Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 24

Ein Roman von Mira Steffan

Die hohlen Wangen, die schwarzen Ringe unter den Augen, der gehetzte Ausdruck in ihrem Gesicht. Das alles gefiel Justus überhaupt nicht. Charlotte arbeitete zu hart und zu viel. Doch wenn er sie darauf ansprach, verschloss sie sich wie eine Auster und wechselte sofort das Thema. Er sah ihre Not und konnte ihr nicht helfen. Die Wand zwischen ihnen war seit dem Tod ihrer Mutter dicker geworden und höher gewachsen. Seine Ehe kippte in Zeitlupe von der Klippe, und er stand hilflos daneben.

Sein Smartphone klingelte.

Charlottes Name leuchtete auf: „Justus, gerade hat mich die Schule angerufen. Emmas Erkältung ist schlimmer geworden. Sie fühlt sich nicht gut. Kannst du sie abholen?

Jaaa, also….

„Gut, prima, Ich bin nämlich in einer wichtigen Besprechung. Und du weißt ja, ich muss mich reinhängen, sonst bekommt Schneider den Abteilungsleiterposten. Bis später.

Die Leitung war unterbrochen.

Widerwillig erhob sich Justus von seinem Schreibtisch, sagte seiner Sekretärin Bescheid und machte sich auf den Weg zu Emma.

Zusammengesunken und mit laufender Nase saß Emma auf der Bank im Flur vor der Klassentür.

„Hallo mein Schatz, Justus nahm Emma in den Arm, „komm wir gehen nach Hause. Und da kurierst du dich in Ruhe aus.

„Wo ist Mama, kläglich sah Emma Justus an. Vor lauter Liebe zu seinem Kind, wurde ihm die Brust ganz eng: „Sie ist in einer wichtigen Besprechung. Komm, zu Hause mache ich dir erst mal einen heißen Zitronentee.

 

Dort angekommen trug Justus Emma nach oben, half ihr beim Ausziehen und legte sie vorsichtig ins Bett, deckte sie zu, gab ihr einen Kuss auf die Stirn: „Ich bin gleich zurück.

In der Küche stellte er den Wasserkocher an, presste eine Zitrone aus und griff dann zum Telefonhörer: „Karl, hast du Zeit? Ich musste Emma von der Schule abholen. Sie ist erkältet und muss sich ausruhen. Charlotte ist in einer wichtigen Besprechung, und ich muss auch zurück ins ro.

„Ich würde ja gerne kommen. Aber ich bin gerade selbst wegen meiner Erkältung beim Arzt.

„Ach, Scheiße, genervt ließ sich Justus auf den Küchenstuhl sinken, „okay, Karl. Ich lasse mir was einfallen. Gute Besserung und pass auf dich auf. Wir brauchen dich.

„Ja, sicher. Es tut mir wirklich leid.

„Schon gut.“ Justus ließ den Hörer auf den Küchentisch sinken und fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes blondes Haar. Dann musste er eben zu Hause bleiben. Er rief im Büro an und bat seine Sekretärin, ihm seinen Laptop nach Hause bringen zu lassen und alle Termine der restlichen Woche auf die nächste zu verschieben. So konnte er arbeiten und nach Emma schauen. Für ein bis zwei Tage würde es schon gehen. Und vielleicht war Karl dann wieder fit und konnte Emmas Betreuung übernehmen.

20 Uhr. Erstaunt sah Charlotte auf ihre Armbanduhr. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Sie lauschte. Jetzt erst fiel ihr auf, dass es ganz still auf dem Flur war. Ob sie die einzige war, die noch im Büro arbeitete? Nein, Schneider arbeitete bestimmt auch noch. Gut, dann noch eine Stunde. Sie wollte morgen bei dem Treffen mit dem Stromversorger gut vorbereitet sein.

Der Computer war mit der Leinwand vernetzt, Heinzes Sekretärin hatte für Kaffee und Kekse gesorgt. Noch eine halbe Stunde. Charlotte kontrollierte ihre Power-Point- Präsentation ein letztes Mal, holte Kuli und Block aus der Tasche – sie war bereit. Nervös schritt sie den Besprechungsraum ab. Emma kam ihr in den Sinn. Heute Morgen hatte sie noch ganz verschnupft und elend ausgesehen. Das schlechte Gewissen machte sein gieriges Maul auf. Sie schüttelte vehement ihren Kopf. Halt. Stop. Sie musste sich jetzt auf ihren Vortrag konzentrieren. Justus war bei ihr. Alles ist gut!

Als erstes kam Schneider in den Raum, dann Heinze, Kevin Meier, Peer Schuster und die vier Vertreter des Stromkonzerns. Es ging los. Charlotte holte tief Luft und schaltete die Präsentation ein.

Anderthalb Stunden später war es geschafft. Charlotte hatte die Position des Unternehmens gut dargestellt, und die Angebote des Konzerns waren lukrativ. Nach der Verabschiedung der Gesprächspartner, räumte sie konzentriert ihre Unterlagen zusammen.

„Gut gemacht, jovial klopfte Heinze ihr auf die Schulter.

