete sie auf. Doch lesen konnte sie nicht mehr. Sie ging in die Küche und begann mit den Vorbereitungen für das Grillen.
Ruhelos ging Charlotte im Wohnzimmer auf und ab. Die Zeiger der kleinen Standuhr auf dem Beistelltisch neben der Couch zeigten auf zwei Uhr und vier Minuten. Unruhig hatte sie sich im Bett hin und her gewälzt. Um Justus nicht zu wecken, war sie aufgestanden. Irgendwie ließ dieses bedrohliche Erlebnis vom Nachmittag sie nicht mehr los. Erschöpft, aber hellwach, setzte sie sich auf den Sessel, um dann wieder aufzuspringen und in die Küche zu gehen, um sich einen Kräuter-Tee aufzugießen. Mechanisch griff sie nach ihrer Tasse und dem Teebeutel, stellte den Wasserkocher an und wartete. Sie fühlte sich wie ein Schiff, das über das Wasser gleitet, aber nicht erkennen kann, was sich unter der Wasseroberfläche befindet. Sie schüttelte den Kopf. Wenn das Schiff unter der Oberfläche wäre, würde es doch untergehen, oder?