Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 20

Ein Roman von Mira Steffan

Die nächsten Wochen verschwanden in der Alltagsroutine. Das Gespräch mit Dorothea verblasste. Büro, Haushalt, Kind forderten sie. Charlotte und Justus trafen sich morgens in der Küche beim Frühstück und abends im Bett. Beide fielen dann vor Müdigkeit sofort in den Schlafmodus. Bis Charlottes Leben aus den Fugen geriet. Und die Veränderung begann.

Die Stimme ihres Vaters am Telefon klang tonlos und gepresst: „Hast du heute Nachmittag Zeit vorbei zu kommen? Sagen wir um 15 Uhr?“

„Ja, sicher. Was ist los?“

„Wir wollen in Ruhe mit dir reden. Komm bitte allein.“

Und ehe sie weiterfragen konnte, hatte er aufgelegt.

Ein diffuses Gefühl aus Angst und Kälte breitete sich in ihrem Inneren aus.

„Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs.“ Mit der ihr eigenen Direktheit brachte ihre Mutter den Alptraum auf den Punkt. Ihre Hände zupften am Stofftaschentuch in ihrem Schoß. Blass saß sie neben Charlottes Vater auf dem Sofa. Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Ihre starke Mutter wirkte klein und angstvoll. Unwillkürlich presste Charlotte ihre Hände zusammen, bis ihre Knöchel weh taten. Pauline schaute mit schreckgeweiteten Augen von einem zum anderen.

„Wie schlimm ist es?“, hörte Charlotte sich fragen.

„Wenn das umliegende Gewebe krebsfrei ist, kann in drei Tagen operiert werden. Danach können die Ärzte mehr sagen“, sagte die Stimme ihres Vaters.

„Ach Mama“, Pauline stürzte sich auf ihre Mutter und umarmte sie stürmisch. Tapfer klopfte sie ihr auf den Rücken.

Charlotte blieb wie festgewachsen auf dem Sofa sitzen. Ihre wunderbare, starke, heitere und liebevolle Mutter hatte Krebs.

„Vielleicht haben sich die Ärzte vertan. Vielleicht haben sie die Krankenakten vertauscht. Das stimmt doch alles nicht“, sagte Charlotte und ihre Stimme dröhnte in ihren Ohren.

Der befremdliche Blick ihres Vaters ließ sie innehalten. Durch den Nebel von Fassungslosigkeit, Wut, Angst, Verwirrung und Ohnmacht wurde Charlotte klar, dass sie gerade die Krankheit ihrer Mutter verleugnen und wegdiskutieren wollte.

In den nächsten Wochen folgten die Operation und eine Chemotherapie. Hoffnung und Verzweiflung wechselten sich ab. Drei Monate später eine weitere Operation. Dann noch eine. Ein halbes Jahr höchstens, meinten die Ärzte. Charlotte fühlte nichts. Ihre Empfindungen waren eingefroren. In einem Ziegel aus Eis, der in ihrem Magen saß. Doch sie funktionierte. Wie ein Uhrwerk. Zuverlässig und mechanisch erledigte sie ihre Arbeit, kümmerte sich um Emma und verbrachte so viel Zeit in ihrem Elternhaus wie seit ihrer Kindheit nicht mehr.

Das Telefon klingelte: „Kommen Sie, ihr geht es nicht gut.” Mehr nicht.

Es war 19 Uhr, gerade war Justus nach Hause gekommen, Charlotte eine Stunde vor ihm. Emma spielte in ihrem Zimmer.

„Wir müssen ins Krankenhaus. Mama geht es nicht gut.“

„Ich fahre“, sagte Justus und griff nach dem Autoschlüssel, den er beim Hereinkommen in die Schale auf der Flurkommode gelegt hatte.

Charlotte stand mit hängenden Armen vor dem Telefon. Sie hörte seine Stimme, die so weit weg und dumpf klang, als wäre sie unter Wasser.

„Was machen wir mit Emma“, verwirrt schaute Charlotte ihn an.

„Wir bringen sie zu Dorothea, wie besprochen“, Justus‘ Stimme klang ruhig und gefasst.

„Ja, sicher.“

Charlotte blieb betäubt im Wagen sitzen, während Justus Emma zu Dorotheas Wohnung begleitete. Es dauerte keine drei Minuten. Dann war er zurück, zuverlässig und besonnen lenkte er das Auto durch die Straßen Richtung Krankenhaus.

Charlotte konzentrierte sich auf die vorbeiziehende Landschaft. Alles schien überlebensgroß und unwirklich deutlich: die blühenden Bäume, die weiß gestrichenen Häuser und der weit schwingende rote Rock einer Frau.

Am Krankenhauseingang sah Charlotte rosa Tulpen in einem Blumengeschäft. Sie kaufte sie, weil ihre Mutter sie so liebt.

Auf dem Flur trafen sie einen Pfleger.

“Sie ist auf Zimmer 310 verlegt worden”, sagte er.