Erfreut schaute Charlotte auf, als sich Schneider in ihr Blickfeld schob: „Es freut mich, dass ich Ihnen mit den Zahlen entscheidend weiterhelfen konnte.

„Welche Zahlen, verwirrt blickte Charlotte Schneider an. Was hatte er vor?

„Die für Ihre Präsentation natürlich.

Mit gerunzelter Stirn schüttelte Charlotte den Kopf: „Sie haben mir nichts gegeben.

Der Wortwechsel irritierte Heinze offenbar. Denn er schaute alarmiert zwischen ihr und Schneider hin und her.

„Oh, dann muss ich das wohl verwechselt haben, mit einem ffisanten Lächeln verwand er durch die Tür.

Zurück blieb ein ungutes Gefühl, das zunahm, als sie Heinze anschaute. Sie sah es ihm deutlich an. Schneider hatte es geschafft, Zweifel zu säen. Jede weitere Erklärung würde sie ins Unrecht setzen und das Ganze noch schlimmer machen. Ihr Wort stand gegen Schneiders. Charlotte presste die Lippen zusammen, klemmte sich ihre Papiere unter den Arm und eilte in ihr Büro. Wie konnte es sein, dass sich ihr Glücksgefühl innerhalb von Sekunden in Mutlosigkeit verwandelte?

 

„Frau Reimann, Charlotte, die am späten Nachmittag gerade auf dem Weg zur Toilette war, drehte sich um. Keine zehn Schritte von ihr entfernt, erblickte sie Heinze mit einer jungen Frau im Schlepptau.

„Warten Sie. Ich möchte Ihnen unsere neue Praktikantin vorstellen, im Näherkommen deutete er auf die selbstbewusst blickende Blonde im eng anliegenden kornblumenblauen Kostüm mit Minirock, „das ist Ricarda Baldus. Sie studiert Volkswirtschaft und macht ein sechsmonatiges Praktikum bei uns, sagte Heinze, hrend sie Ricarda Baldus Hand schüttelte und Heinze dabei beobachtete, wie seine Blicke, in denen sie unverhohlene Lust erkannte, über die Figur der jungen Frau kroch und viel zu lange auf ihrem Po verweilten.

Charlotte war fasziniert und abgestoßen zugleich. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Augen bekamen ein Eigenleben. Feixend glitten sie über Heinzes beachtlichen Bauch, der über seine Anzughose hing, seine Tonsur und sein schwabbelndes Doppelkinn. Ricarda Baldus rächte sich auf ihre Weise: „Ich freue mich auf die Arbeit. Ich kann hier bestimmt viel lernen. Und wenn ich in zwei Jahren meinen Abschluss habe und Sie in den Ruhestand gehen, sie wandte sich Heinze zu, „kann ich ja Ihren Posten übernehmen, dabei lächelte sie ihn unschuldig an.

Charlotte hätte über diese deutliche Zurechtweisung beinahe laut losgelacht. Tarnte das aber mit einem Husten. Heinze schaute Ricarda Baldus perplex an. Erst als eine Bürotür aufging, kam wieder Leben in ihn: „Nun, nun, sagte er murmelnd, „jetzt wollen wir erst einmal schauen, in welchem Büro noch Platz für Sie ist. Frau Reimann, wir können Frau Baldus doch zu Ihnen setzen.

Charlotte stutzte. Doch die folgenden Worte fanden von ganz allein den Weg aus ihrem Mund: „Nein, das geht nicht. Aber sicherlich finden Sie eine andere Lösung. Herr Schneider hat doch ein sehr großes ro.“ Erleichtert atmete Charlotte aus. Woher sie den Mut genommen hatte das zu sagen, wusste sie zwar nicht, war aber sehr zufrieden mit sich und klopfte sich innerlich auf die Schulter.

„Hm, hm, machte Schneider, „darüber muss ich noch mal nachdenken. Kommen Sie Frau Baldus. Ich stelle Ihnen die anderen Kolleginnen und Kollegen vor.

 

„Sehr gute Reaktion, sagte Dorothea, als sie sich später in der Mittagspause trafen und Charlotte ihr von der Begegnung erzählte, „dir als zukünftige Abteilungsleiterin eine Praktikantin ins Büro zu setzen, das geht ja mal gar nicht.

„Abwarten. Schauen wir mal, ob das mit der Beförderung klappt. Schneider hängt sich mächtig rein.

„Dann häng dich mehr rein.

Auf dem Nachhauseweg dachte Charlotte über Dorotheas Worte nach. Wollte sie das überhaupt? Sich reinhängen? Macht haben? Über die Bedürfnisse anderer Menschen hinwegtrampeln? Skrupellos, dominant und hinterlistig sein?

„Ich verstehe das Problem nicht, sagte Susanne ein paar Tage später am Telefon. Charlotte hatte beschlossen mit Susanne zu reden und um ihre Einschätzung zu bitten. Susanne stand schließlich mitten im Berufsleben, kannte sie gut und war ihre längste Freundin.

