Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 17

Ein Roman von Mira Steffan

Robert hob lässig seine rechte Hand, die auf Utes Schulter lag, und winkte in die Runde. Doch dann glitt sein Blick an ihnen vorbei. Automatisch drehte Charlotte sich um und sah zwei attraktive Männer hinter sich stehen.

„Jetzt ist die Familie komplett“, sagte Dorothea, „das sind meine Brüder Finn und Lars. Finn ist das Nesthäkchen.“ Dorothea zeigte auf einen zirka 1,90 Meter großen, blonden Mann mit Bart und schulterlangen Haaren, der Charlotte an einen Wikinger erinnerte. „Und das ist Lars, der Zweitälteste“, Dorothea deutete auf eine jüngere, muskulösere und etwas kleinere Ausgabe von Robert. Lachend machten beide einen Knicks. „Wo sind eure Freundinnen?“ fragte sie ihre Brüder.

Sven deutete mit dem Kopf in Richtung Toilette: „Hübschen sich auf.“ „Klar“, sagte Dorothea in einem Was-auch-sonst-Ton.

Fünf Minuten später wusste Charlotte warum. Zwei sehr junge, langbeinige, dünne, stark geschminkte Frauen in Minirock mit Highheels und großzügigem Dekolleté kamen kichernd und gibbelnd an den Tisch, sagten lässig „Hey“ in die Runde und schmiegten sich besitzergreifend an Finn und Lars, die sich mit Robert unterhielten. Die Frauen schnatterten weiter miteinander: „…ich habe zu ihr gesagt, dass ich in einer Zeitschrift gelesen habe, dass Fliegenbeine out sind und habe vielsagend auf ihre Wimpern geschaut.“ Sie machte einen abschätzenden Blick nach. „Und dann habe ich gesagt“, sie lachte affektiert auf, „dann habe ich gesagt: Da habe ich sofort an dich gedacht.“ Beide brachen in gackerndes Gelächter aus.

Charlotte war perplex. Alle Achtung, so jung und schon so gehässig.

In diesem Moment kam Anna mit einem Tablett Sektgläser auf den Tisch zu. Herzlich lächelte sie ihren Onkeln und deren Freundinnen zu. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, herrschte eine der Frauen sie mit schriller Stimme an: „Was lachst du so hässlich?“

Wie angewurzelt blieb Anna stehen. Auf Annas jungen und offenen Gesicht zeichneten sich Unglaube und Verwirrung ab. Die Sektgläser auf dem Tablett gerieten in Schieflage. Schnell nahm Charlotte ihr die Gläser ab und stellte sie auf einen Beistelltisch.

Ute, Finn, Lars und Robert, die immer noch in einem Gespräch vertieft waren, bekamen von all dem nichts mit. Dorothea und die anderen Gäste in der Runde hatten im betretenen Schweigen innegehalten.

Die Frau schaute provokativ in die Runde, als Finn über etwas, das Robert erzählte, auflachte und „Ja, genau“, sagte.

„Seht ihr, Finn ist auch meiner Meinung. Du lachst hässlich“, wiederholte sie ihre ungeheuerlichen Worte und drückte sich eng an ihn.

Dorothea fand als Erste ihre Stimme wieder: „Das ist meine Nichte, und ich mag es gar nicht, wenn sie in meiner Wohnung beleidigt wird. Sie tippte ihrem Bruder auf die Schulter: „Finn, würdest du bitte deine Freundin hinaus begleiten.“

Finn schaute Dorothea verwundert an.

„Deine Freundin kann sich nicht benehmen. Sie hat unsere Anna beleidigt.“

„Oh!“ Schützend legte Ute einen Arm um ihre Tochter.

Finn runzelte die Stirn: „Jacqueline, was hast du wieder angestellt?“

„Ich wusste ja nicht, dass das deine Nichte ist.“ Jacqueline ließ schmollend ihre rot geschminkte Unterlippe hängen, was kindisch und dumm aussah.

Die folgende Stille, in der Dorothea sie mit hochgezogenen Augenbrauen und vor der Brust verschränkten Armen musterte, war unangenehm.

Doch auf einmal kam Leben in Jacqueline: „Wenn ich nicht willkommen bin, gehe ich. Kommst du?“, auffordernd blickte sie erst Finn, dann ihre Freundin an. Die aber schüttelte den Kopf und klammerte sich an Lars, als hinge ihr Leben davon ab.

Als Jacqueline und Finn zum Aufzug gingen, atmete Dorothea auf. „Hoffentlich wird das nie meine Schwägerin“, flüsterte sie Charlotte ins Ohr, als die Musik, die bisher im Hintergrund plätscherte, lauter wurde und alle Gespräche übertönte. „Partytime“, rief Robert, der an der Musikanlage stand und anscheinend beschlossen hatte, der Stimmung als DJ eine andere Richtung zu geben. Er deutete auf die freie Fläche hinter dem Bufett.

„Darf ich bitten“, sagte eine Frauenstimme. Charlotte drehte sich um und sah Marianne, die Justus anlächelte.

Und ehe sie reagieren konnte, tanzten die beiden zu Katie Meluas „The closest thing to crazy“. Für ihren Geschmack viel zu eng. Gerade, als Charlotte auf die Tanzfläche stürmen wollte, kam Dorothea auf sie zu und verwickelte sie in ein Gespräch über die Freundinnen ihrer Brüder. Sie hörte Dorothea zu, konnte es aber nicht verhindern, dass ihr Blick immer wieder abschweifte und es mehr und mehr in ihr zu brodeln begann. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, entschuldigte sich bei Dorothea und bahnte sich einen Weg durch die tanzenden Paare zu den beiden.

