Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 19

Ein Roman von Mira Steffan

„Wie schön, dass du vorbeikommen konntest“, sagte Dorothea, begrüßte Charlotte mit einer herzhaften Umarmung und nahm ihr den Mantel ab. „Ich habe schon mal eine Flasche Weißwein für uns geöffnet“, fuhr sie fort und deutete auf die Wohnzimmertür.

„Naja, ich bin neugierig, was du mir erzählen willst. Außerdem hast du mir einen Frauenabend versprochen.“ Als sie Dorotheas gerunzelte Stirn sah, fügte sie hinzu: „Nach dem Halbmarathon.“

Dorothea schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn: „Ach ja, stimmt.“

„Siehst du. Und Gott-sei-Dank ist Justus heute früher zu Hause und kann Emma für mich bei meinen Eltern abholen.“

„Funktioniert das mit deinen Eltern und Emma?“, fragte Dorothea, setzte sich auf das Sofa und goss Wein in die zwei Gläser, die auf dem Tischchen davor standen.

Charlotte nickte: „Ja, die drei verstehen sich gut. Und für mich ist das eine Erleichterung, weil ich weiß, dass Emma bei ihnen gut aufgehoben ist und sich bei ihnen wohl fühlt. Aber jetzt rede endlich. Was ist passiert?“

„Du erinnerst dich an Marianne, meine ehemalige Kollegin?“ Charlotte nickte und grinst: „Und ob.“

„Nun – zu dem damaligen Team gehörten, neben Marianne und mir, zwei Männer und eine weitere Frau. Ingrid ist ein blasser, fader Typ, zum zweiten Mal verheiratet, humorlos und selbstgerecht. Kurz – der Typ Mensch, mit dem ich nichts anfangen kann. Ich bin ihr, wenn irgendwie möglich, aus dem Weg gegangen. Sie hat allerdings ständig meine Nähe gesucht. Nachdem ich dann den Job gewechselt habe, haben wir uns nicht mehr gesehen.

Doch heute traf ich sie im Lebensmittelgeschäft“, Dorothea verdrehte die Augen, „sie sprach mich an, und ich blieb höflich stehen. Nach dem üblichen Austausch von Floskeln, fragte sie mich, ob wir uns nicht mal treffen sollen. Als sie mein Zögern bemerkte, meinte sie“, Dorothea hielt kurz inne, hob ihren Zeigefinger und fuhr mit betont affektierter Stimme fort: „sie könne schon verstehen, dass ich mich ungern mit ihr treffen wolle, schließlich sei sie ja glücklich verheiratet, und ich hätte so ein Pech gehabt. Das wäre bestimmt schwierig zu ertragen.“ Dorothea schaute Charlotte vielsagend an: „Ich war sprachlos, weil Empörung und Belustigung und Höflichkeit und Abneigung mich so blockierten, dass mir nichts einfiel.

Aber was hätte ich auch sagen sollen? Ich will mich nicht mit dir treffen, weil du langweilig und scheinheilig bist“, sie schüttelte den Kopf, „also habe ich den Mund gehalten und mich so schnell es ging verabschiedet.“ Dorothea ergriff ein Weinglas, nahm einen Schluck, stellte es zurück und sprach weiter: „Weißt du: So oder ähnlich sind viele drauf“, sagte Dorothea und begann aufzuzählen: „Und…was macht die Liebe? Immer noch kein neuer Mann in Sicht? Du bist aber doch so attraktiv. Ach, das wird schon. Ich wünsche dir so sehr, dass du endlich den Richtigen findest. Und so weiter und so weiter. Du glaubst gar nicht, wie oft ich mir so einen Sermon anhören muss. Warum fragt mich niemand, wie es im Job läuft? Oder, ob ich befördert worden bin? Oder, wie es um meine Gesundheit steht? Oder, ob ich mich in meinem Leben wohl fühle.

Nein, unsere Gesellschaft hält das Single-Dasein für einen bedauernswerten Zustand. Ständig muss ich mich dafür rechtfertigen. Ohne Mann ist Frau nichts wert. Und wer keinen Partner hat, muss sich eben Mühe geben oder leiden. Was für ein Schwachsinn“, Dorothea schlug so heftig mit der flachen rechten Hand auf die Tischplatte, dass der Weißwein in den beiden Gläsern gefährlich hin und her schwappte. „Weißt du, was mich besonders aufregt?“ Charlotte schüttelte stumm den Kopf, denn sie wollte ihre Freundin, auf deren Gesicht sich hektische rote Flecken ausgebreitet hatten, nicht noch mehr aufregen. „Das Resultat dieser Verdummung ist, dass viele Frauen aus Angst vor dem Alleinsein eine Beziehung mit irgendeinem beliebigen Mann eingehen und lieber eine unglückliche Beziehung in Kauf nehmen. Schau dir all die verbitterten Frauen an, die ihr Leben ausschließlich über die Beziehungen zu Männern definieren.“