„Was soll an Macht-haben schlecht sein?, fragte Susanne, „es kommt doch darauf an, was du damit machst. Ich glaube, du setzt Macht mit Unterdrückung gleich. Natürlich kann Macht zu Missbrauch führen und korrumpieren und aus dir einen selbstgefälligen, bornierten Idioten machen. Wenn es keine Kontrollinstanzen gibt und du ein gieriges Arschloch bist. Aber diese Gefahren sehe ich bei dir nicht. Macht gibt dir die Möglichkeit, Dinge anzupacken, etwas zu bewegen, in Gang zu setzen und dich zu entfalten. Ich glaube, dass Macht nur Eigenschaften zum Vorschein bringt, die ohnehin in einem Menschen angelegt sind. Und du bist ein Mensch, der das Wohl aller im Auge hat. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass du nach einem Zugewinn an Autorität altruistisch handelst.

Erfreut grinste Charlotte in sich hinein: „Vielen Dank für deine gute Meinung von mir.

„Naja, es ist die Wahrheit, sagte Susanne und Charlotte hörte ihr Lächeln durch den Telefonhörer. „Mein-Gott Paul. Erschreck mich doch nicht so, schrie Susanne unvermittelt in den Hörer. Dann vernahm Charlotte ein Kichern und Susannes atemlose Stimme: „Paul ist gerade nach Hause gekommen und hat sich in mein Arbeitszimmer geschlichen, wieder hörte Charlotte Gekicher, „Charlotte, ich muss auflegen. Mein Mann…lass das Paul… Ich melde mich morgen oder so. Tschüss.“ Unvermittelt hatte Susanne aufgelegt. Belustigt legte auch Charlotte ihren Hörer auf und ging ins Badezimmer. Auf dem Weg dorthin schaute sie in Emmas Kinderzimmer und lauschte an der Türschwelle. Sie vernahm Emmas gleichmäßige Atemzüge. Ruhe senkte sich über ihre Gedanken. Wie friedlich alles war.

Als sie eine Viertelstunde später aus dem Bad kam und in ihr Schlafzimmer ging, war auch da alles dunkel und ruhig. Justus schlief ebenso wie Emma tief und fest. Wie entspannt und verletzlich er aussah. Behutsam und ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, strich Charlotte ihm mit der Rückseite der Finger über seine Wange. Sie vermisste die Gespräche mit ihm. Wann hatte eigentlich diese Wortlosigkeit zwischen ihnen begonnen? Charlotte dachte an die Momente voller Hingabe und Vertrauen, als sich die Belastungen des Alltags noch nicht gezeigt hatten. Und wieder drängte sich ihr die Fragen auf: War die Beförderung und all das, was das mit sich brachte, wirklich so wichtig? War es das Richtige für sie? Charlottes Gedanken drehten sich im Kreis. Sie versuchte einen Blick in ihr Inneres zu werfen. Doch alles zog sich zusammen. Und jedes Gefühl erstarb. Betäubt legte Charlotte sich auf ihre Seite des Ehebettes und starrte an die Decke. Was war nur los mit ihr? Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Denn das Kreischen ihres Weckers ließ sie in ihrem Bett hochfahren. 7 Uhr. Zeit aufzustehen.

 

„Stell dir vor. Da hat die doofe Kurelski doch gesagt: Meine Liebe, Sie verwöhnen Ihre Schüler viel zu sehr. Sie müssen stärker durchgreifen, Pauline äffte die Stimme ihrer Kollegin nach. „Da habe ich gesagt: „Frau Kollegin, das lassen Sie mal meine Sorge sein, fuhr Pauline fort.

Verstohlen blickte Charlotte auf ihre Armbanduhr. Noch zehn Minuten. Dann musste sie dringend ins Büro. Eigentlich war sie nur bei ihrem Vater vorbeigefahren, um Emmas Turnbeutel abzuholen, den sie gestern vergessen hatten mitzunehmen. Dort hatte sie Pauline getroffen, die ihrem Vater Brötchen für das Frühstück vorbeigebracht hatte. Da Paulines Unterricht heute erst in der zweiten Stunde begann, hatte sie Zeit. Doch Charlottes Besprechung startete in einer halben Stunde. Anscheinend bemerkte Pauline Charlottes gehetzten Blick nicht. Denn sie redete im Plauderton ununterbrochen weiter.

„Ich muss los, unterbrach Charlotte sie nach fünf Minuten. Pauline ignorierte den Einwurf und fuhr mit ihrer Erzählung fort.

„Pauline, hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?

„Doch. Aber du kannst mir doch wohl mal kurz zuhören. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Du redest ja auch immer pausenlos, beleidigt schaute Pauline ihre Schwester an.

Der ungerechte Vorwurf machte Charlotte von einem Moment auf den anderen aggressiv: „Du bist bescheuert. Du bist die Quasselstrippe in der Familie.

Böse schauten sich die Schwestern an. Als erste wandte Charlotte den Blick ab.

„Ich muss los, hastig riss sie die Haustür auf, schlug sie mehr als notwendig hinter sich zu und sprang in ihr Auto.

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