Ein Roman von Mira Steffan
„Ja, ja, das sage ich auch. Es geht immer weiter.“
Kurze Pause.
Dann ein schriller Ausruf: „Mein Gott! NEIN! OH! Ach, die Arme.“
Charlotte zuckte zusammen. Sie saß im Vorzimmer von Kevin Meier und wartete auf ihn. Heidi Lah telefonierte.
„Wirklich? Das hast du gemacht? Was hat sie gesagt? Echt? Ach komm….Nee, nee, das geht dann auch nicht. Das ist immerhin der, ihr Sohn. Okay, du hast Recht. Sie ist schwierig. Nein, mich hat sie auch nicht gratuliert. Echt jetzt, sie wurde mit einem Blumenstrauß für ihre exzellente Arbeit geehrt? Hilft aber auch nicht. Sie muss trotzdem Stühle schleppen und Sekt verteilen“, abfällig zog sie die Mundwinkel nach unten.
Normalerweise hätte Charlotte sich über den theatralischen Tonfall, den grammatikalischen Fehlgriffen und das Getratsche amüsiert. Nicht so heute. Unruhig wippte sie mit dem rechten Fuß. Ob Meier sich wieder beschweren wollte? Es war aber doch nicht ihr Problem, wenn er sich ständig verrechnete oder Rechnungen übersah. Warum war sie dann so hibbelig? Es waren wohl seine gehässigen Bemerkungen. Sie waren ihr peinlich und erzeugten in ihr eine hilflose Wut. Es war schon komisch, dass sein schlechtes Benehmen ihr unangenehm war. Die Tür zu seinem Büro ging auf. Ein Mann um die 50 Jahre, in einem modischen grauen Anzug und einer Aktentasche in der Hand, kam heraus. Meiers Sekretärin, immer noch am Telefon, gab ihr winkend ein Zeichen. Charlotte erhob sich, hörte noch wie Heidi Lah ausrief: „Ja echt. NächsteWoche soll es regenhaft werden“, und betrat Meiers Büro. Er saß an seinem Schreibtisch und blickte konzentriert auf ein Papier vor sich.
Charlotte blieb im Türrahmen stehen: „Herr Meier?“ Seine Physiognomie erinnerte sie an einen misslaunigen Habicht mit Doppelkinn.
Mit unbeweglicher Mine schaute er hoch: „Hier sind die Korrekturen, um die Sie gebeten haben.“
Er schob die Papiere zusammen und hielt sie ihr entgegen. Charlotte ging auf ihn zu und nahm sie ihm ab. Meier ließ sich daraufhin in seinen Schreibtischstuhl zurückfallen, musterte sie von oben bis unten, grinste herablassend und meinte: „Das können Sie dann lesen, wenn Sie mit „Joy of Sex“ durch sind.“
Fassungslos schaute Charlotte ihn an. Hatte sie richtig gehört? Meinte er sie? Was sollte sie sagen? Wie reagieren? Ihre Gedanken blockierten sich gegenseitig. Und der Moment einer schlagfertigen Antwort war vorbei. Wortlos nickte sie und verließ so schnell sie konnte den Raum. Sie musste sich verhört haben. Charlotte schüttelte den Kopf. Das hatte er nicht gesagt. Angekommen in ihrem Büro, warf sie die Papiere angewidert auf ihre Ablage, ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen, verschränkte die Arme vor der Brust und stierte auf ihren Rechner: Was für eine Unverschämtheit. Na warte. Mal sehen, ob die Rechnung jetzt stimmte. Entschlossen griff Charlotte nach dem Stapel und begann mit der Durchsicht, als das Telefon klingelte.
„Hallo Mama, ich bin jetzt zu Hause.“
„Gut Süße“, sagte Charlotte zerstreut und riss sich widerwillig von den Zahlen los, „ist Opa schon da?“
„Ja, er sucht im Kühlschrank nach dem Auflauf“, aus Emmas Stimme klang ein Grinsen.