Charlotte nippte nachdenklich am Wein und Dorothea fuhr fort: „Uns Frauen wird eingeredet, dass einzig die romantische Liebe als Daseinszweck etwas taugt. Sie allein schenkt Sinn, Glück, Segen, Erlösung. Denk doch mal an die vielen romantischen Filmkomödien, sentimentalen Lieder und Liebesromane.“ Dorothea deutete ein Würgen an, indem sie ihren Zeigefinger zwischen ihre halb geöffneten Lippen schob. „Wie viele Paare sind denn glücklich und bleiben es ein Leben lang? Geht das überhaupt? Scheitert man nicht automatisch am Alltag? Oder am Testosteron? Kann ein Mann selbstlos lieben?“

„Oder eine Frau?“, fragte Charlotte leise.

Dorothea blickte sie irritiert an. Charlotte bemerkte es nicht. Sie war in ihren Gedanken versunken und redete weiter: „Wir sind nun mal keine fertigen Persönlichkeiten, wenn wir auf die Welt kommen. Wir müssen erst lernen, wie sich Liebe anfühlt, wie man mit Liebe umgeht, wie man liebt.“

„Wie soll das gehen? Glaubst du wirklich, dass man das Lieben im Laufe des Lebens lernen kann?“ Dorothea schüttelte den Kopf: „Das glaube ich nicht. Das Lieben lernt man im Elternhaus. Wer ohne Liebe groß wird, wird auch kein liebevoller und glücklicher Erwachsener. Wer keine Liebe kennt und keine entsprechenden Werte vermittelt bekommt, wird haltlos durch sein Leben stolpern und andere leiden lassen.“

„Ich weiß nicht“, Charlotte zuckte mit den Schultern.

„Na, ich weiß auf jeden Fall, dass es viele Männer nie lernen, weil sie keine guten Vorbilder haben“, sagte Dorothea und ließ den Wein in ihrem Glas kreisen.

„Du redest von deinem Ex-Mann?“ Und ehe Dorothea reagieren konnte, fragte Charlotte weiter: „War es schlimm?“

Dorotheas Augen verengten sich und wurden glasig: „Nun, ich habe immer gedacht, dass so etwas nur anderen passiert. Paaren eben, die unachtsam miteinander umgehen und sich gehen lassen. Nie ist es mir in den Sinn gekommen, dass Michael ein notorischer Fremdgänger ist. Jemand, der die Aufmerksamkeit und die Bewunderung von vielen Frauen benötigt, um sich zu fühlen.“ Dorothea zuckte mit den Schultern: „Das war wohl naiv.“

Eine Weile blieb es still, dann redete sie weiter: „Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich habe nichts gegen einen neuen Mann in meinem Leben. Aber ich suche nicht krampfhaft nach einem. Ich mag mein Leben so wie es ist und fühle mich wohl. Sollte ich irgendwann jemanden kennenlernen, ist es gut. Wenn nicht, dann auch. Ich bin eben der Meinung, dass die Fixierung unserer Gesellschaft auf ein Glück zu zweit ausgesprochen eindimensional ist.“

„Das verstehe ich“, sagte Charlotte und fügte leise hinzu: „Manchmal möchte ich auch so leben und so sein wie du.“

„Warum?“

Charlotte zuckte wieder mit den Schulten. Dann brach es aus ihr heraus: „Weil ich mich als ungenügend empfinde, in jeder Hinsicht als nicht genug. Du weißt, was du willst. Du bist stark und gehst deinen Weg. Ich dagegen…bin harmoniesüchtig, kann mich nicht durchsetzen, will es allen Recht machen. Ich weiß nicht, was ich will. Ich fühle mich wie ein Grashalm auf der Wiese, an dem mal der Wind zerrt, mal ein Hase dran knabbert. Es ist…ach, ich weiß nicht“, mit gerunzelter Stirn nahm Charlotte einen Schluck aus ihrem Weinglas.

„Du hast Angst vor der Veränderung“, stellte Dorothea fest.

Charlotte horchte auf. Der Satz hallte in ihrem Inneren nach. Nach einer Weile nickte sie: „Ja…das kann schon sein.“

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