Ein junger Arzt kam zu ihnen: „Ihr Zustand ist bedenklich.”

Sie betrat das Zimmer. Ihre Mutter wandte ihren Kopf in ihre Richtung. In ihren wundervollen, großen, blauen Augen leuchtete kurz ein Erkennen auf. Neben ihrem Bett saß ihr Vater in einem Sessel. Er war eingenickt. Die grauen Bartstoppeln gaben seinem Gesicht eine traurige Blässe. Charlotte legte die Blumen achtlos auf den Nachttisch und setzte sich auf die andere Seite des Bettes auf einen Sessel. Sie nahm ihre Hand: „Ich bin da. Wir sind bei dir.”

Ihre Mutter drückte schwach ihre Hand. Charlotte lächelte ihr liebevoll zu.

Auf der anderen Seite des Bettes raschelte es. Ihr Vater war aufgewacht und flüsterte mit Justus. Pauline kam herein und setzte sich neben ihren Vater. Charlotte konzentrierte sich wieder auf ihre Mutter, strich ihr vorsichtig über die Haare. Draußen wurde es dunkel und wieder hell. Charlotte schreckte hoch. Sie war in ihrem Sessel eingenickt. Benommen suchte ihr Blick das Gesicht ihrer Mutter. Ihre Wangen wirkten eingefallen. War das vorher schon so gewesen? Charlotte nahm eine Bewegung wahr.

„Justus ist vor zwei Stunden gegangen, um Emma bei Dorothea abzuholen und sie zur Schule zu bringen. Er wollte dich vorhin nicht wecken“, sagte ihr Vater leise.

Sie nickte: „Ich gehe mal kurz zur Toilette. Ich bin gleich wieder da.“

Im Waschraum ließ Charlotte kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen und spülte ihren Mund aus. Sie schaute mit blinden Augen in den Spiegel. Das konnte nicht real sein. Das war nicht die Wirklichkeit. Sie schaute noch einmal in den Spiegel. Diese Frau, wer war das? Dieser Raum. Wie kam sie hier hin? Unter großer Kraftanstrengung drehte sie sich von dem Spiegel und dem Waschbecken weg und ging zurück in den Flur. Dort war es laut. Die Tür zum Zimmer ihrer Mutter stand auf. Charlotte nahm eine Krankenschwester wahr. Mechanisch nahm Charlotte wieder ihren Platz am Bett ihrer Mutter ein.

„Es geht dem Ende zu. Ihre Mutter stirbt“, sagte die Krankenschwester.

Sei still, sei doch still, sie hört dich, dachte Charlotte, während der Tränenstrom, der unaufhaltsam aus ihren Augen floss, sie stumm machte. Sie wandte sich wieder ihrer Mutter zu. Ihre Atmung hatte sich verändert. Charlotte hörte ein Rasseln. Das Rasseln wurde lauter. Mühsam holte ihre Mutter Luft. Dann Stille.

Eine Ewigkeit später: Betäubt und wortlos räumten Charlotte und Pauline die Kleider ihrer Mutter aus dem Spind und dem Nachttisch in ihren kleinen Koffer. Zusammen mit ihrem Vater, den Charlotte und Pauline in ihre Mitte nahmen, verließen sie das Krankenhaus.

Kurz darauf betraten sie ihr Elternhaus, das ohne ihre Mutter kalt und leer wirkte. Sie telefonierten mit einem Beerdigungsinstitut. Die Dinge mussten geregelt werden. Und das war gut. Sie lenkten ab von dem überwältigenden Schmerz, der mit Wucht auf sie eindrosch. Zu dritt fuhren sie zu dem Haus mit großen, weißen Buchstaben über der Tür. „Bestattungen” stand dort. Formalien wurden aufgenommen. Dann ging es eine Etage tiefer. Sargmodelle standen in einer großen Halle, fein säuberlich mit Preisen versehen. Wieder beschlich Charlotte dieses unwirkliche Gefühl. Zu wissen, was passieren würde, und es dann tatsächlich zu erleben, war nicht dasselbe.

Die Luft war schwül und feucht. Wortlos gingen Charlotte, Pauline und ihr Vater zum Parkplatz. Vor seinem Auto übergab er seinen Autoschlüssel an Charlotte. Sie stiegen ein. Charlotte setzte sich auf den Fahrersitz, hielt inne und ließ dann kraftlos den Schlüssel sinken, mit dem sie das Auto ihres Vaters starten wollte.

„Und jetzt?“

„Lasst uns essen gehen”, sagte Pauline.

Das Essen schmeckte wie Pappe.

Als sie das Lokal verließen, regnete es. Auf dem Weg nach Hause verstärkte sich der Regen. Blitze zuckten am Himmel.

Vor dem Eingang des Hauses blieben sie im Auto sitzen.

Geistesabwesend schaute ihr Vater in den Regen und sagte: „Sie mochte Blitz und Donner. Sie sagte immer: Bei Blitz und Donner kann ich am besten schlafen.“

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