„Jetzt würde ich gerne mit MEINEM MANN tanzen“, schrie sie in Mariannes Ohr. Mit Befriedigung sah sie, dass sie zusammenzuckte und sich schnell von Justus löste.

„Ja, natürlich“, sagte sie und schlich davon.

Justus schaute Charlotte mit einem unergründlichen Blick an und zog sie eng an sich.

Am nächsten Morgen wachte Charlotte wie gerädert auf. Als sie und Justus um 4 Uhr gehen wollten, hatte Robert darauf bestanden, ein Abschiedsschnäpschen zu trinken. Natürlich war es nicht bei einem geblieben. Jetzt rächte sich ihr Kopf mit hämmernden Schmerzen. Justus lag neben ihr und schlief tief und fest. Von Emma war nichts zu hören. Charlotte tastete nach dem Wecker. Betäubt linste sie auf die Uhrzeit. Was sie da sah ließ sie ruckartig aus dem Bett springen. Es war 12 Uhr. Wo war Emma? Warum war es so still? Doch dann sickerte die Erkenntnis durch ihr benebeltes Hirn. Emma war bei ihren Eltern. Bis morgen. Richtig, heute war Samstag. Erleichtert ließ sie sich auf ihr Kissen fallen, doch die Kopfschmerzen quälten sie. Es hatte keinen Zweck. Entschlossen stand sie auf, schlurfte die Treppe runter in die Küche, warf die Kaffeemaschine an, angelte Kopfschmerztabletten aus dem Medizinschränkchen im Bad, schlurfte wieder zurück in die Küche, goss Wasser in ein Glas und schluckte zwei Tabletten. Was für ein Abend. Charlottes Gedanken blieben bei Marianne, der Frau am Buffet, Jacqueline und ihrer Freundin hängen. Warum waren Frauen so fies zu Frauen? Warum hatte die Emanzipation die Frauen nicht gelehrt zusammenzuhalten? Warum bekämpften sie sich? Warum missgönnten Frauen anderen Frauen Erfolg, Besitz, Schönheit? Warum waren Frauen destruktiv, niederträchtig und biestig? Warum gönnte eine Frau der anderen nicht die große Liebe, das schöne Eigenheim, die Zufriedenheit? Ging es bei all den Gehässigkeiten um eigene Wünsche und Sehnsüchte? Drückte sich im Neid auf die andere das eigene Begehren aus, die Differenz zwischen dem, was man ist und dem, was man sein möchte? Wäre es nicht viel entspannter, seinen Weg zu gehen und andere Frauen anzustrahlen, statt sie mit Worten und Blicken versuchen zu vernichten? Und fühlte es sich nicht viel besser an, den anderen einfach ein ehrliches Lächeln zu schenken? Oder war das eine naive Vorstellung?

Während diese Überlegungen in ihrem Kopf herumsummten wie Libellen, ließ sie ein weiterer Gedanke aufschrecken. War sie auch so wie Marianne und Co. oder wie Heidi Lah aus Meiers Vorzimmer? War sie neidisch auf das, was andere Frauen hatten und versuchte es verbal kaputt zu machen? Nein, Gehässigkeiten lagen ihr nicht. Sie wollte niemanden seiner Würde berauben. Sie würde aber auch nicht zusehen, wenn eine andere Frau sich an ihren Mann ran machte. Frischer Kaffeeduft kitzelte ihre Nase. Gedankenverloren schüttete sie Kaffee in ihren Becher. Zugegeben – manchmal wünschte sie sich Dinge, die andere Frauen besaßen. Das spornte sie an, ihr Bestes zu geben. Machte sie das zu einem schlechten Menschen? Andererseits – warum sollte sie das zu einem schlechten Menschen machen, wenn es die Triebfeder für gute eigene Leistungen war? Charlotte nickte nachdenklich ihrer Tasse zu. Das ist doch nichts Negatives. Es darf nur nicht zerstörerisch sein. Aber – war das nicht das Wesen der Konkurrenz? Lief Konkurrenz nicht zwangsläufig auf Vernichtung hinaus?

So viele Gedanken flitzten in ihrem Kopf herum, dass sie keinen einzigen mehr zu fassen bekam. Die Müdigkeit legte sie lahm. Sie schaltete die Kaffeemaschine aus und ging zurück ins Bett. Justus lag auf der Seite, das Gesicht und die geschlossenen Augen ihr zugewandt. Seine regelmäßigen Atemzüge hoben und senkten seine Brust. Charlottes Blick glitt über seine markanten Wangenknochen, die vollen Lippen, das kantige Kinn, das rechte Bein, das über dem Plumeau lag. Ein sehr attraktiver Mann. Vorsichtig legte sich Charlotte ins Bett, schob sich mit ihrem Rücken an Justus heran, bis sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte. Justus murmelte etwas Unverständliches, legte seinen Arm um sie und zog sie noch dichter an sich heran. Kaum hatte sie sich bequem an ihn geschmiegt, schlief sie ein.

Justus ermahnte sich, keine ruckartigen Bewegungen zu machen. Zufrieden atmete er ihren Duft ein. Ihm hatte ihre Eifersucht gestern gut gefallen. Das zeigte doch, dass sie ihn noch liebte, oder? Der Abend war überhaupt interessant gewesen. Er hatte wieder das besondere Band zwischen ihnen gespürt, diese Faszination füreinander.

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