„Sag ihm, dass ich den Auflauf ganz nach oben gestellt habe.“
„Opa, Mama hat gesagt, dass er ganz oben steht.“
„Er hat ihn gefunden.“
„Prima. Süße, ich muss jetzt weiterarbeiten. Ich denke, ich bin so gegen 18 Uhr zu Hause. Gib Opa einen Kuss von mir.“
Kurz durchzuckten Charlotte Bedauern und ein schlechtes Gefühl als sie den Hörer auflegte. Doch die Arbeit drängte und die Unterbrechung machte sie ganz unruhig. Sie legte den Hörer auf und versank augenblicklich in den Aufstellungen, Zahlen und Papieren.
„Unsere Abteilung bekommt in zwei Wochen Zuwachs.“ Heinze hatte Charlottes Büro betreten. Charlotte, die konzentriert Zahlenreihen durchrechnete, schrak heftig zusammen. Verwirrt und noch völlig in Gedanken blickte sie auf: „Was?“
„In 14 Tagen kommt ein neuer Kollege zu uns. Ich möchte, dass Sie ihn einarbeiten.“
„Warum?“ Überrumpelt sah Charlotte Heinze an.
„Weil ich der Meinung bin, dass Sie gut erklären können.“
„Aha“, Charlotte machte eine wegwerfende Geste mit der rechten Hand, „warum wird noch ein Controller eingestellt?“
„Weil…“, Heinze setzte sich schwungvoll auf die rechte Ecke ihres Schreibtisches. Als er sich ihrer Aufmerksamkeit gewiss war, fuhr er fort: „Weil ich befördert worden bin. In den Vorstand.“ Selbstgefällig und lobheischend schaute er Charlotte an.
„Ah. Herzlichen Glückwunsch, Herr Heinze“, Charlotte erhob sich und schüttelte seine Rechte.
„Danke, danke“, Heinze grinste geschmeichelt.
„Wer übernimmt die Abteilungsleitung?“
„Das ist noch nicht entschieden.“
Charlotte nickte. Dann fiel ihr etwas ein: „Wie heißt der Neue?“
„Habe ich das nicht gesagt?“, zerstreut kratzte sich Heinze am Kopf, „Leo Schneider. Er meinte, dass sie sich kennen.“
Er begriff schnell, bemühte sich, erledigte seine Aufgaben korrekt und war freundlich und charmant. Trotzdem fühlte sich Charlotte in seiner Gegenwart so wohl wie in einem Piranhas-Becken. Ein ungutes Gefühl, das sie nicht packen konnte, lauerte ständig in ihrem Nacken. Und dann wurde es ihr klar. Es war so subtil, dass sie es zunächst gar nicht wahrgenommen hatte. Immer, wenn er in ihr Büro zur Besprechung kam oder Fragen hatte, setzte er sich nicht auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, sondern ganz lässig auf eine Ecke ihres Schreibtisches. Das hatte sie schon bei Heinze gestört. Doch Schneider toppte das Ganze, indem er seinen Kuli, eine Akte oder seinen Block auf ihrem Schreibtisch ablegte. Auch an diesem Morgen.
„Würden Sie bitte Ihre Akte von meinem Schreibtisch entfernen? Das müssen Sie verstehen. Das geht nicht“, sagte Charlotte höflich.
„Ach. Ja, natürlich. Ich war ganz in Gedanken.“
„Das kann schon mal passieren“, sagte Charlotte und lächelte gezwungen.
Als Schneider aus ihrem Büro verschwand atmete sie auf. Geht doch.
Allerdings hatte Charlotte sich zu früh gefreut. Am nächsten Tag machte Schneider weiter wie bisher. Als hätte es das Gespräch nie gegeben.
