Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 21

Ein Roman von Mira Steffan

Die Welt stand still. Oder war sie es? Und die Welt drehte sich weiter? Minuten, Stunden, Tage verschmolzen ineinander. Ihr Leben fiel auseinander, und sie saß auf der Zuschauerbank. Bis zur Beerdigung hatte Charlotte sich Urlaub genommen. Der Tag des endgültigen Abschieds zog an ihr vorbei wie eine Abfolge von Filmsequenzen. Am Tag danach konnte sie sich nur noch an Justus‘ Arm erinnern, der ihre Taille fest umschlungen gehalten hatte, als sie am Grab stand. Sie drängte all ihre Gefühle zur Seite und richtete ihren Fokus auf ihren Vater. Er machte ihr Sorgen. Schließlich war er es nicht gewohnt alleine zu leben, obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Doch Charlotte sah ihm die Anstrengung an, die es ihn kostete freundlich zu sein. Wie furchtbar musste es für ihn sein, seine geliebte Frau nicht mehr an seiner Seite zu haben. Sich auf seinen Schmerz zu konzentrieren, half ihr ihren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Er braucht neben seinem politischen Engagement eine weitere Aufgabe, dachte Charlotte. Ob er wohl Emmas Betreuung allein übernehmen konnte? Sie von der Schule abholen, Hausaufgaben beaufsichtigen und noch Essen kochen? Sie fragte ihn. Und zu ihrer Freude willigte er ein, allerdings mit dem Hinweis, dass er das Kochen noch üben müsse. Und das machte er mit der Gründlichkeit, die so typisch für ihn war. Er sammelte alle Kochbücher im Haus ein und arbeitete sich durch die Vielzahl der Rezepte, machte Notizen und Einkaufslisten und begann zu kochen. Als Charlotte wieder arbeiten musste, hatte er den Dreh raus, und Emma liebte seine Gerichte.

Zurück ins Leben, zurück in den Alltag. Der erste Arbeitstag. Charlottes Kolleginnen und Kollegen hatten Probleme, ihr in die Augen zu schauen, kondolierten murmelnd, trauten sich nicht, Fragen zu stellen. Wovor hatten sie Angst? Dass sie in unkontrolliertes Wehklagen ausbrechen würde? Dass sie einen Weinkrampf bekam? Oder, dass das Sterben anstecken ist? Charlotte schüttelte den Kopf. Eine surreale Situation. Charlotte fühlte sich zunehmend unwohler. Auch Heinze machte den Eindruck, dass er das alles schnell hinter sich lassen wollte. Als Charlotte die Tür ihres Büros endlich hinter dem letzten Kondolierenden schließen konnte, atmete sie auf. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schloss für einen kurzen Moment ihre Augen. Traurig legte Charlotte ihren Kopf auf ihre verschränkten Arme auf der Schreibtischplatte. Das Sterben und der Tod passen einfach nicht in unsere Gesellschaft, dachte sie und vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Mutter, wie sie fröhlich mit ihr und Pauline in ihrem VW-Käfer zur Schule fuhr, sich auf dem Flur mit einem Kuss von ihnen verabschiedete, bevor jede in ihr Klassenzimmer ging. Ihre Mutter, um zu unterrichten, Pauline und sie, um zu lernen. Wie ein Trailer liefen die Bilder weiter. Ihre Mutter glücklich und aufgeregt auf Charlottes und Paulines Hochzeit, bei ihren Examensfeiern, als stolze Oma. Charlotte schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen los zu werden, hob ruckartig den Kopf und wandte sich wieder den Aktenstapeln auf ihrem Schreibtisch zu.

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