„Der Neue nervt. Ständig legt er, wenn er in mein Büro kommt, seine Sachen auf meinem Schreibtisch ab. Ich habe mit ihm geredet. Er macht aber weiter, als hätte ich nichts gesagt. Kannst du mir das erklären“, aufgebracht fuchtelte Charlotte mit ihrem Löffel in der Luft herum und sah ihren Vater fragend an. Sie saß mit ihm und Emma zu Hause am Esstisch.
Ihr Vater winkte ab: „Das sind ganz normale Machtsignale.“
„Ganz normal…“, wiederholte Charlotte und verdrehte die Augen.
„Ja, damit steckt er sein Territorium ab.“
„Verstehe ich nicht. Ich habe ihm doch erklärt, dass ich das nicht will.“ Charlottes Vater lächeltestumm.
„Okay“, sagte Charlotte resigniert, „was soll ich machen?“
„Nicht reden, sondern handeln.“
„Was meinst du?“
„Wenn er das nächste Mal wieder Gegenstände auf deinem Schreibtisch abstellt, bleib freundlich, nimm sie von deinem Schreibtisch herunter und leg sie auf dem Boden. Wirst schon sehen. Das versteht er.“
„Ihr Männer seid so anstrengend.“
Es klopfte an ihrer Bürotür. Noch bevor Charlotte „herein“ sagen konnte, öffnete sich die Tür und Schneider kam grinsend herein geschlendert. Abrupt stand Charlotte auf. Irgendwie hatte sie dasGefühl in die Ecke gedrängt zu werden. Schneider stoppte vor ihrem Schreibtisch und legte dort die Akte, die er unter seinem Arm geklemmt hatte, ab. Charlotte lächelte ihm freundlich zu, nahm die Akte und legte sie auf ihren Besprechungstisch.
„Das schaue ich mir später an“, sagte sie.
Schneider wurde fahrig: „Die Akte ist nicht für Sie. Ich wollte nur fragen, ob Sie meine Investitionsrechnung durchgeschaut haben?“
„Nein, aber morgen können wir sie durchgehen“, sagte Charlotte bestimmt.
„Dann komme ich noch mal wieder“, sagte er, schnappte sich seine Akte und verschwand blitzschnell.
Grinsend blickte Charlotte ihm hinterher und dankte ihrem Vater im Stillen für den Tipp.
Nachdenklich betrat Leo Schneider sein Büro. Das wird nicht so leicht, wie er gedacht hatte. Jetzt musste er sich was Neues einfallen lassen, um an den Abteilungsleiterposten zu kommen.
„Gute Arbeit Frau Reimann“, anerkennend klopfte Heinze auf den Aktenordner mit dem Wirtschaftsplan und klappte den Ordner auf.
Hatte sie richtig gehört? Hatte er sie gelobt? Verblüfft und erfreut zugleich lächelte Charlotte ihn an. Beflügelt von der Anerkennung ihrer Arbeit, erklärte sie beschwingt ihren Plan, verwies auf finanzielle Risiken und die möglichen Gewinne für das Unternehmen. Am Ende der Besprechung verließ sie mit einem guten Gefühl Heinzes Büro. Warum konnte das nicht immer so sein? Es war doch ganz einfach. Man musste nur die Sache fest ins Visier nehmen, so gut arbeiten, [kein Absatz] wie man es vermochte, sich austauschen, ohne den anderen vor den Kopf zu stoßen, gemeinsam nach Lösungen suchen und schon ging es für das Unternehmen voran.
„Selbstverständlich bist du für die Position geeignet. Was für eine Frage!“, entrüstet blickte Susanne Charlotte an, „ich kenne dich lang genug. Du bist gut. Du willst doch wohl nicht, dass dieser Schneider den Posten bekommt, oder?“
Charlotte saß in Susannes Küche. Von draußen hörte sie die Stimmen der Kinder, die im Garten spielten. Nachdenklich blickte sie auf die Tischplatte.
„Diese Machtspiele sind nicht mein Ding. Entweder, sie sind von meiner Arbeit überzeugt oder nicht“, sagte Charlotte und nahm einen Schluck Tee aus ihrem Becher.
Heftig stellte Susanne ihre Kaffeetasse neben Charlottes: „Das ist doch Quatsch mit Soße. Wie oft soll ich dir das noch erklären. Hör auf zaghaft, zurückhaltend und diensteifrig zu sein, dich zu entschuldigen oder mit Erklärungen um Verständnis zu betteln. Wenn du mit Männern arbeitest, solltest du den Stier bei den Hörnern packen.“
„Ich bin aber kein Mann.“
Susanne verdrehte ihre Augen: „Pass mal auf: Wenn du nach Spanien in den Urlaub fährst, erwartest du doch auch nicht, dass alle Spanier deutsch sprechen, oder?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Eben. Und genauso ist es mit Männern. Um klar zu kommen, ist es hilfreich, ihre Sprache zu sprechen. Egal, ob du Abteilungsleiterin wirst oder nicht. Aber wenn, ist das eine Voraussetzung.“
„Aber Männer sprechen doch auch kein frauisch. Die machen sich diese Mühe nicht.“
Susanne nickte zustimmend und seufzte: „Ja, leider. Eigentlich sollte ein Seminar über die unterschiedliche Kommunikation von Frauen und Männern zum Weiterbildungsprogramm für leitende Angestellte und Firmeninhaber gehören.“
Beide schauten nachdenklich auf ihre Tassen, als draußen die Stimmen der Kinder immer lauter wurden und in einem ohrenbetäubenden Geschrei gipfelten.
„Was ist denn da los!?“, sagte Susanne und stand resolut auf. Emil, Susannes jüngerer Sohn, hatte Emma im Schwitzkasten.
Aufgebracht rannte Susanne auf die Kinder zu: „Emil!! Finger weg von Emma. Sofort loslassen.“
Erstaunt schaute der Zehnjährige auf: „Sie hat mir die Fernsteuerung von meinem Bagger weggenommen.“
„Sofort loslassen“, wiederholte Susanne ihren Befehl, stemmte ihre Hände in ihre Taille und blickte ihren Sohn finster an.
Murrend ließ er von Emma ab.
„Emma, gib Emil die Fernbedienung zurück“, schaltete sich nun auch Charlotte ein.
Ebenfalls murrend überreichte Emma widerwillig das Gerät: „Emil weiß nicht, wie man richtig damit umgeht. Ich wollte ihm nur helfen. So wie er mir neulich beim Drachensteigen geholfen hat.“
Charlotte und Susanne sahen sich an und mussten unwillkürlich lachen.
„Wir sollten sie in ein Kommunikationsseminar stecken“, sagte Susanne und knuffte Charlotte in die Seite.
Charlottes Bürotür wurde aufgerissen: „Frau Reimann, ist das mit dem neuen Vertrag erledigt?“ Unvermittelt stand Heinze mitten im Raum. Charlotte, die gerade in ein Teilchen gebissen hat, schaut verwirrt auf und schluckte schnell. Hart rutschte der Bissen ihre Speiseröhre hinunter.
„Was, welcher Vertrag?“
Heinze schüttelte genervt den Kopf. „Na, der Stromvertrag?“, sagte der von oben herab, verdrehte die Augen und verschwand so schnell wie er gekommen war und ließ eine überrumpelte Charlotte mit einem schlechten Gefühl zurück.
Natürlich hatte sie sich den Vertrag schon angeschaut und die Aufstellungen berechnet. Doch der überfallartige Auftritt hatte kurzzeitig für Stille in ihrem Kopf gesorgt. Jetzt rollte das Monster des Versagens unaufhaltsam auf sie zu. So würde sie nie Abteilungsleiterin. Hektisch wischte sie sich ihre Hände an der Serviette ab und konzentrierte sich auf die Arbeit, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Nein, sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Von Heinze nicht, von Meier nicht und auch nicht von Schneider.